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Ausgabe:

März/1998

Spalte:

291–293

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lohmann, Johann Friedrich

Titel/Untertitel:

Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im "Römerbrief" und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1995. X, 421 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 72. Lw. DM 218,­. ISBN 3-11-014883-8.

Rezensent:

Michael Beintker

Wer Barths Verhältnis zum Marburger Neukantianismus untersucht, nimmt sich eines gewichtigen und bisher keineswegs schon hinreichend erforschten Themengebiets an. Es hat sich zwar bei einem Teil der jüngeren Barth-Interpretationen die Auffassung durchsetzen können, daß die Ausformung der dialektischen Theologie Barths an zentralen Punkten von neukantianischen Denkmustern und Begrifflichkeiten beeinflußt gewesen sei und daß dieser Einfluß ­ vornehmlich vermittelt durch den jüngeren Bruder Heinrich Barth und dessen theologisch interessiertes Ursprungskonzept ­ sehr hoch veranschlagt werden müsse. Aber von wenigen Ausnahmen abgesehen ­ unter ihnen die seinerzeit von Karl Heim angeregte Tübinger Dissertation Hans Ulrichs (1936) ­ verharrte der Aufweis von neukantianischen Motiven und Querverbindungen in der Römerbrief-Phase der Barthschen Theologie zumeist im Grundsätzlichen, Thetischen. Detailliertere Erkundungen und Erschließungen ließen auf sich warten. Vermutlich lag das an der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes. Es ist ja nicht nur eine exzellente Vertrautheit mit Barths Frühtheologie erforderlich. Eine adäquate Interpretation verlangt auch solide Kant-Kenntnisse und philosophiegeschichtliches Expertenwissen über die zumeist in Vergessenheit geratenen philosophischen Konzeptionen Hermann Cohens und Paul Natorps. Darüber hinaus hat sie sich in die nicht eben leicht verständliche Denkwelt Heinrich Barths zu vertiefen.

Man muß den Schwierigkeitsgrad des von Johann Friedrich Lohmann bearbeiteten Themas vor Augen haben, um die von ihm vorgelegte (aus einer Mainzer Dissertation erwachsene) Monographie angemessen würdigen zu können. Die eine der den Vf. beschäftigenden Leitfragen lautet: "Läßt sich Barth bei seiner Römerbrief-Auslegung von philosophischen, nämlich neukantianischen, Denkmustern leiten? Oder anders gefragt: Wird der Anspruch der Barthschen Auslegung auf Biblizität durch einen eventuellen Rekurs auf den Neukantianismus durchkreuzt" (4)? Seine andere Leitfrage zielt auf die Nachwirkungen der offensichtlich fruchtbaren Begegnung Barths mit dem Neukantianismus: "Wirkt sich der Neukantianismus auch auf Barths spätere Theologie aus, und wenn ja, in welcher Weise?" (ebd.).

Zur Klärung der ersten Leitfrage holte der Vf. weit aus. Die knappe Hälfte der Arbeit (36-205) dient der Darstellung des Neukantianismus. Nach einer aufschlußreichen Aufhellung seiner geschichtlichen Anfänge (36 ff.) werden die Grundelemente der Philosophien H. Cohens (65 ff.) und P. Natorps (130 ff.) und der an beide Entwürfe anknüpfenden frühen Philosophie Heinrich Barths (164 ff.) erarbeitet. Die Darlegungen sind instruktiv und verläßlich. Es war geschickt, daß sich der Vf. bevorzugt auf diejenigen Momente konzentrierte, die für die Sondierung neukantianischer Einflußzonen besonders aussagekräftig werden: Neben der jeweiligen Erkenntnistheorie mit ihren antipsychologischen, antihistoristischen und antisubjektiven Präferenzen und dem damit verknüpften Wissenschaftsverständnis mußte vor allem das berühmte Prinzip des Ursprungs aufgehellt werden.

Sodann war die philosophische Leistung des jungen Heinrich Barth zu ermessen, der das "Denken des Ursprungs" in einer seinen Bruder elektrisierenden Weise weiterentwickelt und damit entscheidende dialektische Denkfiguren geliefert hatte. Der Vf. beobachtet und analysiert präzise und genau. Er rückt ­ begründet, wie ich meine ­ die Oepke Noordmans zugeschriebene und seitdem fleißig zitierte Hypothese vom "umgeschlagenen" Neukantianismus des Barth-Bruders zurecht (vgl. 190ff.). Er kann zeigen, daß sich der vermutete "Umschlag" faktisch als eine konsequente "Fortschreibung" (204) des Cohenschen und Natorpschen Transzendentalismus charakterisieren läßt. Die Differenzen Heinrich Barths zur Marburger Philosophie des Ursprungs ergeben sich "aus der Forderung eines tatsächlichen Transzendierens der Ebene des Subjekt-Endlichen im obersten Prinzip der Erkenntis, das Interesse an Ethik und ’Leben’ aus der Forderung eines Erfahrungsbezugs der im ’Ursprung’ begründeten Erkenntnis" (204). Der Vf. fügt hinzu: "Es waren diese beiden Forderungen, die Heinrich Barth dazu führten, den ’Ursprung’ vom Gottes- bzw. Schöpfungsgedanken und von der platonischen Idee des Guten her zu interpretieren" (ebd.). Es sei freilich angemerkt, daß hier in der Problemperspektive Heinrich Barths formuliert wird. Das Wahrheitsmoment der "Umschlag"-Theorie besteht darin, daß Cohen und Natorp ihrerseits den Denkversuch Heinrich Barths schwerlich einfach als eine Fortschreibung hätten lesen können.

