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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1092–1095

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wenz, Armin:

Titel/Untertitel:

Sana Doctrina. Heilige Schrift und theologische Ethik.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2004. 368 S. 8° = Kontexte, 37. Kart. Euro 56,50. ISBN 3-631-53054-4.

Rezensent:

Reinhard Slenczka

Seit Jahrzehnten werden in Kirche und Theologie ethische Themen als Bekenntnisfragen proklamiert und ­ bisweilen unter Berufung auf einen »status confessionis« ­ in kirchlichen Erklärungen durchgesetzt. Das reicht, um in Deutschland zu bleiben, von der Atomrüstung über Friedensbewegungen, Antirassismus, Antisemitismus-Verdächtigungen, Frauenordination, Abtreibung bis hin zur Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Um diese und ähnliche Themen bilden sich tiefgreifende Trennungslinien, die auch in den Kirchen aufbrechen. Gemeinschaft unter Christen wird entweder stillschweigend durch »protestantische Verdrängung« (Heike Schmoll) oder auch förmlich aufgekündigt. Die entsprechenden Beispiele sind nicht richtungsspezifisch, wohl aber zeigen sie, wie Gemeinschaft zerbricht, wenn die verbindlichen und verbindenden Grundlagen einer an Schrift und Bekenntnis gebundenen Lehre fehlen. Bei den unter den beiden Themen »Heilige Schrift« und »Theologische Ethik« zusammengestellten Aufsätzen geht es um das, was innerhalb der Kirche trennt und verbindet. Der Vf. ist Pfarrer der »Selbständigen Evangelisch-lutherischen Kirche«, und daran zeigt sich, dass die in den Landeskirchen aufbrechenden Probleme, wenn auch mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, in den Freikirchen ebenso aufbrechen, wie sie eben von der gesellschaftlichen Basis, auf der wir alle existieren, ausgelöst werden.

Im ersten Teil erscheinen unter der Überschrift »Zur Autorität der Heiligen Schrift« sechs Aufsätze bzw. Vorträge. Sie gehen von einer Thesenreihe »Die Autorität der Heiligen Schrift nach den evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften« aus, in der der Vf. das Ergebnis seiner Erlanger Dissertation »Das Wort Gottes ­ Gericht und Rettung. Untersuchungen zur Autorität der Heiligen Schrift in Bekenntnis und Lehre der Kirche«, Göttingen 1996 (= FSÖTh 75), zusammenfasst. Die verbreitete Behauptung, in den lutherischen Bekenntnisschriften gebe es keine »Lehre von der Heiligen Schrift«, wird mit dem Nachweis widerlegt, dass nicht die Kirche die Schrift, sondern die Schrift als Wort Gottes die Kirche begründet: »Angesichts des endzeitlichen Gerichtes Gottes stellt in den Bekenntnisschriften die Schrift für die Begründung der Lehre und Praxis der Kirche die entscheidende Autorität dar« (21). Die Schrift besteht also nicht aus »Texten der Antike«, sondern der dreieinige Gott ist redendes und handelndes Subjekt in seinem Wort, das in der exklusiven Verbindung von Geist und Buchstabe, in Gesetz und Evangelium stets zweifach Gericht und Gnade, Verstehen und Verstockung für alle Zeit und jeden Menschen wirkt. Dazu gehört auch, dass Gott nicht ein Produkt geistesgeschichtlicher Entwicklung und Interpretation von »Gottesbildern«, »Gottesbegriffen« und »Theologien« ist, sondern Schöpfer der Welt und aller Menschen, Herr, Richter und Retter. Dass diese gesamtchristliche Einsicht heute oft einfach nicht mehr gewusst und dann aufs Heftigste als Fundamentalismus oder gar als »häretische Aufwertung des Buchstabens zum Heilsmittel« und »unreformatorischer Biblizismus« beschimpft wird, war auch in einer Rezension zu bemerken (ThLZ 122 [1997], 607­609). In einer anderen fand sich die Frage, »ob dieses hier eingeschlagene Verfahren nicht auch gefährlich ist Š vor allem auch dem jüdischen Schriftgebrauch gegenüber« (Lutherische Theologie und Kirche 20 [1996], 147). Doch Richtungsfragen sind zuerst immer Wissensfragen, über die man sich vor allem informieren sollte, bevor man nur herrschende Meinungen nachredet. Dazu kann auch dieses Buch helfen.

Dies beginnt mit der Einsicht, dass die Autorität der Schrift als Wort des dreieinigen Gottes sich vor allem im Konflikt der Autoritäten bemerkbar macht: »Der Autoritätenkonflikt vollzieht sich konkret in der Kirche als Konflikt zwischen der Schrift und der dieser Schrift nicht entsprechenden menschlichen Tradition« (26). Unter der Wirkung von Gesetz und Evangelium als Heilsgeschehen bezieht sich dies für die Ethik auf das Ringen zwischen neuem und altem Menschen als Folge aus der Taufe (Röm 6­8). Dieses, wenn man so will, sakramentale Verständnis des Wortes Gottes unterscheidet sich natürlich von vornherein und grundsätzlich von einer Theologie, die von der Aufgabe der historischen Vermittlung von antiken Texten im Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt ist und die dabei immer auf die Vermittlung nicht nur von Vergangenheit und Gegenwart, sondern vor allem auch von Kirche und Volk oder Gesellschaft ausgerichtet ist.

