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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1172–1174

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Hauschild, Wolf-Dieter:

Titel/Untertitel:

Konfliktgemeinschaft Kirche. Aufsätze zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 426 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 40. Geb. Euro 69,00. ISBN 3-525-55740-X.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

Die Verzögerung der ursprünglich für 2001 vorgesehenen Veröffentlichung ist dem Band zugute gekommen. Der Vf. konnte die Erstdrucke überarbeiten und den einleitenden Beitrag »Grundprobleme der Zeitgeschichte« hinzufügen. Weit ausholend spürt er der Vorgeschichte der theologischen Teildisziplin nach, erörtert unterschiedliche Ansätze und grundsätzliche Aspekte, zeichnet die bisherige Entwicklung nach (»Von der Kirchenkampfforschung zur Kirchlichen Zeitgeschichte«) und weist schließlich auf bedeutsame Defizite hin (u. a. bei Ressourcen an den theologischen Fakultäten). Diesem Hauptbeitrag des 1. Teiles »Allgemeines« werden vier weitere an die Seite gestellt. Voran steht »Ordnung und Veränderung. Die evangelische Kirche und die politisch-gesellschaftliche Ordnung« (1979). In klarer Sprache wird der kritische Beitrag der Kirche (Leitbegriff »politische Diakonie«) anhand der Diskussion um die Grundwerte aufgewiesen. Vom gleichen Leitbegriff aus wird im Beitrag »Volkskirche und Bekenntniskirche. Ekklesiologische Probleme einer säkularisiert-christlichen Volksreligiosität« (1979) als Aufgabe der Kirche beschrieben, die vorhandene Religiosität als eine christliche bewusst zu machen, zu stabilisieren und evtl. zu korrigieren. Eine Ergänzung hierzu bietet die geschichtliche Skizze der Modelle von Volkskirche unter der Überschrift »Volkskirche und Demokratie. Evangelisches Kirchenverständnis und demokratisches Prinzip im 20. Jahrhundert« (1979). Abgeschlossen wird der 1. Teil mit dem überarbeiteten Vortrag »Die evangelische Kirche und das Problem der deutschen Schuld nach 1945« (1989). Der Vf. macht auf die belastete Vorgeschichte aufmerksam (fehlender Beitrag der Kirche zur Klärung und Bearbeitung der deutschen Schuld nach 1918, 1933­1945 in wichtigen Komplexen als Institution involviert), geht auf die frühen Bemühungen (Hans Asmussen 1942) und die divergierenden Intentionen um eine Schulderklärung ein und sieht im Blick auf die Adressaten (Ökumene) den »eigentliche[n] Zweck der Stuttgarter Erklärung voll erfüllt« (135).

Der 2. Teil enthält fünf Beiträge zur Barmer Theologischen Erklärung (BTE): »Zur Erforschung der Theologischen Erklärung von 1934« (Literaturbericht 1989); »Die Bekenntnissynode von Barmen 1934« (Vortrag Kiel 1984); »Kirche als Wort Gottes: Die Barmer Theologische Erklärung als lutherisches Bekenntnis« (Vortrag Tutzing 1984); »Die Entstehung der 4. These der Barmer Theologischen Erklärung und ihr historischer Kontext« (Vortrag 1997 Berlin); »Die Barmer Theologische Erklärung als Bekenntnis der Kirche? Der 'Lutherrat' und die Konstituierung der Evangelischen Kirche in Deutschland« (Vorträge 1983/84). Bereits der erste Beitrag referiert die wichtigsten Einsichten und die Abwehr der »gängige[n] Umstilisierung des Textes zu einer zeitlosen Urkunde evangelischer Wahrheiten« (142): Die Synode selbst ist der 'Autor' der BTE; die Unterschätzung des Anteils lutherischer Theologen an der Entstehung; die BTE steht von vornherein in einem kirchenpolitischen Kontext; die Redaktionsgeschichte ist geklärt; der von Anfang an umstrittene Text bekam seine Eindeutigkeit »nur aus der klaren gemeinsamen Frontstellung gegen die deutschchristlichen Irrlehren und Unrechtsmaßnahmen« (153); »der eigentliche Aussagesinn der BTE als ganzer ist ein ekklesiologischer«, nämlich Grund, Wesen und Auftrag der Kirche (162); »Eine vollständige Staatslehre ist in BTE V ebensowenig impliziert wie eine allseits befriedigende Äußerung zu den damaligen politischen Problemen« (174). Die weiteren Beiträge unterstreichen, erläutern und ergänzen diese Einsichten ausführlich. Mit dem letzten Beitrag (u. a. Kernproblem des ungeklärten Verhältnisses von tradierter Bekenntnisschrift und aktuellem Bekennen) wird der Bogen geschlagen zum anschließenden Teil.

