Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/1999

Spalte:

427–430

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Beierwaltes, Werner

Titel/Untertitel:

Platonismus im Christentum.

Verlag:

Frankfurt/M.: Klostermann 1998. 222 S. gr.8 = Philosophische Abhandlungen, 73. Lw. DM 78,-. ISBN 3-465-02975-5.

Rezensent:

Martin Thurner

Für den Fragenkreis ,Platonismus im Christentum’ ist Werner Beierwaltes bereits durch eine Reihe von Publikationen zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte (vgl. die Bibliographie in: W. Beierwaltes, Agostino e il Neoplatonismo Cristiano. Milano 1995) als der derzeit kompetenteste Autor ausgewiesen. Da B. selbst es ist, der in seinem Forschungsbereich die Maßstäbe setzt, verstehen sich die folgenden Überlegungen nicht als ,Rezension’ im üblichen Sinne; sie haben ihren Zweck allein darin, die theologische Leserschaft auf eine Publikation hinzuweisen, die insofern für das gegenwärtige Selbstverständnis der Theologie von Bedeutung ist, als sie zwei allzuoft ignorierte Wesensmomente von Theologie eindringlich bewußt macht: ihre historische Herkünftigkeit sowie- damit zusammenhängend - ihre Verwiesenheit auf philosophische Verständnishorizonte.

Das Buch gliedert sich in eine als Problemexposition konzipierte Einleitung und sechs auch unabhängig voneinander lesbare Abhandlungen, in denen das Verhältnis von (neu-)platonischer Philosophie und christlicher Theologie an Einzelbeispielen - bestimmten Autoren und systematischen Fragestellungen - untersucht wird.

In der Einleitung versteht B. seine Untersuchungen als Beitrag zu der immer wieder - pointiert etwa in Harnacks ,Hellenisierungsthese’ - kontrovers diskutierten Frage nach der Bedeutung der Philosophie im allgemeinen und deren geschichtlicher Gestalt des Platonismus im besonderen für die Theologie: Die vielfältigen Bezüge zwischen beiden Bereichen stellen sich dabei nicht als gegenseitige Überfremdung dar, sondern vielmehr als eine "umformende Rezeption, die gerade durch die Verschiedenheit der Horizonte des Rezipierenden und des Rezipierten eine neue, in den je eigenen Horizonten nie erreichbare Denkgestalt hervorbringt" (12).

Mit der ersten Einzeluntersuchung zum Thema Trinitarisches Denken. Substantia und Subsistentia bei Marius Victorinus ist der Aufweis intendiert, daß ",Trinität’ das Paradigma schlechthin für eine bleibende, seine originäre Botschaft aber dennoch nicht destruierende ,Hellenisierung des Christentums’" (27) ist. In seiner Reflexion auf das theologische Datum der Trinität entfaltet Marius Victorinus im Rückgriff auf den neuplatonischen Gedanken des Einen und des Geistes den aristotelischen Substanz-Begriff zum Konzept eines in triadisch-relationaler Reflexivität subsistierenden absoluten Seins weiter und steht damit im Kontext lateinischer Theologie am Anfang einer Entwicklung, die sich in Modifikationen bis hin zu Hegels Theorie eines absoluten Subjekts fortsetzen wird.

Unter dem Titel Dionysios Areopagites - ein christlicher Proklos? erörtert B. am ebenso extremen wie - bekanntermaßen durch eine Fehlidentifikation mitbedingt - wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Beispiel dieses Denkers die Frage, inwiefern die neuplatonische Philosophie den genuin christlichen Gedanken überformt oder eine gelungene Synthese mit ihm eingeht. Wenngleich das Denken des Areopagiten sowohl im Sachgehalt wie auch in Reflexions- und Sprachstruktur wesentlich von der Philosophie des Proklos her geprägt ist, entwickelt Dionysius unter dem Anspruch theologischer Vorgaben den neuplatonischen Gedanken in wesentlichen Punkten weiter: In seinem trinitarischen Gottesbegriff führt er die bei Proklos stufenweise voneinander differenzierten Bestimmungen des überseienden Einen und der Sein-Denken-Relationalität des Geistes zusammen und erkennt dem Absoluten - darin vom christlichen Liebes-Gedanken her motiviert die (neu)platonische Idee des ,eros’ transformierend - die Möglichkeit einer Zuwendung auf das Verursachte hin zu, die in ihrer Intensität über das rein ontologische Begründungsverhältnis hinausgeht. Trotz dieser bemerkenswerten Neuansätze konstatiert B., daß Dionysius zentrale theologische Daten, wie allen voran die Inkarnation und deren heilsgeschichtliche Dimension in Kreuz und Auferstehung, nicht gemäß ihrer Bedeutung für den christlichen Glauben in sein Denkgebäude zu integrieren vermochte.

