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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1307–1309

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Konz, Britta:

Titel/Untertitel:

Bertha Pappenheim (1859­1936). Ein Leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation.

Verlag:

Frankfurt-New York: Campus 2005. 411 S. m. Abb. 8° = Ge schichte und Geschlechter, 47. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-593-37864-7.

Rezensent:

Gisa Bauer

Die unter der Betreuung von Jörg Thierfelder entstandene Heidelberger Dissertation, die im Jahr 2005 mit dem »Hanna-Jursch-Preis« und dem »Leonore-Siegele-Wenschkewitz-Preis« ausgezeichnet wurde, bietet erstmalig eine Gesamtschau zu Le ben und Wirken der namhaften Pionierin der jüdischen Frauenbewegung und der jüdisch-sozialen Arbeit Bertha Pappenheim. Während biographische Studien zu Pappenheim bisher entweder auf ihre Fallgeschichte in der Anfangszeit der Psychoanalyse als »Anna O.« oder auf ihre Tätigkeit im Rahmen des Agierens des Jüdischen Frauenbundes Bezug nahmen, ist es K.s Anliegen, das Zusammenwirken von Frauenemanzipation und jü disch-orthodoxem Glauben bei Pappenheim zu analysieren. Destillat dieser strukturellen Vernetzung ist für K., in Anlehnung an den von Shulamit Volkov geprägten Terminus, ein »weiblich-ðjüdisches Projekt der ModerneЫ. Damit beschreitet K. am Beispiel des jüdisch-emanzipatorischen Handelns ihrer Protagonistin das erst in jüngster Zeit in der historischen bzw. kirchenhistorischen Forschung fokussierte Feld der Genese von Emanzipationsbemühungen und dem Kampf um Gleichberechtigung der Frau aus religiösen Motiven und leistet somit auf dem marginalisierten Sektor der Frauenhistoriographie einen Beitrag zur Debatte um Säkularisierung versus Konfessionalisierung in der historischen Gesamtschau des 19. und frühen 20. Jh.s.

K.s Untersuchung ist in zwei Teile gegliedert: der erste be schäftigt sich mit der Biographie Pappenheims, der zweite in eher themenzentrierter Form mit Pappenheims religiöser Be gründung ihres frauenemanzipatorischen, sozialen und pädagogischen Wirkens.

Neben der anschaulichen Darstellung der Lebenswelten von Bertha Pappenheims Elternfamilien Pappenheim (29­40) und Goldtschmidt (65­76) in jeweils eigenen Kapiteln der Biographie Pappenheims widmet sich K. der Jugendzeit und Krankheitsgeschichte (41­64) ihrer Protagonistin. Erste Ansätze eigenständiger beruflicher Tätigkeit fallen bei Pappenheim noch in die Zeit der Erkrankung. Spätestens aber 1895 verzeichnet K. mit dem »Beginn ihrer praktischen Tätigkeit in Leitungspositionen sowie de[m] Beginn ihres aktiven Engagements in der Frauenbewegung« (73) den Durchbruch in Pappenheims Leben ­ und damit den Abbruch eines Lebens in Müßiggang, beruflicher Passivität und intellektueller Unterforderung, zu dem die meisten Frauen der bürgerlichen Schicht erzogen wurden und das im unmittelbaren Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung Pappenheims stehen dürfte. Seit Mitte der 1890er Jahre war Pappenheim Leiterin des Mädchenwaisenhauses des Israelitischen Frauenvereins in Frankfurt und erweiterte in den nächsten Jahren ihren Tätigkeitsbereich immens. Ab 1897 publizierte sie Artikel zu Frauenfragen, 1899 erfolgte die Veröffentlichung ihrer Übersetzung von Mary Wollstonecrafts »Verteidigung der Rechte der Frauen«. Pappenheim war von 1910 bis 1916 Mitglied des Frankfurter Städtischen Armenamtes. Sie gründete 1901 gemeinsam mit Henriette Fürth den Verein »Weibliche Fürsorge«, der als professioneller Frauenhilfsverein dazu beitrug, »die Wohlfahrtspflege der jüdischen Gemeinde insgesamt zu reformieren« (82 f.), 1902 den »Mädchenclub« nach Vorbild der Butler Street Clubs in London sowie 1907 das Frauen- und Kinderheim Neu-Isenburg. In der Frankfurter jüdischen Gemeinde war Pappenheim die erste Frau, die öffentlich Vorträge zu Wohlfahrtspflege, Frauenarbeit und Sittlichkeitsfragen hielt. Sie engagierte sich zeitlebens in der Bekämp fung des Mädchenhandels. Den größten Einfluss erreichte Pap penheim als Vorsitzende des von ihr 1904 mit gegründeten Jüdischen Frauenbundes, dem sie bis 1934 vorstand und der bis zu 42 jüdische Verbände unter seinem Dach vereinte. 1907 wurde der Jüdische Frauenbund Mitglied des Bundes Deutscher Frauenvereine, in dessen engerem Vorstand Pappenheim von 1914 bis 1924 ebenfalls tätig war.

