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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1105–1108

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kellermann, Kerstin

Titel/Untertitel:

Politik und Spiritualität. Auf der Suche nach einer friedliebenden Freiheit.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2005. 320 S. m. Abb. gr.8° = Ursprünge des Philosophierens, 11. Kart. EUR 30,00. ISBN 3-17-018935-2.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Für den Rezensenten ist es eine besonders schöne Herausforderung, ein ›echt‹ interdisziplinäres Buch zu besprechen. ›Echt‹ interdisziplinär meint hier, dass die zu besprechende Arbeit von Kerstin Kellermann buchstäblich ›zwischen‹ den Disziplinen steht, hier zwischen Politikwissenschaft, Philosophie und Theologie. Bei al­lem Bekenntnis zur Inter-disziplinarität stellt sich hierzulande (anders als im Angelsächsischen) dann immer eine gewisse Sorge ein: Welche Disziplin vertritt K. von Hause aus? Was ist ihr wissenschaftliches Stand- und was ihr Spielbein? Die Auskünfte auf dem Buchrücken sind hierzu eher spärlich: »Langjährige Leiterin der Sektion ›Politische Identitäts- und Kulturforschung‹ der Arbeitsstelle für Interdisziplinäre Deutschland- und Europaforschung in Münster«. Kommt man über das Vorwort weiter? Nicht wirklich, lernt man doch, dass die Dissertation von dem Politikwissenschaftler Peter Nitschke angeregt wurde, als philosophische Promotion an der Hochschule Vechta im Jahr 2003 angenommen wurde und das Erstgutachten vom bekannten (katholischen) Theologen und Philosophen José Sánchez de Murillo erstellt wurde (und die Untersuchung schließlich in dessen wissenschaftlich-interdisziplinärer Reihe »Ursprünge des Philosophierens« Eingang gefunden hat). Damit scheint das ›echt‹ Interdisziplinäre eher zementiert als er­läutert. Das entspricht nun aber – und dies nicht zum Schaden der Theologie! – dem Profil des Instituts, an dem K. tätig ist sowie auch dem literarischen Kontext des Werkes. K. ist u. a. Mitherausgeberin der Reihe »Europa 2020 – Studien zur interdisziplinären Deutschland- und Europaforschung«. In ihren zahlreichen Aufsatzveröffentlichungen, vor allem in politikwissenschaftlichen Organen, rekurriert sie implizit auf den Grundgedanken ihres Buches, nämlich dass friedensstiftendes Tun und Lassen von einer politisch engagierten Spiritualität einen wichtigen Impuls erhält.
Es ist die Überzeugung des Rezensenten, dass es nicht zum Nach­teil der Theologie ist, wenn in politikwissenschaftlichen Publikationen neu die Frage nach Transzendenzbezügen gestellt wird, ist man sich doch im interdisziplinären Geschäft – sei es bei Ringvorlesungen, interdisziplinären Kolloquien oder Akademieveranstaltungen – mit zum Teil ins Endlose ausdifferenzierenden Diskursen kaum mehr der (tendenziell) nihilistischen Grundhaltungen bewusst. Zumindest stillschweigend setzen in Moderne und Spätmoderne verwendete Herrschaftsrationalitäten und die mit ihnen ausgeprägten Dezisions- und Verhaltensmuster sowie deren Anwendungen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen ein Einvernehmen voraus mit dem nietzscheanisch verkündeten »Tod Gottes« und der entsprechenden Verlorenheit einer »Schöpfung«, die in dem abgründigen Realitätsempfinden der Massengesellschaften für viele keine (mehr) ist. Gegen diese Tendenz wirbt K. für geistvolle, doch fast vergessene Traditionen und Entwicklungswege eines Verständnisses des Politischen, für das eine derartige Verwurzelung von Lebenssinn, im weitesten Sinne also die religio der Menschen und ihre ursprungshaften Freiheitsverwirklichungen, elementar ist. Diese Untersuchung über Politik und Spiritualität reiht sich insofern ein in konstruktive Versuche deutscher und angelsächsischer Autoren, die befreiende Kraft transzendenter Bezüge in der politischen Dimension von Vergebung und Versöhnung auszuleuchten, um auf diese Weise zu einem konstruktiven Dialog zwischen Politik und Religion beizutragen.
Der nähere Blick auf Fragestellung, Methodik und Inhalt des Buches zeigt schnell, dass – anders als in den erwähnten deutschen und angelsächsischen Studien – Theologie nicht das »Standbein« ist, sondern eher der Verweisungszusammenhang (»Spielbein« zu sagen, wäre nicht adäquat, weil das Bild nicht die normgebende Funktion transportiert, die von K. aber gefordert wird). Das »Standbein« ist, um diese Metapher noch einmal zu verwenden, die Politikwissenschaft – hier aber verbunden mit einem vormodernen Politikverständnis, das den Transzendenzbezug nicht nur nicht leugnet, sondern als konstitutives Moment beinhaltet. Nach K. »ist alle Kulturgeschichte auch lesbar als ein umfassendes Antwortgeschehen auf einen transzendenten Anspruch« (11). Ihre Leitthese: »Menschliche Selbstvollzüge erhellen sich nur im Zusammenhang existentieller Sinnbedürfnisse und Sinnfragen.« (ibid.) Gegen den »totalitäre(n) Grundzug von Herrschaftsrationalitäten in der Mo­derne«, der nach Ansicht K.s. gerade daher rührt, »dass sie sich rück­haltlos nichts und niemandem verdankt wissen wollen« (14), werden in der Falllinie der Leitthese Fragen wie diese gestellt: »Wie können spirituelle, mentale, psychosoziale und sinnliche Potentiale, die nur unzerteilt wachsen und mit der Zeit reifen, zur Entfaltung kommen?« »Würdigen wir die in der religio wurzelnde individuelle Vorgabe und Aufgabe des menschlichen Lebens in den le­bensweltlichen Zusammenhängen?« (Zitate: 15)
»Spiritualität« bezeichnet für K. dieses Bemühen um »friedliebende Freiheitsverwirklichungen«. Vorbilder für eine gelebte »spirituell-persönliche Dimension des Politischen« sind im Verlauf der Untersuchung K.s so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Augus­tin, Hannah Arendt, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela und Desmond Tutu. In ihnen spiegele sich biographisch eine angemessene Antwort auf die Fragestellung der Untersuchung: »Wann aber geben Menschen mit ihrem Leben tatsächlich eine würdevolle Antwort auf die göttliche Anspruchswirklichkeit ihres Daseins?« (18)
Grundsätzlich handelt es sich hier um eine onto-phänomenologische Studie, in der die Reziprozität der Sphären des Politischen und des Religiösen bezüglich existentieller Freiheits- und Gerechtigkeitsforderungen ausgeleuchtet wird. Methodisch geht K. dabei so vor, dass sie im Hauptteil an Beispielen »Ursachen- und Wirkungszusammenhänge von Heil und Unheil menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns« untersucht (43–271) und dabei auch auf die Biographien zu sprechen kommt (vgl. 54 f.86 ff.100 ff.130. 13 9f.206 f.). Zum anthropologischen Knotenpunkt von Spiritualität und Politik, von Religiösem und Politischem, Freiheit und Gerechtigkeit, von Sein und Schein wird Platons Seelenlehre und der da­mit in Verbindung stehende vormoderne Politikbegriff. »Von Platon her rührt die Erkenntnis, dass die Seele, die alle Seinsbereiche vermittelt und zu deren Wesen führt, ein zentrales Politikum ist. Als solches hat sie nicht nur eine ausschlaggebende Bedeutung für den Charakter eines Gemeinwesens, sondern gibt diesem überhaupt erst Zusammenhalt und Gestalt.« (19)
Auf der Grundlage eines »paradoxalen Politikbegriffs«, dessen Grundlage (ganz augustinisch) die Erkenntnis des Mangels ist, ja des Angewiesenseins gerade auf diejenige Wahrheitsdimension, auf die selbst nur verwiesen werden kann, spannt sich ein großer gedanklicher Bogen von Interpretationen des 11. September 2001 (38 f.) über besagte Biographien bis zur Wende in Südafrika (268 f.), die mit der Freilassung Nelson Mandelas am 2. Februar 1990 ihren Ausgang nahm. – Überzeugend arbeitet K. am Stichwort »apokalyptische Augenblicke« (39) heraus, wie eng die spirituelle Dimension des Politischen in der Dialektik Heil/Unheil erkennbar wird. So of­fenbaren die Terroranschläge vom 11. September 2001 den »Sprung über eine unausweichliche Schwelle des menschheitlichen … Lebens«. »Die Hoffnung auf das Heil angesichts selbst des unfasslichen Unheils – dies ist ein spirituelles Grundmuster menschlichen Weltvernehmens und Weltverstehens, das sich in vielen Religionstraditionen zeigt.« (38)
Auch wenn die Rede von der Ganzheitlichkeit, der »Anthropologie der Fülle« (32 u. ö.) oder überhaupt der Spiritualität als Adaption an den Zeitgeist leicht missverstanden werden kann und – über das Sprachliche hinaus – in evangelisch-theologischer Sicht der die Studie durchziehende optimistische Vernunfts-, Willens- und Freiheitsbegriff, weiter die Vorstellung, dass Hoffnung auf der »Unzerstörbarkeit der Seele« (87) gründet, sowie überhaupt die onto-phä nomenologischen Substanzvorstellungen schwer haltbar sind, stellt die Untersuchung ihrer Absicht und Anlage nach einen sehr innovativen Zugang zum Verhältnis Politik-Religion dar. In der theologischen Wissenschaft darf begrüßt werden, wenn in der Po­litikwissenschaft über die historische Kulturperspektive hinaus auch in aktuellen Bezügen (Stichwort: Spiritualität) die Bedeutung des Christlichen für die Politik aufgezeigt und darin ein genuiner Beitrag zur interdisziplinären Friedensethik geleistet wird.