Eine bedeutsame wirkungsgeschichtliche Umformung eines der zentralen Gottesnamen bei Dionysius thematisiert der folgende Beitrag Gutheit als Grund der Trinität. Dionysius und Bonaventura. Den platonischen Begriff des Guten erkennt Bonaventura als vom christlichen Liebesgedanken her zu bevorzugende Bestimmung von Gottes Wesen; er entfaltet das traditionelle Axiom ,bonum est diffusivum sui’ in spezifisch christlicher Weise weiter zum Konzept eines sich selbst in einem trinitarisch-personalen Liebesvollzug aufschließenden Absoluten.

In einer subtilen Interpretation des Eckhart-Satzes "Und daz Ein machet uns saelic" als programmatische Zusammenfassung von dessen Gedanken macht B. im Beitrag zu Meister Eckharts Begriff der Einheit und der Einung deutlich, daß "Meister Eckhart eine der herausragenden Gestalten mittelalterlichen Denkens ist, der griechisches Philosophieren - vor allem Aristotelismus und Platonismus - mit christlicher ,pietas’ eindringlich zu einem Paradigma des metaphysischen Seins-Denkens und zugleich einer höchst bewußten Religiosität verbunden hat" (100). Das bei Eckhart im Unterschied zur neuplatonischen Konzeption trinitarisch in sich relationale absolute Eine wird zum Zielpunkt einer in Analogie etwa zu Plotin als negierendes Ablassen von aller Vielheit konzipierten mystischen Aufstiegsbewegung, die sich im Zustand der Gelassenheit vollendet, in dem allein der Durchbruch in das ,einic ein’ als die Gottesgeburt im Menschen Ereignis werden kann.

In der Themenstellung Der verborgene Gott untersucht B. das Verhältnis von Cusanus und Dionysius. Den neuplatonischen Gedanken des in seinem Über-Sein nur als das ,Nichts von allem’ durch Negation ausgrenzbaren, in seiner absoluten Transzendenz aber zugleich ,in allem’ begründend anwesenden Einen entfaltet Cusanus weiter zu seinem Verständnis des sich zugleich in die Verborgenheit entziehenden sowie offenbarend in Schöpfung und Heilsgeschehen zeigenden christlichen Gottes. Die Bestimmung der Welt als ,Theophanie’ wird für Cusanus zum Motivationsgrund für eine von ihm selbst mit spürbarer Freude in zahllosen Modifikationen angewandte theologische Methode, die in der symbolisch-transsumptiven Durchdringung der Sinnendinge als ,aenigmatische’ Erscheinungen ihres intelligiblen Ursprungs besteht.

