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Ausgabe:

Februar/1998

Spalte:

151–153

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kollmann, Bernd

Titel/Untertitel:

Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Meditation und Schamanismus in Antike und Christentum.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 438 S. gr. 8° = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 170. Lw. DM 138,­. ISBN-3-525-53853-7.

Rezensent:

Otto Böcher

Die vorliegende Monographie ist eine 1994/95 von der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen angenommene Habilitationsschrift. Als seinen Lehrer nennt der Vf. im Vorwort (5) Hartmut Stegemann; Ziel seiner Untersuchung ist es, unser Wissen "über den historischen Hintergrund der christlichen wie der paganen Wundergeschichten ... ein Stück weit über den bisherigen Forschungsstand hinauszuführen" (ebd.). Dies ist ihm zweifellos gelungen.

Schon in der Einleitung (I, 13-17) skizziert K. den von dogmatischen und weltanschaulichen Vorurteilen belasteten Umgang der christlichen Exegeten mit den Wunderberichten des Neuen Testaments. Insbesondere wird deutlich, wie Bultmanns Wunderkritik ­ deren Radikalität weniger auf exegetischen Erkenntnissen als auf systematisch-theologischen Prämissen beruhte ­ auf Jahrzehnte hinaus die historisch-kritische Exegese geprägt hat; in der Nachfolge R. Bultmanns (1933) und E. Käsemanns (1954) glaubte man, "den Wundertäter Jesus ohne gravierenden Substanzverlust preisgeben zu können, um ungetrübten Blick auf das wirklich Bedeutsame an der Person Jesu und ihrem Wirken zu gewinnen" (16). Erst die Jesusdarstellungen M. Smiths (1978) und E. Drewermanns (1985) rechnen wieder mit Historizität und Bedeutsamkeit der Wunder Jesu: Smith eher abwartend mit dem Wirken des "Magiers", Drewermann deutlich positiv mit dem des "Schamanen" Jesus (16 f.).

Das dieser Einleitung folgende, eigentliche Corpus der Abhandlung K.s (18-380) umfaßt fünf Kapitel. Zunächst referiert der Vf. den "Stand der Forschung und die Aufgabe" (II, 18-60). Ein erster Abschnitt skizziert "Kontroversen über den historischen Wert der neutestamentlichen Wundergeschichten" von H. S. Reimarus über M. Dibelius und R. Bultmann bis J. Jeremias, J. Roloff, R. Pesch und D. Zeller. "Bilder von Jesus als Wundertäter" stellt der zweite Abschnitt zusammen (Wunderprophet, Arzt, Theios Aner, Magier, suggestiver Heiler, Schamane, Chasid), wobei die Grenzen im einzelnen fließend sind.

Unter der Überschrift "Wundercharismatikertum bei den frühen Christen" behandelt Abschnitt 3 "Machttaten als Mittel missionarischer Werbung", aber auch "Innergemeindliche Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen". Abschnitt 4 erörtert "Aufgabe und Methodik dieser Abhandlung". Der Vf. unternimmt (1) eine "historische Untersuchung aller neutestamentlichen Wunderstoffe ... mit dem Ziel, die Wundertätigkeit Jesu möglichst weitgehend zu erhellen" (45 f.); er ist (2) bestrebt, "Wundertaten im frühen Christentum überhaupt erstmals in ihrer vollen Bedeutung für Mission und Gemeindeleben zu erfassen" (47), und für beide Vorhaben benötigt (und bietet) er (3) "eine wenigstens repräsentative Erhellung dessen ..., was in der unmittelbaren Umwelt des Neuen Testaments an Magie, Medizin und Wundercharismatikertum vorhanden war" (48). Zu den methodischen Vorüberlegungen gehört nicht nur die Frage nach dem historischen Wert der einzelnen Überlieferungen, sondern auch die Auseinandersetzung mit allzu selbstverständlich gewordenen Kriterien der Sekundärliteratur (z. B. Käsemanns erstaunlichem Postulat, der historische Jesus sei nur dann greifbar, wenn weder zum antiken Judentum noch zur Urchristenheit ein Traditionszusammenhang bestehe, 51). Hilfreich sind K.s Begriffserklärungen (Wunder, Magie, Goetie, Schamanismus, Theios Aner, Exorzismus, 53-60).

Kapitel III (61-173) behandelt "Magie, Medizin und Wundercharismatikertum in der Umwelt des Neuen Testaments", und zwar zunächst im paganen Hellenismus und dann im antiken Judentum. Das griechisch-römische Material ordnet der Vf. unter die Rubriken Wissenschaftliche Medizin (Hippokrates, Ärzteschulen; Exkurs zur "Heiligen Krankheit"), Asklepiosheiligtümer (Mythos, Epidaurus, Kos, Pergamon), Zauberpapyri (Formulare für Dämonenaustreibung und Totenerweckung), Theioi Andres (Pythagoras, Empedokles, Asklepiades von Prusa, Simon Magus, Apollonius von Tyana u. a.). Der Abschnitt "Antikes Judentum" enthält nach einer allgemeinen Einführung ("Jüdische Heilkunst in hellenistisch-römischer Zeit") Kurzmonographien u. a. zu Tobit, Jesus Sirach, Essenern, Choni dem Kreiszieher, Jochanan ben Zakkai und Chanina ben Dosa, ferner Ausführungen zu Magie und Volksmedizin des Judentums in rabbinischer Zeit, in Mischna und Talmud.