Wie der Deutsch-evangelische und der Katholische Deutsche Frauenbund bot auch der Jüdische Frauenbund bürgerlichen, konfessionell geprägten Frauen eine Alternative zu der sich überkonfessionell verstehenden bürgerlichen Frauenbewegung und diente der Identifikation von emanzipierten Jüdinnen mit dem Judentum. Allerdings befand sich der Jüdische Frauenbund mit seinen Anliegen, so K., innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zwischen allen Fronten: Seine Forderungen waren den Orthodoxen zu liberal, wohingegen die Betonung jüdischer Tradition den Liberalen zu orthodox erschien (92). Der Kampf gegen den Antisemitismus spielte in der Zielsetzung des Jüdischen Frauenbundes spätestens seit den 1920er Jahren eine große Rolle, und Pappenheim galt als eine der sensibelsten Beobachterinnen des auch in der Frauenbewegung wachsenden Antisemitismus (besonders 339­359).

Dies leitet zu dem zweiten Teil der Arbeit über, der Analyse und Verortung der Korrelation von Pappenheims jüdisch-orthodoxer Frömmigkeit und ihres frauenemanzipatorischen Wirkens. Anhand mehrerer großer Themenkomplexe (Pappenheims Frau enbild und Emanzipationskonzept im Spiegel der Frauenbe wegung und des Judentums, 121­188; die Umgestaltung der jüdischen Wohltätigkeitsarbeit, 189­266; die pädagogischen Zielsetzungen, 267­320; sowie Entwicklungen, Kontinuitäten und Brüche, 321­363) skizziert K. vor dem Hintergrund eines Spannungsverhältnisses von Inklusion und Exklusion von Jü dinnen und Juden innerhalb der deutschen bürgerlich(-liberalen) Gesellschaft im 19. Jh. (105­114) und der im Judentum intensiv diskutierten Frage nach dem Verhältnis von jüdischer Tradition und Moderne (114­119) Pappenheims Modell des weiblich-jüdischen Projekts der Moderne.

An dieser Stelle sei auf eine kleinere formale Schwäche innerhalb der Arbeit hingewiesen: An manchen Stellen führt zu leichten Irritationen beim Lesen, dass einige, das Wirken Pappenheims unmittelbar betreffende Bereiche, erst hier, im zweiten Teil, dargestellt werden, nachdem sie in dem biographischen Abriss des ersten Teils der Arbeit nur in Nebensätzen Erwähnung fanden. Besonders auffällig ist dies in Bezug auf die Gründung und Organisation des Heimes Neu-Isenburg ­ immerhin Pappenheims »Lebenswerk« (213) und »Herzstück« ihres weiblich-jüdischen Projektes der Moderne (319) ­, das im biographischen Teil nur randständig angedeutet und dessen Bedeutung erst im Rahmen der Analyse Pappenheims pädagogischer Zielsetzung erörtert wird (288­319), da nun aber etwas unvermittelt und überraschend für die unkundige Leserschaft.

