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Ausgabe:

November/2006

Spalte:

1146–1150

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Caragounis, Chrys C.:

Titel/Untertitel:

The Development of Greek and the New Testament. Morphology, Syntax, Phonology, and Textual Transmission.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XX, 732 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 167. Lw. Euro 129,00. ISBN 3-16-148290-5.

Rezensent:

Evangelia G. Dafni

Der Hellene Chrys C. Caragounis, Inhaber einer Professur für Neutestamentliche Exegese an der Universität Lund in Schweden, der bereits namhafte neutestamentliche Abhandlungen veröffentlicht hat, bietet uns in diesem umfangreichen Band, der m. E. die schöpferische Leistung seines bisherigen wissenschaftlichen Lebens katexochen darstellt, einen holistischen und historisch wohl begründeten Zugang zu der Sprache der Hellenen. Er hebt ihre Einheit und ununterbrochene mündliche und schriftliche Tradierung von der Mykenischen Linear B bis zur Neuhellenischen Koine (Katharevousa and Demotiki) hervor, mit dem Ziel, ihre ausgesprochen große Wichtigkeit für die Neutestamentliche Exegese und Hermeneutik für Nicht-Muttersprachler plausibel zu machen. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung steht die Tatsache, dass die hellenische (Griechische) Sprache als ein lebendiger Organismus, der quantitativ aufwächst und sich qualitativ entwickelt, eine der drei ältesten schriftlich überlieferten indoeuropäischen Sprachen (Sanskrit, Hellenisch und Hettitisch) ist und die älteste heute noch gesprochene europäische Sprache darstellt. Obwohl sie keine Tochtersprachen geboren hat, kann sie eine lückenlose schriftliche Dokumentierung von über 3500 Jahren nachweisen. In ihrer analogielosen historischen Laufbahn hat sie zwar Wandlungen erfahren, die aber nur aus dieser Sprache selbst und ihren kompetenten Sprechern heraus und nicht aus dem Vergleich mit dem grammatischen, syntaktischen und semantischen Sprachwandel anderer jüngerer romanischer, germanischer oder gar semitischer Sprachen zu erschließen sind.

Seine Untersuchung verläuft entlang zweierlei Fäden, d. i. Diachronie und Akustik (bzw. Phonetik), und will der Rehabilitation der Sprache der Hellenen dienen, die seit ihrer von Desiderius Erasmus 1528 eingeführten künstlichen Aussprache, die weder epigraphisch noch papyrologisch eine Stütze findet und dabei das hellenische, erlesene Sprachgefühl tief verletzt, geplagt wird. Denn die Einführung dieser künstlichen Aussprache geht von einem logischen Fehlschluss aus, nämlich dass die Sprache der Hellenen, die zugleich die Sprache des Neuen Testaments ist, eine tote Sprache sei. Man glaubt seither, dass zwischen ihr und dem Neugriechischen die allertiefste Kluft bestehe, die weder die nachklassische noch die byzantinische, noch die metabyzantinische und neuhellenische Literatur zu überbrücken vermögen. Daher wurde die Sprache des Neuen Testaments ­ und der Meinung der Rezensentin nach ebenso die Sprache der Septuaginta ­ isoliert betrachtet, als ob sie zwei Fremdkörper im gesamten lebendigen Organismus der Sprache der Hellenen wären. Und da es angeblich keine kompetenten Muttersprachler (native speaker) gäbe, um sie zu befragen, dürfte man in der Abgeschiedenheit dieser von Erasmus künstlich gefertigten Idylle Phantasiegebilde auch in Bezug auf die Aussprache durchsetzen. Wie C. in seinem ganzen Werk zeigt, ist die Aussprache des Griechischen bzw. der Sprache der Hellenen nicht bloß eine Sache der variierenden Betonung eines Wortes und der Sprachmelodie, sondern sie beeinflusst entscheidend die Wortbedeutung, die Einzelformulierungen und die Textkommunikation. Auf sie gehen sowohl unzählige Textvarianten in der handschriftlichen Überlieferung als auch Miss- und Fehldeutungen des Neuen Testaments von größtem Ausmaß zurück.

Bemerkenswert ist, dass nur in vergangenen Zeiten die sprachliche Inkompetenz in den Bibelwissenschaften den beruflichen Einstieg behindert hat. Heutzutage scheint dieses Hindernis aus dem Weg geräumt zu sein, da immer mehr Neutestamentler kaum oder bloß mangelhafte Griechischkenntnisse nachweisen können. Den fragenden Blicken will man sich anscheinend dadurch entziehen, dass man eifrig über Themen publiziert, die über den Text des Neuen Testaments hinausgehen. Dieselbe Kakodämonie hat im letzten Jahrzehnt leider auch die ansonsten blühenden Septuaginta-Studien befallen.

Das hier zu besprechende Werk von C. gliedert sich in drei Teile: der erste Teil (Kapitel 1­2 [17­92]: Evolution and relevance), der zweite Teil (Kapitel 3­5 [93­336]: Developments in Morphology and Syntax), der dritte Teil (Kapitel 6­8 [337­564]: Pronunciation, Communication and Textual Transmission). Abgerundet wird es mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsergebnisse, eingeteilt nach Einzelkapiteln (565­582). Daran schließt sich ein ausführlicher bibliographischer Katalog (583­732) mit Abkürzungsverzeichnis (583­587) an. Der Sekundärliteratur (618­642) vorangestellt werden Namen und Werke von hellenischen Autoren aus allen Sprachperioden (590­641), auf die C. in sinnvoller Weise Bezug genommen hat. Es folgen Indizes von Autoren (643­650), Bibelstellen (651­669), Editionen und Übersetzungen des Neuen Testaments (670 f.), hellenischen Texten (672­709), Namen und Themen (710­732).Kapitel 1 wendet sich der Einheit der hellenischen Sprache in all ihren Entwicklungsphasen zu, von der mykenischen Zeit bis heute, und betont ihre Relevanz für die neutestamentlichen Studien. Eine tiefgreifende, wertende Darstellung der wichtigsten Momente in der Geschichte der Sprache der Hellenen wird vorgenommen, aus der auch die Stimmen der größten hellenischen Sprachwissenschaftler und Philologen Hatzidakis und Giannaris herauszuhören sind, denen das Werk auch gewidmet ist ­ sowohl im Original als auch in der von C. erstellten englischen Übersetzung. Mit diesen Wissenschaftlern sind die älteren Generationen westeuropäischer klassischer Philologen, die der Sprache der Hellenen in all ihren geschichtlichen Phasen mächtig waren, in ein direktes Gespräch gekommen. In den reichlichen Fußnoten dieses Kapitels sowie der darauf folgenden kann der interessierte Leser Sprachbeispiele aus allen Sprachepochen finden, die die Natur, den Grad und das Ausmaß von tatsächlichen Sprachwandlungen sinnvoll zum Ausdruck bringen. Die betreffenden Beispiele dürften zwar für Hellenen bereits geläufig sein, weil sie doch zum hellenischen kulturell-geistigen Bildungsideal gehören, aber für Nicht-Muttersprachler dürften sie eine angenehme Überraschung von unschätzbarem wissenschaftlichen Wert sein. Auf Grund des Zeugnisses, das die modernen Sprach- und Literaturwissenschaften ablegen, wird hier darauf aufmerksam gemacht, dass das Attische und im Allgemeinen das Hellenische seinen Höhepunkt in der Entwicklung der Morphologie und Syntax in der Zeit zwischen Alexander dem Großen und Justinian (335 v. Chr.­565 n. Chr.) erreicht hat. Die wichtigsten Merkmale des Neuhellenischen wurden in dieser Zeit herausgebildet. Das Neue Testament wurde ebenso in dieser Periode schriftlich fixiert. Daher teilt es die gleichen Grundmerkmale mit dem Neuhellenischen.

Kapitel 2: In kritischer Auseinandersetzung mit dem von Karl Krumbacher (1903) erhobenen Skeptizismus, der die Möglichkeit, das Neu- mit dem Althellenischen in Verbindung zu setzen, in Frage stellte mit der Begründung, dass sie, wie es in anderen Sprachen genau der Fall sei, enorme Unterschiede im Vergleich zu ihrer naheliegenden Vergangenheit aufweisen, betont C., dass Krumbacher zwar der Logik folgte, aber nicht den historischen und spezifisch hellenischen kulturellen Fakten. Daher stellt C. auf Grund von unzähligen Beispielen Folgendes klar: a) Das Hellenische kann und muss nicht auf der Basis der Entwicklungen in der deutschen und englischen Sprache verstanden und gewürdigt werden. b) Das Neuhellenische ist der Schatzmeister des alten Spracherbes. Um sein komplexes Verhältnis zum Althellenischen zu verstehen, darf man über die byzantinische literarische Produktion und die Klassische Bildung der byzantinischen Autoren nicht hinwegschauen und die unleugbare Tatsache unterschätzen, dass im Neuhellenischen antikes Gedankengut sowie antike Denkweise weiterleben und sich frei entfalten können. Diese Fakten drücken sich klar und deutlich auch in der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments aus, können aber nur durch das vom Neuhellenischen geschärfte Auge richtig erkannt und angemessen gewürdigt werden.

Kapitel 3 behandelt den Übergang vom Attischen zum Hellenischen im Hinblick auf die Morphologie mit besonderer Berücksichtigung des Neuen Testaments. Es wird darauf hingewiesen, dass die Morphologie vom Attischen bis zum Neuhellenischen unzählige Änderungen erfahren hat. Vorgenommen wird hierbei eine Revision der bisherigen Würdigung der sogenannten Attizistischen Bewegung und deren Verhältnis zum Neuen Testament auf Grund vergleichender Wortstatistik von attizistischen (vor allem Phrynichos und Moiris), neutestamentlichen und neuhellenischen Schriften.

Kapitel 4 handelt von den grammatischen und syntaktischen Wandlungen des Hellenischen in der Übergangsphase zwischen Alexander dem Großen und Justinian, die im Neuen Testament, und zwar in einer beträchtlichen Anzahl von umstrittenen Texten wiederzuerkennen sind. 13 Bereiche der grammatischen und syntaktischen Abwandlungen (d. i. Kasus, Pronomen, Verb, Tempora, Modi, Infinitiv, Partizip, subordinierte Sätze, Fragesätze, Präpositionen, Konjunktionen, Partikel sowie negative Partikel) werden hier unter exemplarischer Heranziehung textlicher Evidenz in adäquater Ausführlichkeit behandelt. Es wird betont, dass nachneutestamentliche Texte das Vorhandensein von lexikalischen und syntaktischen Neologismen bezeugen, die aber unter dem Einfluss des Standard- sowie des semitisierenden Septuaginta-Hellenischen standen. Ihre wiederholte Aufnahme in der byzantinischen und neuhellenischen Literatur zeigt, wie embryonale syntaktische Phänomene im Neuen Testament von den späteren Generationen verstanden und erklärt werden können.

Im 5. Kapitel wird die Diskussion fortgesetzt und die Bedeutung der grammatischen und syntaktischen Entwicklungen für die Neutestamentliche Exegese hervorgehoben. Herangezogen werden nun konkrete, theologisch strittige Beispielfälle aus dem Neuen Testament wie z. B. Joh 15 (neuhellenisches Zeugnis über vorneutestamentliche Änderungen), Joh 21,5 (neuhellenische Evidenz von mündlich überlieferten Formen), 1Kor 7,21 (die Grenzen der Grammatik) oder 7,36­38 (diachrone Wortdeutung), Matth 12,28 (C. H. Dodds Dogma von der realisierten Eschatologie) usw. Damit soll aufgezeigt werden, wie strittige neutestamentliche Topoi mit Hilfe der späteren sprachlichen Evidenz eine logische und einleuchtende Erklärung finden können.

Die eigentliche Kritik an der von Erasmus eingeführten und weiterhin propagierten Aussprache wird in den drei Kapiteln des dritten Teils der Untersuchung geübt. Im 6. Kapitel wird erläutert: a) worin genau Erasmus einen Fehlgriff begangen hat, b) welche historischen Zusammenhänge zur Durchsetzung und Konservierung seiner künstlichen Aussprache des Althellenischen geführt haben und c) welche Kriterien bereits vom Beginn des 6. Jh.s v. Chr. bis zum heutigen Tage die hellenische Aussprache bestimmen. Auf Grund von papyrologischem und epigraphischem Vergleichsmaterial wird gezeigt, dass keinerlei wissenschaftliche Gründe zur Aufrechterhaltung dieser Aussprache beigetragen haben, sondern eigentlich nur die Tatsache, dass »Hellas was no longer a sovereign state, able to uphold the interests of its language and its literary and artistic treasures. The various states of Europe were of the opinion that Hellas had ceased to exist, and thus looked upon themselves as the legitimate heirs to the legacy of Greece ... European neo-classicists declared Greek a dead language, and proceeded to sever it altogether from those who still used it as their mother tongue« (575).

Kapitel 7 widmet sich der Akustik im Verhältnis zur Textkommunikation. Hier werden Probleme des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit und des Verhältnisses zwischen literarischen Kompositionen und Akustik besprochen, und zwar auf der Basis des in der Antike wohlbezeugten Laut-Vorlesens (Rezitation) von geschriebenen Texten und der stilistischen Grundvoraussetzungen und Regeln, die nach Dionysios Halikarnasseus (1. Jh. v. Chr. ­ 1. Jh. n. Chr.) literarische Kompositionen charakterisieren sollen. Als solche werden hier z. B. Frische, Charme, Euphonie, Dignität, Melodie, Rhythmus, Varietät, Angemessenheit separat erläutert. Auf Grund dieser Grundvoraussetzungen und Regeln, die dem Neuen Testament vorgegeben sind, ist es uns nun möglich, neutestamentliche Wortspiele und rhetorische Schemata wiederzuerkennen und ihre Funktion in literarischen Kompositionen, wie die sogenannte Diatribe bei Paulus, entsprechend zu würdigen.

Kapitel 8 handelt von den Auswirkungen der historischen griechischen Aussprache in der handschriftlichen Überlieferung des Textes des Neuen Testaments. Prinzipien und Kriterien in der jüngsten Methodendiskussion in Bezug auf die 26. und 27. kritische Ausgabe von Kurt Aland werden unter die Lupe genommen und aus der Sicht der bisher nicht ernst genommenen papyrologischen und epigraphischen Evidenz kritisch geprüft. Untersucht werden a) orthographische Fehler akustischer Natur, die I-, E- und O-Laute betreffen, und b) die Vertauschbarkeit zwischen i) H und Y, ii) H und I, iii) I, EI und H, iv) Y,I und H, v) I und OI, sowie vi) O-Omikron und O-Omega in Varianten ähnlicher Schreibweise, aber identischer Aussprache. Das Kapitel wird mit einer exemplarischen textkritischen, grammatischen und strukturalen Analyse von 1Kor 13,3 abgeschlossen, aus der sich klar und deutlich ergibt, dass dem Textverständnis weder semiotische noch andere Konzepte der Textauslegung behilflich sein können, wenn der Exeget die Sprache des Textes nicht bzw. nicht richtig beherrscht. So betont C. mit unmissverständlicher Deutlichkeit: »Whether we like it or not, this is the way in which the language functions. It is rather a question of whether we are willing to take the way in which the language functions seriously and allow it to guide our exegesis, or are determined to bend the language and make it say what we want it to say« (264).

Nicht nur deswegen, weil im wirklich hellenischen (im Sinne von Isokrates) Herzen sich berechtigter Stolz auf überragende Forschungsleistungen regt, sondern weil diese Leistungen nur aus Liebe zur wissenschaftlichen Wahrheit erfolgt sind und Rückbesinnung auf altbewährtes wissenschaftliches Ethos bewirken können, wäre es sehr wünschenswert, dass das hier besprochene Werk von C. auch in deutscher Sprache als Studienausgabe bald erscheint.