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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

105-106

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Raiser, Konrad:

Titel/Untertitel:

Schritte auf dem Weg der Ökumene.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lembeck 2005. 373 S. gr.8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 3-87476-470-2.

Rezensent:

Bernd Jochen Hilberat

Mit dem Etikett »Rechenschaftsbericht« wäre zwar etwas Richtiges getroffen, und doch bliebe diese Charakterisierung formal und unspezifisch. Der frühere Generalsekretär des ÖRK Konrad Raiser (1993­2003) veröffentlicht hier (z. T. erstmals bzw. zum ersten Mal in deutscher Sprache) Beiträge seit der Vollversammlung von Harare (1998), die zutreffender als »Vermächtnis« bezeichnet werden könnten.

R. plädiert dafür, die ökumenischen Visionen nicht aufzugeben, wohl aber sie zu überprüfen und zu reformulieren »auf dem Weg der Ökumene« (vgl. 84). Die hier gesammelten Vorträge, nein: das, worauf sie sich beziehen, sind »Schritte« auf diesem Weg. Auf dem ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin meditierte R. über das Weg-Motiv, das hier »zum Leitmotiv für den ganzen Band geworden [ist], in dem ich noch einmal versuche, die Umbrüche und Veränderungen, die sich in der ökumenischen Bewegung vollzogen haben und noch vollziehen, besser zu verstehen« (Vorwort, 7).

Die 20 Referate sind in vier Teilen so angeordnet, dass sich ein Bogen spannt von der Binnen- zur Außenperspektive ökumenischer Theologie und Verpflichtung. Neben den Optionen und Reflexionen des Ökumenikers finden Leserinnen und Leser, die an der Geschichte und dem »Weg« (eben nicht »Stand«: 58) der Ökumene interessiert sind, fundierte Informationen nicht nur über die Entwicklungen, Konsultationen und Dokumente seit 1998, sondern seit den Anfängen in den 20er Jahren (besonders was etwa das ökumenische Engagement der Orthodoxie angeht). Deshalb ist der vorliegende Band doppelt empfehlenswert; die folgenden Hinweise wollen den Appetit wecken.Gleich der erste Beitrag »Hauptprobleme des Ökumenischen Rates der Kirchen nach der Vollversammlung in Harare« (9­25) macht deutlich, dass sich innerhalb des ÖRK vollzieht, was für die ökumenische Bewegung als Ganze ansteht: die Klärung der je eigenen wie der möglichen gemeinsamen Ekklesiologie. Auf Grund der Beiträge im dritten und vor allem vierten Teil muss ergänzt werden: angesichts der Herausforderungen, vor die die großen Probleme der Menschheit heute alle Kirchen stellen (vgl. z. B. 241)! Referenztext für das ekklesiologische Selbstverständnis des ÖRK bleibt die sog. Toronto-Erklärung, die in der Auseinandersetzung mit den orthodoxen Kirchen vor, während und seit Harare massive Aktualität bekam.

Dabei haben die Orthodoxen vor allem die negativen Formulierungen im Auge, also das, was der ÖRK nicht sein will (eine »Überkirche«). Weniger rezipiert wurden nach R. (18) u. a. der Aufruf »an[zu]erkennen, dass die Mitgliedschaft in der Kirche Christi umfassender ist als die Mitgliedschaft in der eigenen Kirche« bzw. »in anderen Kirchen Elemente der wahren Kirche an[zu]erkennen«. Ziel ist gewiss nicht die organisatorische Einheitskirche, sondern die eine Kirche in der Vielfalt der Kirchen; es geht darum, »die grundlegende Dimension der Katholizität der Kirche wieder zu entdecken und so Wege zu entwickeln, um die bleibende Vielfalt und Verschiedenheit in vielen Bereichen kirchlichen Lebens nicht nur zu tolerieren, sondern als konstitutive Voraussetzung lebendiger Gemeinschaft neu zu verstehen« (23).

