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Ausgabe:

Oktober/2006

Spalte:

1081–1083

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmidinger, Heinrich, u. Clemens Sedmak [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Der Mensch ­ ein »animal rationale«? Vernunft ­ Kognition ­ Intelligenz.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. 320 S. 8° = Topologien des Menschlichen. Geb. