Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

864 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schwark, Christian

Titel/Untertitel:

Gottesdienste für Kirchendistanzierte. Konzepte und Perspektiven.

Verlag:

Wuppertal: Brockhaus 2006. 391 S. 8° = Systematische Monographien, 17. Kart. EUR 16,90. ISBN 978-3-417-29497-2.

Rezensent:

Lutz Friedrichs

In einem Kino versammeln sich Monat für Monat mehrere hundert Menschen zum Gottesdienst. Es gibt keine Orgel, kein Gesangbuch, auch keine biblische Schriftlesung. Stattdessen: Popmusik, Theaterstück und »Predigt« vom Bistrotisch. Dieser Gottesdienst richtet sich an »Kirchendistanzierte«: Nicht die Tradition, nicht das institutionelle Amt, sondern die Person steht für die Botschaft ein: So ist auch vorgesehen, dass der Prediger sich in einem »Kreuzverhör« den Fragen des »Publikums« stellt. Ist das noch Gottesdienst – oder verliert sich Kirche hier an die Eventkultur?
In seiner Studie: »Gottesdienste für Kirchendistanzierte« geht Christian Schwark zentral dieser Frage nach. Er konzentriert seine Überlegungen auf das eben beschriebene Gottesdienstmodell »GoSpecial« aus Niederhöchstadt bei Frankfurt am Main. Seit über zehn Jahren gelingt es dort, Menschen für dieses Modell anhaltend erfolgreich zu interessieren.
Das Buch ist Sch.s Dissertation, die an der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald bei Michael Herbst entstand und 2004 abgeschlossen wurde. Positionell liegen die Karten von Beginn an auf dem Tisch: Sch. vertritt ein missionarisches Gemeindeaufbaukonzept. Aus dieser Perspektive erscheinen Gottesdienstmodelle wie GoSpecial als »moderne Form der Evangelisation« (112). Sein Ansatz geht davon aus, dass zwischen Taufe und Christsein zu unterscheiden sei: »Kirchendistanzierte, die keinen erkennbaren Bezug zum christlichen Glauben und zur Gemeinde haben, (können) nicht ohne weiteres als Chris­ten bezeichnet werden« (24). Im Verlauf der Arbeit wird diese Position weiter konturiert. Sch. lehnt zwar einerseits Bekehrungsaufrufe, wie sie etwa im Gottesdienstmodell »08/15« vorgenommen werden, als zu streng ab, andererseits aber kritisiert er die liberalen, die Sünde »verharmlosenden« theologischen Züge, die er bei Klaus Douglass als dem Gründer und theologischem Kopf des GoSpecial-Projekts entdeckt. Man kann solch einen Ansatz vertreten, teilen muss man ihn freilich nicht. In jedem Fall kritisch zu hinterfragen ist Sch.s einseitig enges Verständnis von »Mission«.
Sch. verortet seine Studie in einer »biblisch-reformatorisch« (27) orientierten Praktischen Theologie. Ob Manfred Josuttis, der in diesem Zusammenhang genannt wird, sich recht verstanden fühlt, kann zumindest gefragt werden. Überhaupt bleibt Sch.s Referenzsystem eigentümlich zufällig: Mal ist es Josuttis, mal ist es Wilhelm Gräb, mal ist es Christian Grethlein, die herangezogen werden, aber immer in einem eher plakativen, tiefer gehende Auseinandersetzungen gar nicht suchenden Sinn. Und so verhält es sich auch liturgiewissenschaftlich, wenn Peter Brunner und Ernst Lange »miteinander verbunden werden« (240): Das wirkt überraschend frech, doch wissenschaftlich überzeugend ist ein solcher sprunghafter, nahezu unbedarfter Umgang mit sehr unterschiedlichen Diskursen nicht.
Die Stärke der Arbeit ist ihre klare Struktur. Aus Sch.s Verständnis der Praktischen Theologie ergibt sich eine in sich stringente Abfolge von Arbeitsschritten: »Zunächst muss die bestehende Praxis dargestellt und analysiert werden. … Auf der Basis dieser Analyse muss in einem zweiten Schritt eine Bewertung vorgenommen werden. Eine biblisch-reformatorische Orientierung schließt aus, dass der Erfolg, die Tradition oder humanwissenschaftliche Er­kenntnisse die bestimmende Norm für diese Bewertung darstellen. Danach ist zu fragen, wie die Praxis vor dem Hintergrund der Analyse und der Bewertung gestaltet werden kann. Dabei kann das Gespräch mit den Humanwissenschaften eine Hilfe sein.« (28)
Diesem Programm entsprechend wird zunächst das Phänomen GoSpecial (und die ähnlichen Modelle »08/15« und »Oase«) dargestellt. Darüber hinaus werden auch die Ludwigsburger »Nachteulengottesdienste« und die »Thomasmesse« als Modelle, »die nicht durch ›Willow Creek‹ geprägt sind«, einbezogen. Sch. lehnt diese nicht ab, kritisiert aber deren theologische Unschärfe und »Offenheit« (256).
Klar ist auch seine Antwort auf die eingangs aufgeworfenen Fragen: Auf dem Hintergrund einer neutestamentlich-systematischen Reflexion kommt er zu dem Urteil, dass es sich – trotz gewisser Gefährdungen – bei GoSpecial um einen Gottesdienst handelt, weil ein solcher nicht normativ durch Tradition definiert sei, sondern sich daran messen lassen müsse, ob er die biblischen Kriterien »Chris­tusbezug, Verständlichkeit und Gemeinschaftsbezug« (247, im Anschluss an Christian Grethlein) erfüllt. GoSpecial tue das in jedem Fall klarer als etwa die Nachteulen, weil dieser Gottesdienst in einem kybernetischen Gesamtkonzept als Schwellenangebot hin zu einem aktiven Gemeindeleben (in Hauskreisen) verstanden sei.
Sind die Stärken der Arbeit ihre Klarheit, gute Lesbarkeit und ihr hoher Informationsgehalt, so ist ihre Schwäche die Verbannung der Humanwissenschaften an das Ende des Arbeitsprozesses: Denn das Gesamtphänomen hat so gar keine Chance, in seiner Tiefenschicht in den Blick zu geraten. Dass GoSpecial im Kino – oder zuvor im Bürgerhaus – stattfindet, bleibt phänomenologisch genauso unerkundet und ungedeutet wie dies, dass vom Bistrotisch gepredigt wird oder, noch grundlegender, die Schwelle bei GoSpecial gegen das eigene Konzept zur Heimat wird, also der intendierte Übergang ins aktivere Christsein allenfalls partiell gelingen will – oder schon gelungen ist, weil die, die kommen, bereits »entschieden« sind.