In seinen »Überlegungen zur Zukunft des ÖRK« erinnert R. an die Idee des »ökumenischen Raumes«, innerhalb dessen sich eine solche Katholizität (vgl. vor allem 170 ff.) entwickeln könnte. Die Vision eines solchen Rates wurde von der Sonderkommission im Anschluss an Harare zu Papier gebracht. Sie hat einen Raum im Blick, in dem Vertrauen sich bildet, voreinander und miteinander Selbstkorrektur einerseits und Bildung von Netzwerken andererseits möglich wird und »wo Kirchen im Dialog daran arbeiten können, die Schranken niederzureißen, die ihnen den Weg zur gegenseitigen Anerkennung als Kirchen versperren, welche den einen Glauben bekennen, die eine Taufe und die eine Eucharistie feiern ­ mit dem Ziel, zu einer Gemeinschaft im Glauben, im sakramentalen Leben und im Zeugnis zu werden« (hier zit.: 30 f.). Freilich: wer weitere Schritte gehen und den Blick auf die Vision nicht verlieren will, braucht ungebrochene ökumenische Leidenschaft, denn: Ist die Zahl der Dialoge, der Konsens- und Konvergenzerklärungen, der Berichte und Kommissionen nicht schon »Legion«? Wie würden sich solche Dialoge im Raum des ÖRK zu den (in der Regel) bilateralen Dialogen zwischen den Kirchen verhalten?

Es wird deutlich, dass die Vision den ÖRK anzusiedeln versucht zwischen diesen Dialogprozessen, denen aber vielfach die notwendige Rezeption fehlt, und einem Verständnis des Rates als einem »rein funktionelle[n] Zusammenschluss von Kirchen mit dem Ziel, Aktivitäten im Bereich von gemeinsamem Interesse zu organisieren« (zit.: 28). Mit Recht plädiert R. in einem weiteren Beitrag dafür, dass »die möglichen kirchenrechtlichen Konsequenzen ökumenischer Vereinbarungen nicht länger der Beliebigkeit überlassen bleiben [dürfen]« (52; es folgen interessante Vorschläge für einen entsprechenden Rahmen: 53­56). Dabei ist die ökumenische Bewegung eine »zugleich geistliche und moralisch-ethische Wirklichkeit« (81).

Diese Kennzeichnung hält R. konsequent in den Beiträgen des vierten Teils durch: Es geht ihm nicht um Widerstand, sondern um eine »Spiritualität des Widerstandes« (329­341), und den »Einsatz für Wahrheit und Versöhnung« bezeichnet er als »spirituelle Herausforderung« (342­353). Auf dieser Grundlage setzen die Kirchen freilich eindeutige »Wegmarken« (vgl. 69).

Die Beiträge des zweiten Teils »Protestantismus und Orthodoxie« reflektieren, informierend und selbstkritisch (90 ff.) wie Ängste relativierend (159 ff.) zugleich, die Veränderung der ökumenischen Landschaft seit der politischen Wende in Europa. Hervorgehoben wird insbesondere der Beitrag der orthodoxen Theologie zum Lima-Papier. Nicht so bekannt dürfte sein, was R. mit den Stichworten »Liturgie nach der Liturgie« (150 f.) und »liturgische Diakonie« (153) in Erinnerung ruft. Darin kann ein spezifischer Beitrag der Orthodoxie zur aktuellen Diskussion um eine »Ökumene des Lebens« gesehen werden.

Aus dem ökumenischen Einzelthemen gewidmeten dritten Teil hebe ich nur die Schlüsselbegriffe hervor, die jede ökumenische Theologie reflektieren sollte: Katholizität, Verhältnis von lokal ­ universal (der Bericht der Gemeinsamen Kommission war differenzierter als die Akzentsetzung im Communio-Schreiben der Glaubenskongregation: 187), communio ­ koinonia. Mit den Stichworten Katholizität und Communio verbindet sich das Plädoyer für eine kommunikative Dialogkultur, das R. erstmals zur Feier des 40-jährigen Bestehens des Tübinger Ökumenischen Instituts vortrug (272 ff.), es bildet jetzt quasi den Rahmen der zuvor verhandelten Einzelthemen. Nicht ausführlich gewürdigt werden können die Überlegungen und Vorschläge zum spirituell fundierten sozialen Engagement der Kirchen; ein Hinweis auf einschlägige, dichte Passagen, die selbst wiederum vorliegende Dokumente verdichten, muss genügen: 223 ff. zum Arbeitsschwerpunkt »Dem Leben dienen«, 236 ff. (»Ökumenische Perspektiven für eine theologische Anthropologie«), 268 ff. (Problembereiche der »interreligiösen Begegnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts«).

Das Buch kann aus unterschiedlichem Interesse heraus gelesen werden; es lohnt sich in jedem Fall!