Kernstück des Buchs ist Kapitel IV ("Jesus als Wundertäter", 174-315). Der Vf. hat es in sechs Abschnitte gegliedert. Zunächst untersucht er "Dämonenaustreibungen Jesu" (Mk 3,22-27 parr.; Lk 13,31-33; Mk 3,27 parr.; Lk 10,18; Mk 6,6b-13 par.; Mt 12,43-45 par. Lk 11,24-26; Mk 1,21-28; Mk 5,1-20; Mk 9,14-29 parr.) Von ihnen unterscheidet er "Krankenheilungen Jesu" (u. a. Mt 11,2-6 par. Lk 7,18-23; Mt 13,16 f. par. Lk 10,23 f.; Mk 1,29-31; Mk 1,40-45; Mk 2,1-12; Joh 5,2-9b; Mk 5,25-34; Mk 7,31-37; Mk 8,22-26; Joh 9,1-7), denen er auch die "Wiederbelebung verstorbener Personen" zuzählt (Mk 5,22-24.35-43; Lk 7,11-17; Joh 11,1-44). Es folgen Abschnitte über "Naturwunder" (Mk 1,13; Mk 4,35-41; Mk 6,30-44 parr.; Mk 6,45-52; Mk 11,12-14.20.21; Mt 17,24-27 u. a.), über die "Verweigerung demonstrativer Machterweise" (Mk 8,11 f. parr.; Mt 4,1-11 par. Lk 4,1-13) und "Jesus als Wundertäter in der Evangelienredaktion" (Mk, Mt, Lk, Joh; Analogien). Im letzten Abschnitt resümiert der Vf. die Ergebnisse; anders als bei Totenerweckungen und Naturwundern ist an der Faktizität der Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen Jesu nicht zu zweifeln (306 f.).

Schließlich untersucht Kapitel V (316-378) "Frühchristliches Wundercharismatikertum in der Nachfolge Jesu". Von fünf Abschnitten behandelt der erste "Wunderwirkende Apostel und Propheten in der Tradition der Aussendungsrede" (u. a. Mt 7,15-23; Mk 9,38-40), der zweite "Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen auf Befehl des auferstandenen Christus (u. a. Mk 16,15-20; ActPetr 8,11-12,19), der dritte "Krankenheilungen in den christlichen Gemeinden" (1Kor 12; Mk 9,28 f.; Jak 5,14-16; IrenHaer II 31,2; 32,4). "Form- und sozialgeschichtliche Aspekte frühchristlichen Wundercharismatikertums" stellt Abschnitt 4 zusammen; ein Exkurs ist dem "Theologumenon von Jesus als Arzt" gewidmet (363-366). Abschnitt 5 bündelt die Ergebnisse des Kapitels.

Erfreulich knapp und präzise ist das Resümee der ganzen Monographie (VI, "Schluß", 379 f.). Der von K. vermittelte "Einblick in die aus neuzeitlich-aufgeklärter Perspektive recht fremde Welt von Wundercharisma, Magie und Schamanismus in Antike und Christentum" (379) erweist sich als wichtiges Korrektiv einer rationalistischen Wunderkritik, die Heilungswunder für unmöglich hält, aber auch als Korrektiv einer modern-protestantischen Wort-Gottes-Hermeneutik, in der ­ wie etwa bei H. Conzelmann und W. Schneemelcher (45, Anm. 19) ­ Jesu Wunder überhaupt nicht vorkommen (379 f.). "Von dem Vorurteil befreit, zwangsläufig degenerierte Form von Religion oder Aberglaube zu sein, können Magie und Schamanismus mit ihrem ganzheitlich orientierten Welt- und Menschenbild in Rückbesinnung auf die Heilungswunder bei Jesus und den frühen Christen befruchtend auf die seelsorgerlich-therapeutische Praxis wirken" (380).

Ein ausführliches Literaturverzeichnis (VII, 381-431) nennt die Textausgaben, Hilfsmittel und Sekundärliteratur. Der abschließende Registerteil (VIII, 432-438) bietet eine Auswahl der wichtigsten Autoren, Namen, Sachen und Belege.

Bernd Kollmanns Buch ist ein bedeutsamer Beitrag zur Erforschung des Lebens Jesu, aber auch zur frühchristlich-altkirchlichen Sozial- und Medizingeschichte. Konsequent disponiert, folgerichtig fortschreitend und gut lesbar geschrieben, rückt es ein bislang durchweg vernachlässigtes neutestamentliches Thema ins Licht historisch-kritischer Exegese. Ohne unnötige Polemik und in völliger Offenheit gegenüber der älteren Forschung, aber eben im Wissen darum, daß im Bereich psychosomatischer Medizin mancherlei "Wunder" möglich waren (und sind), die man noch vor dreißig Jahren als Produkte der Fabulierfreude abzutun pflegte, läßt der Vf. Jesus und die frühen Christen als Wundertäter Kontur gewinnen. Gleich weit entfernt von der Abwertung Jesu als eines bloßen "Magiers" (M. Smith) wie von seiner Verherrlichung als eines Durchbrechers der Naturgesetze, belehrt uns K. darüber, daß die im Neuen Testament berichteten Wunder einen unverzichtbaren Aspekt des historischen Jesus, der urchristlichen Christologie und der frühen Missionspraxis darstellen, der unsere Aufmerksamkeit nicht weniger verdient als das schriftlich überlieferte Wort der Predigt.