Die wirkungsgeschichtliche Transformation des neuplatonischen Geist-Begriffes im christlichen Denken thematisiert der abschließende Beitrag Der Selbstbezug des Denkens: Plotin - Augustinus - Ficino. Das von Plotin dem ersten Hervorgang aus dem absoluten Einen zugeordnete Strukturmoment des Sich-selbst-Denkens wird von Augustinus in seiner Interpretation der alttestamentlichen Selbstaussage Gottes im ,Ich bin der ich bin’ (Ex 3,14) als Wesensvollzug einer in trinitarischer Relationalität von Sein und Denken bestehenden ewigen Vernunft gedacht, zu der der Selbstvollzug endlich-menschlicher Intellektualität in einem Abbildverhältnis steht. Infolge dieser Zuordnung wird für den Menschen die durch eine Rückwendung in die Innerlichkeit zu realisierende Reflexion auf das eigene Denkpotential - in einem noch eminenteren Sinn als im neuplatonischen Denken antizipiert - zu Bedingung und Weg der Gotteserkenntnis. Bei Marsilio Ficino wird die Analogie zwischen absolutem und endlichem Vernunftvollzug dadurch gesteigert, daß er in Anlehnung an Nicolaus Cusanus den denkenden Selbstbezug des Menschen aufgrund seiner Ausrichtung au f das absolut Unendliche als selbst potentiell unendlich begreift und - darin Grundzüge des neuzeitlichen Selbstverständnisses des Menschen vorwegnehmend - diese "Unendlichkeits-Tendenz des Geistes" (197) als Grund seiner Größe und Würde begreift.

In seinen durch ebenso reiche Quellenkenntnis wie profunde Einsicht in gedankliche Zusammenhänge fundierten Beiträgen vermag B. überzeugend deutlich zu machen, daß die Rezeption platonischer Philosophie innerhalb der christlichen Theologie einen philosophiegeschichtlich produktiven Prozeß einer umformenden Synthese von Altem innerhalb eines neuen Horizontes darstellt. Von Gadamers hermeneutischem Konzept der ,Wirkungsgeschichte’ her gesehen (vgl. auch die Bezugnahme auf Gadamer, 17), nach dem sich ein Theoriepotential durch seine philosophiegeschichtlichen Transformationen selbst auslegt, haben die im vorliegenden Band zusammengefaßten begriffsgeschichtlichen Untersuchungen einen zuinnerst philosophischen Sinn. Eigens hervorzuheben bleibt nicht zuletzt auch die argumentative und sprachliche Darstellungsform der Beiträge, der, weil sie der Höhe der in ihr vermittelten Gedanken durchaus zu entsprechen vermag, selbst eine ,cheiragogische’ Funktion zukommt. Die Vermittlungskraft von B.s philosophischen Studien beruht im Grunde auf einer tiefen inneren, von intensivem philosophischem ,Eros’ durchlebten Affinität zu ihren Inhalten, aus der heraus er deren Reichtum in faszinierender Weise zu erschließen vermag. Mit diesem unbezweifelbaren Vorzug mag auch eine einzige kritische Bemerkung des Rez. zusammenhängen, die sich aus B.s Hochschätzung der Tradition platonischen Philosophierens ergibt.

Wenn Augustins Aussage, nach der niemand anderer uns Christen so nahe gekommen sei wie die Platoniker ("Nulli nobis quam isti [Platonici] propius accesserunt"), von B. als Motto seinen Ausführungen voranstellt wird, wäre ein Hinweis darauf hilfreich, daß es auch innerhalb der christlichen Theologie in bestimmten Punkten zu einer kritischen Distanzierung von platonischen Reflexionsmodellen kam, die nicht von theologieinterner Philosophiefeindlichkeit, sondern vielmehr von der Einsicht in die Grenzen der Adaptierbarkeit des Platonismus für die gedankliche Vermittlung christlicher Inhalte her bedingt war: So entfaltet beispielsweise Thomas von Aquin sein anthropologisches Konzept einer substantiellen Einheit von Seele und Leib im Menschen ausdrücklich in kritischer Absetzung von den ,Platonici’ (vgl. z. B. Super III. Sent. dist. V q.3 a.2; Summa contra gentiles II 57), weil seiner Meinung nach die platonische Verhältnisbestimmung von Leib und Seele nicht über eine bloß akzidentelle Verbindung hinauskomme und so dem Verständnis der Ganzheit des Menschen als in der Schöpfung ursprünglich von Gott intendierter nicht gerecht werde. Da aber selbst an der aristotelisch orientierten Theologie des Aquinaten die platonischen Einflüsse unverkennbar sind, stellt dies die Bedeutung des Platonismus als konstitutives Moment christlicher Theologie keineswegs in Frage.