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Ausgabe:

Januar/1998

Spalte:

70–72

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Müller, Dirk H.

Titel/Untertitel:

Arbeiter, Katholizismus, Staat. Der Volksverein für das katholische Deutschland und die katholischen Arbeiterorganisationen in der Weimarer Republik.

Verlag:

Bonn: Dietz 1996. 352 S. gr.8° = Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung. Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, 43. Pp. DM 49,80. ISBN 3-8012-4069-X.

Rezensent:

Norbert Friedrich

Die Erforschung katholischer Vereine und Verbände, als ein wichtiges Charakteristikum des Katholizismus in Deutschland, hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Während die Erforschung des Verbandsprotestantismus noch immer große Lücken aufweist, liegen für die katholische Seite Forschungen sowohl zu einzelnen Verbänden als auch zu Regionen und Orten vor.

Das hier vorzustellende Buch wählt innerhalb dieser Forschungsrichtung nun einen vergleichenden Ansatz. Es ist Teil eines größeren Forschungsprojektes, das einen organisationsgeschichtlichen Vergleich von sozialdemokratischem und katholischem Lager in der Weimarer Republik zum Ziel hat. Aus diesem Projekt sind bisher im gleichen Verlag vier Bände über "Solidargemeinschaft und Milieu: Sozialistische Kultur- und Freizeitorganisationen der Weimarer Republik" (mit einem Band von Siegfried Heimann und Franz Walter zu den "Religiösen Sozialisten und Freidenkern") erschienen. Bevor nun ein Vergleich der beiden Lager vorgenommen werden soll ­ Pate steht hier neben der neueren Milieuforschung auch die Organisationssoziologie von Robert Michels ­ will man das katholische Lager näher beleuchten. Aus der Vielzahl der Organisationen des "sozialheterogenen Katholizismus"(9) hat man, um der Vergleichbarkeit willen, die "Hauptorganisationen des sozialen Katholizismus" (9), den 1890 gegründeten Volksverein für das katholische Deutschland und den 1927 konstituierten Reichsverband katholischer Arbeitervereine ausgewählt. Als Raster dieser Untersuchung dient M. die im Titel genannte Trias: "Katholizismus" (M. bezieht sich konkret auf die katholische "Kirche"), "Arbeiter", eine für den Vergleich mit dem sozialdemokratischen Lager zwar zentrale, aber für die katholischen Organisationen wie den Volksverein einengende Kategorie, und "Staat", womit der demokratische Staat von Weimar gemeint ist. Leider werden diese für eine organisationsgeschichtliche Studie durchaus sinnvollen Kategorien nicht stringent weiterverfolgt bzw. wieder aufgegriffen.

Bereits in der Einleitung macht M. darauf aufmerksam, daß es sich um eine "zeitlich wie sachlich umfassende Fragestellung" (11) handelt. So zieht er auch den zeitlichen Rahmen erheblich weiter, vom Reichsdeputationshauptschluß bis zum Zweiten Vaticanum. Er will sich zwar schwerpunktmäßig auf die Weimarer Republik konzentrieren, doch zeigt die weitere Darstellung, daß dies bei einer Organisationsgeschichte unter vergleichender Perspektive kaum möglich ist.

Das Buch ist in insgesamt 8 Abschnitte unterteilt. In einer kurzen Einleitung, in der M. sehr kurz seine Fragestellung entwickelt, gibt er einen ersten Überblick über die Geschichte des Katholizismus im 19. und 20. Jh. und formuliert sein Interesse an gegenwartsbezogenen Fragen. Die ersten ersten drei Kapitel beschreiben dann sozusagen die Vorgeschichte der eigentlichen Fragestellung: Die Entstehung und Entwicklung des Vereinskatholizisms im 19. Jh; die für den Vereinskatholizismus bzw. den organisierten Katholizismus in Deutschland zentrale Auseinandersetzung zwischen "Kirche und Laien", also insbesondere die Frage des Einflusses der Laien in einer hierarchischen, ultramontanen Kirche; schließlich die Ausgangslage am Beginn der Weimarer Republik, insbesondere die Stellung des Zentrums und die Diskussionen um die Zukunft des Vereinskatholizismus.

Im Zentrum des Buches stehen die Kapitel 4 und 5. Kapitel 4 beschäftigt sich mit dem Volksverein für das katholische Deutschland, den M. als "Propaganda- und Bildungsverein" (83) beschreibt. Er stützt sich bei seiner Darstellung schwerpunktmäßig auf die älteren Arbeiten von Emil Ritter (Die katholisch-soziale Bewegung Deutschlands im 19. Jahrhundert und der Volksverein, Köln 1954) und Horstwalter Heitzer (Der Volksverein für das katholische Deutschland im Kaiserreich 1890-1918, Mainz 1979), auf die im Bundesarchiv Potsdam (heute Berlin) verwahrten Archivalien des Volksvereins sowie weiteres Archiv- und Pressematerial vorwiegend aus dem Umkreis des Volksvereins. Da die Geschichte des Volksvereins in der Weimarer Republik eine Geschichte des "Niedergang(es)" (112) ist, beschreibt er konsequent die Gesamtgeschichte des Vereins, wobei rein quantitativ das Kaiserreich dominiert. M. stellt die Organisationsstruktur des Vereins dar, beschreibt die Zusammensetzung des Vorstandes, referiert die Informationen zur Mitgliederzusammensetzung, stellt die einzelnen Arbeitsfelder, insbesondere die Publikationstätigkeit dar.