Welche Auswirkungen ein solcher Ansatz für den Dienst eines Pfarrers in der Gemeinde hat, zeigt der Vf. in einer ausführlichen »Bibelarbeit zur Frage: Wie können wir schriftgemäß Wahrheit feststellen?« ­ und die Antwort lautet: »Nur, indem wir uns selbst als Christen und als Kirche von der Schrift in Frage stellen lassen. Wir begegnen in der Schrift dem lebendigen Gott, der zu uns spricht Š« (33). In den umsichtigen Ausführungen finden sich viele bedenkenswerte Hinweise und Anregungen: Die Bibel ist nicht eine Sammlung von Lehrsätzen. »Das Missverständnis der Schrift als Gesetzessammlung und Sammlung theoretischer Lehrsätze ist daher keineswegs nur auf den Fundamentalismus beschränkt, sondern auch dort anzutreffen, wo die Schrift als Katalysator oder Motivationsquelle einer Gesinnungsgemeinschaft etwa für gesellschaftliche und innerkirchliche Ziele und Projekte funktionalisiert und so missbraucht wird« (34). ­ Die praktische Anwendung dieses »katholischen« (!) Schriftverständnisses zeigt sich in einer sorgfältigen Kritik an dem Ergebnis des »Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen« zur »Autorität der Heiligen Schrift«. Da ich selbst an diesem Projekt mitgearbeitet habe, dann jedoch wegen der höchst merkwürdigen Verfahrensweise, bei der die theologische Sachdiskussion durch öffentliche Zensurierung ersetzt wurde, ausgeschieden bin, kann ich dem Vf. nur bestätigen, dass er die Defizite, mit denen ein Scheinkonsens erzielt wurde, klar erkennt.

Dass moderne Bibelübersetzungen von erheblichen dogmatischen Problemen belastet sind, wird in »Kritischen Anmerkungen zur ðGuten NachrichtÐ 1997« gezeigt. ­ Hermann Sasse, dessen Überlegungen zur »Autorität der Heiligen Schrift« dargestellt werden, gehört wohl zu den Theologen, die eher etikettiert als gelesen werden, obwohl sie gerade für unsere Theologie und Kirche heute kenntnisreiche Einsichten bieten könnten.

Der sechste Beitrag zum Thema »Schriftautorität« leitet bereits zu den »Ethischen Verdeutlichungen« über: »Die Lehre von den Schöpfungsordnungen ­ ein überholtes Theologumenon?« Unter der Politisierung der Theologie nach 1945 ist der Begriff, aber damit auch die Sache der Schöpfungsordnungen dermaßen diskreditiert, dass jedes tiefere Nachdenken an Vorurteilen aus Unkenntnis hängen bleibt. Der Vf. dokumentiert das gleich am Anfang mit einigermaßen erschütternden Beispielen theologischer Kurzsichtigkeit. Er zeigt aber nun auf Schritt und Tritt, wie einerseits diese politisch-emotionalen Urteile sachlich unzutreffend sind; vor allem zeigt er aber, was damit an theologischen Einsichten für die theologische Beurteilung von Geschichte und Gesellschaft verloren gegangen ist. Dass auf einem theologischen Trümmerfeld Surrogate, bei denen die theologischen Urteile lediglich der öffentlichen Meinung folgen (166 ff.), wuchern, ist kein Wunder, wenn man einfach nicht mehr weiß, was die Unterscheidung der beiden Reiche, des »triplex usus legis« und der »drei Stände« für die Erkenntnis von Gottes Wirken in dieser Welt, dann aber auch für Politik und Rechtsbegründung bedeuten. Es ist ein hartes, jedoch notwendiges Urteil hier festzustellen, dass Kirche und Theologie genau an dieser Stelle gesellschaftlich und politisch völlig orientierungslos geworden sind und dann auch keine vollmächtige Weisung mehr geben können (Ez 22,26 ff.).

Die fünf »ethischen Verdeutlichungen« im zweiten Teil der Sammlung kreisen um die Themen, die in kirchlichen Erklärungen und synodalen Entscheidungen in den letzten Jahrzehnten nicht nur zu erheblichen Konflikten, sondern faktisch zur Aufhebung von Kirchengemeinschaft geführt haben. Das betrifft vor allem die Fragen um Ehe und Familie, und das ist natürlich der Bereich, wo Kirche und Gesellschaft unmittelbar aufeinandertreffen. Dass mit Zustimmung und Unterstützung aus Kirche und Theologie die von Gott in seiner Schöpfung angelegten Ordnungen für die Erhaltung der Welt nach dem Sündenfall systematisch untergraben und damit zerstört worden sind, sehen heute keineswegs nur »reaktionäre« Theologen, sondern, wie der Vf. immer wieder belegen kann, auch manche Juristen, Mediziner, und Soziologen.