Im Blick auf die konfessionell angebundene Frauenemanzipation insgesamt kommt K. zu dem Schluss, »dass Religion und religiöse Tradition für Frauen eine ambivalente Funktion einnahmen: Einerseits wurden sie von Männern als Mittel der Normierung und zum Ausschluss von Frauen benutzt, andererseits waren sie für die Frauen selbst oft eine befreiende Kraft« (139). Auch im Judentum war das Stereotyp von »Frau« ambivalent: Von der »abtrünnigen Jüdin« bis zur »Retterin der jüdischen Familie« reichte das Spektrum (140­146). Pappenheims Engagement beruhte im Wesentlichen »auf eine[r] Erweiterung der Tradition der Frau als Hüterin der Familie« (137): Die »geistige Mütterlichkeit«, wie sie auch in der bürgerlichen Frauenbewegung proklamiert wurde, transformierte sie »durch die Verknüpfung mit der Tradition der ðPriesterin des HausesÐ zu einer ðsozialen MütterlichkeitЫ (147). Ihr Engagement in der jüdischen Wohlfahrtspflege, im Kampf für bessere Mädchen- und Frauenbildung, besonders im Hinblick auf die religiöse Bildung, in der Pädagogik und der Lösung der Sozialen Frage generell erklären sich durch diese religiöse Transformation.

Die biblische Botschaft verstand Pappenheim in moderner Form nicht als Legitimation des Geschlechterunterschiedes. Ihrer Auffassung nach geht »aus der ungerechten Stellung, die die Bibel der Frau zuweist, klar hervor[Š], dass sie die Niederschrift eines genialen, aber männlichen Menschen ist und nicht ein gottgewolltes Diktat, d. h. die logische Folge des gottgewollten Unterschiedes der Geschlechter« (161). Trotzdem war Pappenheim in ihrer Arbeit stets »auf der Suche nach einer Kontinuität jüdischer Tradition bzw. einer Wiederanbindung an das jüdische Vermächtnis« (180). Bei der Entwicklung positiver weiblicher Identifikationsmodelle z. B. stützte sich Pappenheim ausschließlich auf die biblische Überlieferung und die jüdische Tradition (167­176) und hatte mit ihren Überlegungen und ihrem Wirken »Anteil am Prozess der ðkulturellen VerjüngungÐ des Judentums und der Wiederentdeckung und Neuschaffung von Traditionen« (188). Allerdings, so K., überforderte Pappenheim mit ihrem Idealbild der sozial engagierten Jüdin, die sich mit der »weiblich-jüdischen Kulturaufgabe« ihre Rechte verdiente (197), auch Frauen, die diesem Bild nicht entsprechen wollten oder konnten (188).

Die religiöse Grundlegung bei Pappenheim erörtert K. ausführlich in dem für die Arbeit zentralen Kapitel 3.5.: »Bertha Pappenheims Religiosität als Grundlage des sozialen Wirkens« (216­265). Die hier dargelegten Aspekte jüdischer Frömmigkeit bieten Ansätze zu weiterführenden, bislang noch nicht erfolgten Überlegungen hinsichtlich eines konfessionell übergreifenden »Frömmigkeitstypus« bei Frauen, die der Emanzipationsbewegung verpflichtet waren.

Dies schließt den Kreis zu der anfangs genannten Einbindung der Qualifikationsschrift von K.: Während für das Leben und Wirken der Protagonistin festzuhalten bleibt, »dass Pappenheim und der Jüdische Frauenbund einen bleibenden Beitrag zur deutschen Kultur und zur Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates leisteten« sowie darüber hinaus »den Weg für die Emanzipation von Frauen in ihrer Glaubensgemeinschaft« bereiteten (375 f.), ist die Arbeit selbst ein Beitrag zur kultur- und frömmigkeitsgeschichtlichen Aufarbeitung der Gemengelage in Kaiserreich, Weimarer Republik und den Anfangsjahren des Dritten Reichs.

So liegt das Verdienst der Arbeit in der umfassenden Biographie zu Leben und Wirken Pappenheims sowie der herauskristallisierten Vernetzung des Jüdischen Frauenbundes mit den konfessionellen Frauenverbänden und der bürgerlichen Frauenbewegung, mit denen er ähnliche Interessen teilte. Darüber hinaus aber liefert K. den paradigmatischen Nachweis, dass die so genannte erste Frauenbewegung in Deutschland, entgegen der manifesten Meinung in der Frauenhistoriografie, in ganz we sentlichen Punkten von weiblich-theologischen Argumentationen und religiösen Motiven initiiert, vorangetrieben und legitimiert wurde.