Eine der Leitfragen M.s ist entsprechend seiner Konzeption die Entwicklung des Verhältnisses des primär von Laien gegründeten und zunächst auch geprägten Vereins zum Klerus. Erst die Finanzkrise des Volksvereins in der Weimarer Republik führte dazu, daß der Einfluß des Klerus entscheidend wurde. Der Volksverein wurde schließlich, trotz aller Anstrengungen und trotz aller konzeptionellen Überlegungen, die ihre eigene Geschichte in der Weimarer Republik haben, 1933/34 von den Nationalsozialisten aufgelöst. Das Reichskonkordat konnte den Bestand des Vereins nicht sichern. M. zeigt in seiner Darstellung eine Distanz zu seinem Forschungsgegenstand, wobei besonders die Kritik am katholischen Integralismus und der "katholisch-fundamentalistische(n) Weltanschauung" (13) im Mittelpunkt stehen. Dem Volksverein wirft er vor, statt des "hehren Subsidiaritätsprinzip(s)", also des Selbstverständnisses, eine Organsiation für den gesamten sozialen Katholizismus zu sein, einen "Organisationsimperialismus" (92) ausgeübt zu haben.

In Kapitel 5 stellt M. den Reichsverband katholischer Arbeitervereine vor, den Dachverband der meisten katholischen Arbeitervereine in der Weimarer Republik, der sich 1927 aus älteren Zusammenschlüssen der gewerkschaftsfreundlichen sogenannten Mönchengladbacher Richtung gebildet hatte.

Wichtigste Quelle für die Darstellung ist die Presse der Arbeitervereine; eine eigenständige monographische Darstellung ist bisher noch nicht geleistet worden. M. bemüht sich um einen zum Volksverein-Kapitel parallelen Aufbau. Allerdings beschränkt sich seine Darstellung nicht auf den Reichsverband, ausführlicher stellt er Organisation, Arbeitsweise und Publizistik einzelner Arbeitervereine exemplarisch vor. Besonderes Augenmerk richtet er dabei auf die Bildungsarbeit, als ein zentrales Arbeitsfeld der Arbeitervereine. Der Richtungsstreit innerhalb der katholischen Arbeitervereinsbewegung wird häufiger erwähnt, aber nicht zusammenhängend beschrieben. Mit Blick auf sein spezifisches Forschungsinteresse beschäftigt sich M. mit dem Verhältnis der Arbeitervereine (respektive des Katholizismus) zur Sozialdemokratie und zur Weimarer Republik.

Gerade diese Abschnitte hätte man sich aber ausführlicher gewünscht. Neben sachlichen Ungenauigkeiten und Fehlern (die Darstellung zeigt Defizite sowohl in der Kenntnis des Katholizismus wie des sozialen Protestantismus) erscheint M.s Wertung durchaus diskussionsbedürftig. So negativ und abwartend, wie er darstellt, war das Verhältnis des politischen Katholizismus zur Weimarer Republik nicht. Diese Monita weisen auf ein weiteres Problem hin, das die Darstellung belastet. M. beschränkt sich (aus einleuchtenden Gründen) nicht auf die Darstellung des "Reichsverbandes", er bezieht vielmehr Diskussionen innerhalb des Zentrums, theologische Überlegungen etc. mit ein. Doch über die Vielzahl der Themen geht dann häufig die ordnende Hand verloren. M. reißt verschiedene Themen an, liefert eine Vielzahl von bisher unbekannten, aber auch bekannten Informationen, versteht es aber nicht, sie zu einer Systematik zusammenzufassen.

Dies gilt auch für Kapitel 6, in dem M. kurz die zuvor häufiger erwähnte "Katholische Aktion" skizziert, das aber primär die Verhandlungen um das Reichskonkordat liefert. Unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach den Regelungen zu den katholischen Verbänden beschreibt M. mit vielen Details die sehr gut erforschten Verhandlungen. In einer Schlußbetrachtung versucht M. nicht eine Zusammenfassung der Ergebnisse, vielmehr unternimmt er einen Ausblick auf den Nationalsozialismus und die Zeit nach 1945, wo sich durch "vatikanische und bischöfliche Vereinspolitik" ein "Anpassungsprozeß" an den Nationalsozialismus durchgesetzt habe, der sich nach 1945 als "traditionalistische(n) Konzeption" (297) insgesamt durchsetzte. Ein Anhang mit einer Liste zahlreicher katholischer Organisationen, ihres Gründungsdatums und der Mitgliederzahl schließt das Buch ab.

Insgesamt kann M.s Buch nicht überzeugen. M. liefert einmal mehr, als er verspricht, indem er seine Darstellung nicht auf die Weimarer Republik beschränkt, sondern einen erheblich größeren Zeitraum behandelt. Häufig greift er dabei auf ältere und bekannte Darstellungen zurück, ohne wirklich Neues, eigenständig Erforschtes zu präsentieren. Gleichzeitig kann er, trotz vieler wichtiger Einsichten und Informationen, sein Ziel (eine "Studie über das Verhältnis von Arbeiterschaft, Katholizismus und Staat", wie der Klappentext sagt) nicht einlösen. Insbesondere erscheint M.s Darstellung des Katholizismus als ergänzungsbedürtig. Nur ein Beispiel soll dies abschließend verdeutlichen: War es wirklich so, daß der organisierte Katholizismus sich selbst in ein "kulturelles Ghetto" (295) begab, oder läßt sich dies nicht als ein auf Wechselwirkungen beruhender komplexer historischer Prozeß beschreiben? Erschwert wird die Lektüre des Buches durch eine schwer zugängliche Sprache, zahlreiche sachliche Fehler und viele Druckfehler. Nützlich sind die Tabellen des Buches.