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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1195–1197

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Müller, Helmut A. [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Kosmologie. Fragen nach Evolution und Eschatologie der Welt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. VI, 209 S. m. Abb. gr.8° = Religion, Theologie und Naturwissenschaft. Religion, Theology, and Natural Science, 2. Geb. Euro 34,90. ISBN 3-525-56973-4.

Rezensent:

Heinrich Bedford-Strohm

Das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft hat neuerdings wieder verstärkt Eingang in die öffentlichen Debatten gefunden. Unter dem Stichwort »intelligent design« wird auch hierzulande eine aus den USA stammende Denkrichtung diskutiert, die als moderate Form des Kreationismus gesehen werden kann. Wie im Kreationismus wird dabei der fragwürdige Versuch gemacht, die Gültigkeit naturwissenschaftlicher Aussagen unter normative theologische Prämissen zu stellen. Dass eine solche Missachtung der Eigenständigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisbildung kein gangbarer Weg im Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften sein kann, ist die gemeinsame wissenschaftstheoretische Ausgangsbasis des von Helmut Müller herausgegebenen Buches, in dem sich Beiträge aus Physik, Philosophie und Theologie mit Entstehung und Deutung des Kosmos beschäftigen. Alle Beiträge sind sich ­ wie Müller schon in seinem Vorwort (2) feststellt ­ darin einig, dass Gott nicht in den Lücken zu suchen und zu finden ist, die die naturwissenschaftlichen Welterklärungsmodelle offen lassen.

Die »Alphabetisierung« im Hinblick auf die Beschreibung der Entwicklung des Kosmos durch die Physik, die sich in mehreren Beiträgen findet, vermag nicht in jedem Falle die komplexe Welt der Astro-Physik wirklich aufzuschließen ­ was etwa mit dem »Spezialfall des homogenen und isotropen Friedmann-Universums mit verschwindender kosmologischer Konstante« (161) gemeint ist, wird für den Laien erst im Laufe der Lektüre des gesamten Buches annäherungsweise deutlich. In vielen Fällen eröffnen sich aber auch für den Laien faszinierende Einblicke in die naturwissenschaftlich beschreibbaren Vorgänge der Entstehung des Universums. Susanne Hüttemeisters Beitrag zum Aufbau des Kosmos stellt nicht zuletzt anhand neuester Photographien entfernter Sternensysteme den Stand der Forschung vor. Dabei werden auch die dem menschlichen Fassungsvermögen kaum zugänglichen Dimensionen von Zeit und Raum benannt. Bei einer Lichtgeschwindigkeit von 300000 km pro Sekunde ist die Ausdehnung der größten bekannten Strukturen des Weltalls, nämlich großer Haufen von Galaxien, von etwa 100 Millionen Lichtjahren nur noch in Zahlen erfassbar, nicht aber mehr den Sinnen vorstellbar. Dass bei der Beschreibung der Geschichte des Universums als hierarchischer Strukturbildung Fragen im Spiel sind, die auch die Theologie berühren, wird deutlich, wenn Hüttemeister daraus die Folgerung zieht: »Wir sind, ganz wörtlich und konkret, Sternenstaub« (17). Die Frage aus Psalm 8 kommt einem beim Lesen in den Sinn: »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?« und die Antwort, die dem Menschen bescheinigt, »nur wenig niedriger« gemacht zu sein als Gott. Hüttemeister ist sich der Werthaltigkeit von Weltdeutung bewusst: »Ob wir freilich dem Universum einen Sinngehalt zubilligen wollen oder nicht, bleibt eine Glaubensentscheidung für jeden einzelnen, über deren Ausgang naturwissenschaftliche, auch astronomische oder kosmologische, Erkenntnis nicht befinden kann« (23).