Ohne auf die wichtigen, gut belegten und vielfach erschütternden Beispiele einzugehen, richtet sich alles auf die Grundsatzfrage nach der Autorität der Heiligen Schrift und ihrer Aufhebung. Der letzte Beitrag zu dem Thema »Wider die alten und neuen Antinomer« steht sachlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Beitrag über die Schöpfungsordnungen. Denn in beiden Themenkreisen geht es um die durch die Heilige Schrift erschlossene Erkenntnis von Willen, Ordnung und Gebot Gottes für die ganze Schöpfung und alle Menschen. Der Bogen spannt sich von der Ordnung, die in der Schöpfung angelegt ist, bis zum Endgericht, das nach dem Maßstab der Gebote Gottes über Lebende und Tote ergehen wird. »Das Gesetz ist für Luther nicht ein austauschbarer Begriff, sondern eine Wirklichkeit, hinter der Gott selbst steht. Gesetz ist alles, was den Menschen vor Gott schuldig spricht, ganz egal wie man es nennt Š Die Wirkung des Gesetzes ist, wo sie erfolgt, bei allen gleich Š« (324).

Sicher kann man dem Vf. zustimmen, wenn er im Umgang mit dem Gesetz eine ständige Anfechtung für Theologie und Kirche erblickt, die von der fundamentalen Frage ausgeht: »Š sollte Gott gesagt haben?« (Gen 3, 1), mit der in der Menschheitsgeschichte sowohl die Exegese wie die Ethik einsetzt, um der Wirkung von Gottes Gesetz auszuweichen. Wo man freilich dem Gericht ausweicht, verliert man auch den Schutz des göttlichen Gebots und zugleich die froh und frei machende Botschaft des Evangeliums.

Dieser Aufsatz enthält zunächst einmal eine Fülle von wichtigen Informationen zu den antinomistischen Streitigkeiten im 16. Jh. Der Zielpunkt ist aber dann die Auseinandersetzung um das Buch des in Oberursel lehrenden Neutestamentlers Volker Stolle, »Luther und Paulus« (Leipzig 2002), in dem ein »Paradigmenwechsel« in der lutherischen Theologie und Kirche gefordert wird, weil zum einen Luthers Lehre nicht mit Paulus übereinstimme und weil zum anderen die lutherische Lehre in der Gegenwart ihre »Plausibilität« und »Relevanz« verloren habe. In einer lutherischen Freikirche sind solche Forderungen natürlich höchst befremdlich. Doch man kann feststellen, dass Stolle nur das vertritt, was heutzutage weithin als volkskirchlich herrschende Meinung anzusehen ist, auch wenn das historisch und theologisch falsch ist. So zeigt sich gerade hier, wie Kontext und Zeitgemäßheit als theologisches Kriterium dazu führen, dass genau das preisgegeben wird, wofür man den heutigen Menschen gewinnen will. Diese von Hermann Sasse stammende und auf Harnack zielende Formulierung (126) macht das Grundproblem deutlich, das sich aus der historisierenden Auflösung des Schriftprinzips ergibt. Hinter dem geforderten Paradigmenwechsel steht ein Subjektwechsel: An die Stelle des Wortes Gottes in Gericht und Gnade tritt das Wort von Menschen, an die Stelle der Rettung aus dem Endgericht durch den Glauben an Jesus Christus tritt die Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse und Triebe. Die Bemerkung zum ersten Antinomerstreit: »Die Buße wandert so in die Ethik« (317), muss man einmal bedenken, um zu verstehen, warum heute ethische Fragen immer wieder zu Bekenntnisfragen stilisiert werden, während gleichzeitig die Aufhebung der Gebote Gottes als Evangelium proklamiert wird.

Der Buchtitel »Sana doctrina« verweist, wie der Vf. in seiner Einleitung zeigt, auf Ti 1,7.9, und damit wird in den Pastoralbriefen keineswegs nur eine »richtige« Lehre in formalem Sinn bezeichnet, sondern die Lehre, die gesundmacht und rettet: »Doctrina coelum, vita terra« (WA 40, II, 51,8/46, 5 ff.): Heilsentscheidend ist die im Wort verkündigte und in den Sakramenten zugeeignete Tat Gottes; im Blick auf das Leben jedoch gilt der Ruf zur Umkehr und zum Empfang der Vergebung. Als Theologen, die im Dienst der Kirche stehen und die Verantwortung für die Kirche tragen, müssen wir uns durch diese Arbeiten eines jungen Theologen mit allem Ernst der Frage stellen, ob wir nur christliche Traditionspflege betreiben oder ob wir den verkündigen, in dessen Namen allein für alle Menschen das Heil liegt (Apg 4,12).