Der 3. Teil vereint vier Beiträge zur EKD und VELKD von 1945 bis 1948. Im Vortrag von 1985 »Die historische Bedeutung der Kirchenversammlung von Treysa 1945« zeichnet der Vf. die spannungsvolle Geschichte der Voraussetzungen und des Beginns der EKD mit Treysa I nach. Er weist darauf hin, dass bereits das Ergebnis dieser Versammlung das Konstitutionsproblem der EKD enthalte, mehr zu sein, als sie von der Rechtsgestalt her sein durfte, und damit einen dauerhaften Richtungsstreit zwischen Verfechtern der Einheit und Vertretern der Partikulargewalten um Wesen und Auftrag der Kirche einleitete, d. h. den Beginn der EKD als Konfliktgemeinschaft ­ bei allen vorhandenen Gegensätzen (315: »Gegen die besonnenen Kirchenführer traten schon 1945 die Propheten an, für die alles einfach klar war.«). Schließlich zwang die Lage zu gemeinsamem Handeln, »so daß in Treysa die Stunde der Vermittler schlug« (316). Gemeint sind vor allem »die beiden Genies der Vermittlung und Menschenführung«, Theophil Wurm und Friedrich von Bodelschwingh, die »als die eigentlichen Väter der EKD gelten können« (315). In der folgenden Darstellung »Der Rat der EKD als Vertretung des deutschen Protestantismus in der Nachkriegszeit« (Editionseinleitung 1995) wird die konfliktreiche Entstehung der EKD nach der institutionellen und personellen Seite hin (vor allem Hans Asmussen, Martin Niemöller, Otto Dibelius, Hans Meiser) eindrücklich vor Augen gestellt. Von den beiden letzten Beiträgen, »Konfessionelles Selbstbewußtsein und kirchliche Identitätsangst: Zur Gründung der VELKD im Jahre 1948« (Vortrag 1988) und »Vom 'Lutherrat' zur Vereinigten Lutherischen Kirche« (Festschriftbeitrag 1995), deutet bereits die erste Überschrift die Fortsetzung der Konfliktgeschichte mit anderer Akzentuierung an. Bei kräftiger Kritik an der defensiven Einstellung der VELKD zur Bekenntnisfrage verkennt der Vf. nicht, dass es schon bei der Etablierung des Lutherrats letztlich »nicht um Demonstration einer konfessionalistischen Trotzhaltung, sondern um Bewältigung lebenswichtiger Aufgaben ging« (381). Die neue Strukturdiskussion in den kirchlichen Zusammenschlüssen seit 2002, die vor allem durch die schwindende Finanzkraft bestimmt ist, ist für ihn zugleich ein Zeichen für ein gewachsenes »konfessionelles Selbstbewußtsein ..., das es nicht mehr nötig hat, einen Kampf um die institutionellen Konkretionen zu führen« (393).

Der Leser wird kundig und quellennah in die institutionelle Seite der jüngsten deutschen Kirchengeschichte eingeführt. Forschungsdefizite werden markiert (z. B. 323: »die chaotische Quellenlage« hinsichtlich Treysa I). Die spannungsvolle Entwicklung wird in deutlichen Konturen in einer klaren Sprache aufgezeigt, die auch auf Wertungen nicht verzichtet (z. B. 211: »Barmen-Scholastiker«; 377: Meiser und Niemöller als »begabte Organisatoren, begabte Prediger, kluge Kirchenpolitiker, aber mittelmäßige Theologen«; 379: die lutherische Position »mit ihrer notorischen Unionsphobie«). Der einprägsame Titel bezieht sich auf die Phase der Konstituierung der EKD, erinnert aber zugleich an einen generellen Aspekt der Kirchengeschichte. Den Herausgebern und dem Vf. ist für den gewichtigen Band der Reihe zu danken.