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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

96 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Adam, Gottfried u. Friedrich Schweitzer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethisch erziehen in der Schule.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 473 S. 8°. Kart. DM 48.-. ISBN 3-525-61277-X.

Rezensent:

Günter R. Schmidt

Gegenwärtig sieht sich die Gesellschaft vor mancherlei Problemen und Herausforderungen, welche den Ruf nach ethischer Erziehung, Moral- oder Werterziehung u. a. laut werden lassen. Die Hrsg. warnen davor, die Möglichkeiten der Schule und einzelner ihrer Fächer, besonders des Religions- oder des Ethikunterrichts, zu überschätzen. Begrenzt sind die Einwirkungsmöglichkeiten der Schule durch die vielfältigen außerschulischen Einflüsse in der pluralen Gesellschaft. Fächerübergreifend muß schulischer Unterricht die "Wahrnehmungsfähigkeit für die ethische Dimension von Unterrichtsinhalten" und das "ethische Reflektieren und Argumentieren" fördern, atmosphärische Bedingungen für die druckfreie Erörterung ethischer Fragen bereitstellen und relativistischer Beliebigkeit gegensteuern.

Naturgemäß ist bei den 25 Autoren, die zu der Textsammlung beigetragen haben, "mit einer Pluralität von Auffassungen, Positionen und Perspektiven zu rechnen" (14). Doch sind sie sich darüber einig, daß die Schule als Ganze in Schulleben und Arbeit sämtlicher Fächer die ethische Erziehungsaufgabe ernster nehmen muß als bisher und daß dem Religions- und dem Ethikunterricht dabei besondere Bedeutung zukommt. Das Buch gliedert sich in "Grundfragen", "Unterrichtliche Entfaltungen", "Weiterführende Fragestellungen" und "Praktische Hinweise".

Zu den "Grundfragen" gehören Fragen nach den Zielen, den Formen und den Methoden ethischer Erziehung in der Schule. K. E. Nipkow verteilt die Zielproblematik auf die drei Ebenen der konkreten ethischen Bereiche (Sexualität, Beruf, Politik, Umwelt u. a.), der Moralbegründung und der "Gewinnung von Konsens" bzw. "Umgang mit Dissens". Ethische Erziehung zielt auf beides, "die Einführung in Moral und die ethische Reflexion über Moral" (46).

F. Schweitzer stellt fünf "Grundformen ethischen Lehrens und Lernens" vor, die sich in der pädagogischen Literatur seit etwa 1800 finden und ordnet diesen jeweils etliche Unterformen zu: "Sittliche Elementarbildung" (Pestalozzi),"Erziehender Unterricht" (Herbart), "Gesinnungsbildung/ Schulleben" (Schleiermacher) und "Schule als gerechte Gemeinschaft" (M. Ritter). "Mit einer fast verantwortungslosen Selbstverständlichkeit wird Moralerziehung in Schulen, in der Berufsausbildung junger Menschen bzw. in der gesamten sekundären Sozialisation dem Zufall überlassen." (81) Dieser bedenklichen Situation setzt F. Oser "Zehn Gebote der Moralerziehung" entgegen, die er auf moralpsychologische Einsichten gründet. G. Adam ordnet "Methoden ethischer Erziehung" den drei Kategorien "Förderung der moralischen Urteilskraft", "Soziale Interaktionsansätze" und "Gemeinschaftsansätze ­ Schule als ethischer Erfahrungsraum" zu. Er empfiehlt das "Zusammenspiel der unterschiedlichen Methoden" in einer Schule, die "aktives Lernen" ermöglicht.

Die 11 "Unterrichtlichen Entfaltungen" des zweiten Teils, die unterschiedliche Themen für Sekundarstufe I und II erschließen, können hier nur auswahlweise berücksichtigt werden:

Für R. Lachmann ist der Bereich des Dekalogs ein "didaktischer Konvergenzraum ..., in dem theologische, gesellschaftliche und pädagogische Argumentationen zusammenlaufen" (157). W. Simon sieht "Menschenrechtserziehung als Aufgabe fächerverbindenden Lernens" (182). Schüler des 7./8. Schuljahres "entwickeln einen in der Regel kritischen Gesellschaftsbezug" (182), der sie für das Thema ’Menschenrechte’ aufgeschlossen sein läßt. R. Mokrosch schlüsselt das Thema "Schuld und Vergebung" auf. 13- bis 15-jährige können zwischen personaler und struktureller Schuld unterscheiden. Für die "Bergpredigt" sieht W. Langer bei 15- bis 16-jährigen durchaus "Anknüpfungspunkte und Zugänge", nämlich ihre "autoritäts- und gesellschaftkritische Einstellung" sowie ihre "Suche nach alternativen Lebensformen". Zum Thema "Sexualität" entwickelt R. Hoenen einen Zielkatalog für das 8. bis 10. Schuljahr. Wenig überzeugend ist die Art, wie er unter Berufung auf "humanwissenschaftliche Einsichten" die Sexualethik der Heiligen Schrift und ihre Auslegungstradition über Bord wirft. R. Englert stellt zum Thema "Pluralität und Wahrheit" zunächst die gesellschaftliche, die individuelle und die religionspädagogische Dimension des Problems dar, dann die philosophische und die theologische Diskussionslage. Die Jugendlichen bewegen sich in subjektivistischen, relativistischen und pragmatischen Einstellungen. Für die Wahrheitsfrage als solche bringen sie wenig Sinn auf. Exemplarisch behandelt E. Markgraf das Problem der Organspende. Die Jugendlichen sollen daran sowohl Schritte der ethischen Urteilsbildung à la H. E. Tödt einüben als auch den Gegensatz zwischen einer "Ethik der Interessen" und einer "Ethik der Würde" verstehen und ihre eigene Einstellung klären.

Als "Weiterführende Fragestellungen" figurieren im dritten Teil u. a. rechtliche, schultheoretische, philosophische und entwicklungspsychologische. Ph. Kunig fragt nach den rechtlichen Vorgaben für religiöse und ethische Erziehung in der Schule. Die Verfassung setzt dem "Erziehungsauftrag des Staates" ("Prinzip der Nichtidentifikation") und weltanschaulichen Positionen ("Verbot des ’oktroii’") Grenzen. Nur der RU darf "Glaubenssätze akzeptanzheischend" vermitteln.

H. Schmidt sieht "Ethische Erziehung als fächerübergreifende und fächerverbindende Aufgabe". Erzählgut im mutter- und fremdsprachlichen Unterricht fordert zu ethischer Stellungnahme heraus, Geschichte weckt ein "Verantwortungsbewußtsein für die freiheitlichen und demokratischen Verhältnisse" (325). Ethik- und Religionsunterricht "teilen sich die Aufgabe einer systematischen und kontinuierlichen Arbeit an transmoralischer Identitätsbildung, moralischer Orientierung und ethischer Reflexion" (331). Mit den Begriffen ’Wert’ und ’Norm’ sowie ihrer Verwendung in Philosophie, Soziologie und Theologie beschäftigt sich J.-P. Wils. Die Theologie muß sowohl die psychologischen und soziologischen Fragen nach der faktischen Wirkungsweise von Werten und Normen als auch die philosophischen nach der Begründung ihres Geltungsanspruchs integrieren. Nach N. Mette kommt viel darauf an, daß Lehrkräfte durch ihre Ausbildung befähigt werden, "auch ihre moralische Verantwortung in ihrem schulischen Kontext wahrzunehmen" (381).

Im vierten Teil geben H. Hanisch und R. Schelander hilfreiche "Praktische Hinweise" auf geeignete Unterrichtsmaterialien und Lehrpläne. ­ Durch seine inhaltliche Vielfalt und die Qualität der einzelnen Beiträge ist das Buch außerordentlich hilfreich.

Wünschenswert wäre, daß es nicht nur unter den mit Religions- und Ethikdidaktik theoretisch und/oder praktisch Befaßten Verbreitung findet, sondern darüber hinaus unter Allgemeinpädagogen, Schultheoretikern und Fachdidaktikern sämtlicher Fächer. Dazu wäre allerdings ein einleitender Grundsatzartikel zur philosophischen und zur theologischen Ethik hilfreich. Erst muß Ethik als solche in den Blick kommen, bevor sie sub specie paedagogica wahrgenommen wird.