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Ausgabe:

Dezember/2006

Spalte:

1298 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Streck, Martin:

Titel/Untertitel:

Das schönste Gut. Der menschliche Wille bei Nemesius von Emesa und Gregor von Nyssa.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 220 S. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 88. Geb. Euro 39,90. ISBN 3-525-55196-7.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

Im Zusammenhang der jüngsten Diskussion um die menschliche Willensfreiheit ist auch die Geschichte dieses Konzeptes wiederum in den Blick gerückt. Dabei kommt der Theologiegeschichte eine besondere Rolle zu, denn es sind theologische Fragen gewesen, die diese Diskussion lange Zeit angetrieben haben. Als besondere Pointe enthält diese Geschichte ein Korrektiv gegenüber der vereinfachten Genealogie westlichen Denkens, die seit Augustin kaum mit ernsthaftem Einfluss östlicher Theologen rechnet. Kein Geringerer als Thomas von Aquin nämlich griff in seiner einflussreichen Exposition dieser Thematik maßgeblich auf Johannes von Damaskus und ­ wie er meinte ­ Gregor von Nyssa zurück. Tatsächlich handelt es sich bei dem von ihm gebrauchten Werk um die Schrift De natura hominis eines ansonsten unbekannten Autors, Nemesius von Emesa. Die Verwechslung der beiden Autoren hängt damit zusammen, dass auch Gregor maßgeblich zu einer theologischen Anthropologie beigetragen hat ­ lange Zeit war die einschlägige Schrift De hominis opificio das einzige im Westen bekannte Werk des Nysseners.

Nachdem sich so die Pfade der beiden Theologen im 13. Jh. gewissermaßen virtuell schon einmal gekreuzt haben, ist man gespannt auf das Ergebnis eines erneuten Zusammentreffens beider unter derselben Fragestellung in der hier anzuzeigenden Schrift, einer leicht überarbeiteten Mainzer Dissertation. Der Vf. geht von der bekannten Tatsache aus, dass Pelagius und seine Anhänger nach 410 freundliche Aufnahme im Osten fanden. Offenbar leuchtete die augustinische Kritik der griechischen Kirche nicht so recht ein. Warum war das so? Der Vf. weist darauf hin, dass Pelagius mit einem psychologischen Schema arbeitete, in dem das Wollen weitgehend in die Macht des Menschen gegeben war (15). Insofern mutmaßt er, dass eine Studie der »Lehre des menschlichen Willens« bei exemplarischen östlichen Theologen für die Klärung jener Sympathien einschlägig sein könnte (16).

Hier liegt freilich eine Zweideutigkeit vor, die weit reichende Konsequenzen hat. Denn viele antike Autoren erörtern die Frage der Willensfreiheit ohne einen eigentlichen Begriff des Willens. Andererseits sind es gerade einige Kirchenväter, bei denen sich ein Willensbegriff zum ersten Mal herausbildet. Faktisch untersucht die Arbeit des Vf.s Konzeptionen von Willens- und Entscheidungsfreiheit und nicht die Entstehung eines Willensbegriffs. Zahlreiche Einzelformulierungen und Überschriften wie »Der Wille des Menschen in De natura hominis« (39) suggerieren jedoch immer wieder, es gehe ihr um Letzteres. Diese vom Vf. nicht reflektierte Ambivalenz führt zu teilweise eklatanten Widersprüchen im Text. So wird im gerade genannten Kapitel zunächst (zu Recht) festgestellt, dass Nemesius »den menschlichen Willen nicht als ein eigenes Vermögen versteht«, ja, dass er »keinen Willensbegriff hat«. Unmittelbar im An schluss wird hingegen behauptet: »Kapitel 29­34 und 39­41 zielen auf eine Bestimmung des menschlichen Willens« (alles: 39).

Sieht man von dieser thematischen Unschärfe ab, ist der Nemesiusteil der Untersuchung (18­121) durchaus lesenswert und verdienstvoll. Die Arbeit ist textbezogen, arbeitet die psychologischen Grundlagen der Handlungstheorie und Ethik des Nemesius gut heraus und beachtet sogar Fragen wie die, welche Aristoteleskommentare Nemesius benutzt haben könnte (47­53).

Gleiches kann man von dem Abschnitt zu Gregor (122­182) leider nicht sagen. Der Vf. bemerkt selbst, das »Schwergewicht dieser Arbeit« liege auf Nemesius (12). Aber der Kontrast zwischen beiden Hauptteilen ist mit der Bemerkung, Gregor sei »knapper« behandelt, nur unzureichend beschrieben; irgendwie wirkt der Abschnitt eilig hingeschrieben. Dabei wäre die Darstellung der Willensproblematik bei Gregor (gleich, in welcher der genannten Bedeutungen) wohl die schwierigere Aufgabe, allein schon auf Grund der differenzierten Forschungssituation, aber auch angesichts der vom Vf. benannten Tatsache (124 f.), dass das Thema im gesamten ‘uvre Gregors eine wichtige Rolle spielt. So wirkt hier vieles unfertig und wenig strukturiert. Über weite Strecken werden Fragen und Positionen angesprochen, ohne irgendwie zufriedenstellend diskutiert worden zu sein. Dennoch finden sich interessante und originelle Beobachtungen, z. B. über Gregors Diskussion der Willensthematik in seiner Auslegung des Vaterunsers (158­160).

Der Wert der Arbeit besteht in erster Linie darin, dass sie auf Existenz und Relevanz der anthropologischen Schrift des Ne mesius energisch aufmerksam macht. Die Schwierigkeit einer Einordnung dieser Schrift in den Kontext der theologischen Literatur des 4. Jh.s wird durch sie allerdings weniger beseitigt als vielmehr verdeutlicht.