Auch die anderen Beiträge aus naturwissenschaftlicher Sicht zeigen ihre Qualität darin, dass sie sich jeder Totalisierung der naturwissenschaftlichen Perspektive enthalten. Der Gießener Philosoph Bernulf Kanitscheider etwa spannt den Horizont naturwissenschaftlicher Welterklärungsmöglichkeiten so weit wie irgend möglich. Auf dem Hintergrund seiner schon in früheren Forschungen entwickelten Aufteilung der Kosmologie in vier Epochen (mythische Ära, rationale metaphysische Ära, astronomisch-empirische Ära und nomologische Epoche) zeigt er anhand mehrerer mess-empirischer Bestätigungen von vorher theoretisch entwickelten Annahmen die Leistungsfähigkeit des Urknall-Modells, gleichzeitig aber auch seine Grenzen. Der Urknall ­ so Kanitscheider ­ war überhaupt kein Knall, sondern bedeutet lediglich die Gültigkeitsgrenze für die Anwendbarkeit der heutigen Physik. Alle theoretischen Modelle, die beabsichtigen, das Universum im Ganzen abzubilden, machen »nur in einem kleinen Unterbereich, dem beobachtbaren Universum, empirisch prüfbare Aussagen«. Da fast alle Modelle Sichtbarkeitsgrenzen besitzen, »ist die empirische Astrophysik immer auf dieses Teilgebiet beschränkt« (159). Kanitscheider sympathisiert zwar mit der schon von Einstein inspirierten Idee einer Supertheorie, die eine umfassende Antwort auf die Frage gibt, »warum das Universum so und nicht anders ist« (167), ist sich als Philosoph aber gleichzeitig der Tatsache bewusst, »dass, selbst wenn die stärkste denkbare Theorie Erfolg hätte, eine Rest-Kontingenz in der kosmologischen Beschreibung übrig bleiben würde« (168).

Die theologischen Beiträge widmen sich in der je eigenen Weise der Frage, wie die Rede von Gott als dem Schöpfer mit den naturwissenschaftlichen Beschreibungen des Kosmos ins Verhältnis zu setzen ist. Wolfhart Pannenberg betont dabei die Notwendigkeit, in der Theologie heute ebenso von der heutigen Welterkenntnis Gebrauch zu machen, wie die biblischen Texte es zu ihrer Zeit mit den je damals herrschenden Weltvorstellungen tun. Einerseits warnt Pannenberg davor, von der Urknall-Theorie als dem gegenwärtigen Standardmodell physikalischer Kosmologie einen apologetischen Gebrauch zu machen. Andererseits betont er die Konvergenz des Urknall-Modells mit der christlichen Schöpfungslehre (198). Und auch sein eigener, aus vielen anderen Veröffentlichungen schon bekannter Versuch, das schöpferische Wirken des göttlichen Geistes mit dem Feldbegriff der modernen Physik zu parallelisieren (206 f.), ohne sich dabei auf eine metaphorische Parallelisierung beschränken zu wollen, vermag nicht den Eindruck einer gewissen Apologetik zu vermeiden, gegen die sich Pannenberg ja eigentlich ausspricht.

Einen ähnlichen Eindruck hinterlässt letztlich auch Ulrich Lükes Versuch, die creatio continua zur creatio ex nihilo so in Beziehung zu setzen, dass sie als mehr erscheint als »die Wahrnehmung eines Nachbesserungsauftrages, den der große Konstrukteur, der Schöpfer aus dem Nichts, sich selbst erteilt« (40f.). Seine ohne Zweifel clevere Lösung besteht in der Nutzbarmachung der durch die Zerteilung in Zeitquanten bedingten Unmöglichkeit eines physikalischen Gegenwartsbegriffs für die Theologie. »Strenge Gegenwart« als der »Ort der prinzipiellen Nichtzuständigkeit und Nichterreichbarkeit für Naturwissenschaft« (46) lässt sich für ihn im Sinne einer Einheit von creatio originalis und creatio continua beschreiben (50). Dieser Gedanke reizt zum Weiterdenken und könnte sinnvoll auf die in der Schöpfungstheologie ­ etwa bei Christian Link ­ fruchtbar gemachte Unterscheidung zwischen adventus und futurum bezogen werden. Dennoch: Macht sich die Theologie hier nicht allzu sehr abhängig von physikalischer Theoriebildung?Gegenüber einer allzu schnellen Indienstnahme der Physik durch die Theologie macht der Physiker Jürgen Audretsch deutlich, dass von der physikalischen Kosmologie keine theologische Botschaft ausgeht: »Die Gleichnisfähigkeit der Kosmologie ist gering« (194). Er macht der Theologie Mut zur Plausibilisierung ihrer Aussagen, und zwar so, dass klar ist, »ob die beim Gegenüber naiverweise mitschwingenden physikalisch-kosmologischen Assoziationen zugelassen sind oder nicht« (195).

Die Lektüre der hier nur exemplarisch referierten Aufsätze verlangt dem nicht fachlich vorgebildeten Leser, insbesondere bei den physikalisch-kosmologischen Beiträgen, einiges ab. Aber die Anstrengung lohnt sich. Nicht nur im Hinblick auf den neuesten Stand physikalischer Welterklärung, sondern auch im Hinblick auf die Herausforderungen, die sich daraus für die Theologie ergeben, bringt sie wichtige Einsichten. Und: für die Theologie jede Menge Hausaufgaben.