In der anderen Hälfte der Arbeit (206-399) beschäftigt sich der Vf. mit Barths Rezeption des Neukantianismus zwischen 1916 und 1922, also den Jahren, in denen dieser an seinen Auslegungen des Römerbriefes arbeitete. Er klärt anhand des damaligen Philosophieverständnisses Barths die mutmaßlichen Hintergründe von Barths Rekurs auf den Neukantianismus im "Römerbrief" auf (317 ff.) und nimmt abschließend (376 ff.) auf seine zweite Leitfrage nach dem Fortwirken der Begegnung mit dem Neukantianismus Bezug. Völlig zu Recht rückt Barths Safenwiler Zeit ins Zentrum, genauer noch: die geistige Kooperation der Barth-Brüder bei der Entstehung des Tambacher Vortrags von 1919 "Der Christ in der Gesellschaft" (247 ff.). Die 1. Auflage der Römerbriefauslegung kann vernachlässigt werden; ein neukantianisches Klima wird zwar erkennbar und in Barths Auseinandersetzung mit dem moralischen Idealismus sogar kritisch akzentuiert, aber die Bezugnahme bleibt insgesamt unspezifisch. Die zweite Römerbriefauslegung zeigt Barth dann auf dem Gipfelpunkt der Neukantianismusrezeption. Und das so stark, daß die von Barth intendierte Adäquanz der Paulusauslegung (vgl. die erste Leitfrage der Arbeit) beeinträchtigt und stellenweise sogar verhindert wird (vgl. z. B. 299, 306, 308f.). Als besonders wichtig erscheint die Zuspitzung des Antisubjektivismus: Unter dem Einfluß der Erkenntnistheorie der philosophischen Lehrer wird die Ebene des Subjekts gegenüber der objektiven Wahrheit Gottes "geradezu aufgelöst" (279) und zugleich noch der konstitutionsidealistische Aspekt ihrer Erkenntnistheorie eliminiert, weil Barth "eine konstituierend-schöpferische Tätigkeit nur bezüglich Gottes, nicht des Menschen, ausgesagt wissen will" (279).

Während die Bezugnahme auf das Ursprungsmotiv rasch wieder in den Hintergrund rückte, blieb das "Theorem von der Objektbestimmtheit der Erkenntnis" (381) für Barth zeit seines Lebens leitend. Das antisubjektivistische Moment in Barths theologischer Erkenntnisdeutung und -haltung stellt sich für den Vf. als ein gewichtiges, zinskräftiges neukantianisches Erbstück heraus. Daran ist gewiß richtig, daß sich der erkenntnistheoretische Idealismus Marburgs als ein intellektueller Bündnispartner beim Ringen um die Wahrung der Souveränität Gottes (vgl. dazu 367 ff.) heranziehen ließ. Man muß allerdings fragen, ob die Rede von einem erkenntnistheoretischen Antisubjektivismus Barths nicht zu grobkörnig bleibt.

Die transzendentale Verfaßtheit seines Denkens in der Phase des zweiten Römerbriefkommentars hat Barth später kritisch durchschaut und mit Hilfe der Anselm-Interpretation von 1931 hinter sich gelassen. Von diesem Lernprozeß war auch der vermutete "Antisubjektivismus" betroffen. Darauf geht der Vf. nicht ein. Man kann aber Barths Wendung zu Anselm und damit zu einem dezidiert "nichtcartesianischen" Erkenntnismodell nicht aussparen, wenn man den Anteil neukantianischer Theorieelemente verläßlich zu bestimmen sucht.

Die Analyse der Nachwirkungen des Neukantianismus in Barths Theologie bleibt also auch nach diesem Buch eine noch zu lösende Forschungs- und Interpretationsaufgabe. Man kann sie nicht auf so begrenztem Raum abhandeln, wie er dem Vf. offensichtlich zur Verfügung stand. Der Klärung bedürftig sind vornehmlich folgende Fragen: Wie verhält sich Barths Rekurs auf den Neukantianismus zu Barths philosophischer Affinität zum Denken Kants? Wie steht es um den kantianisch/neukantianischen Hintergrund des Barthschen Wissenschaftsbegriffs und Wirklichkeitsverständnisses (man denke an das berühmt-berüchtigte Vorwort zu KD III/1)? Verdankt sich der zweifellos antispekulative, antimetaphysische Kammerton der Barthschen Theologie dem Einfluß Marburgs, und wenn ja, in welchem Umfang? Wie sind die Konvergenzen und die Gegensätze zwischen dem Neukantianismus und der anticartesianisch gerichteten Anselmdeutung Barths zu profilieren?

Die Leistung des Vf.s wird nicht geschmälert, wenn man ­ angeregt durch sein sympathisch klares Buch ­ auf solche Fragen stößt. Im Gegenteil: Seine Studie legt solide, tragfähige Fundamente für die Fortsetzung einer Forschungsdebatte von schlüsselhafter Bedeutung. Als erhellende Interpretation eines zentralen Genesefaktors der Frühtheologie Barths wird Lohmanns Buch dem vertieften Verständnis jener Schaffensperiode gute Dienste tun und sich als unentbehrliche Erschließungshilfe erweisen.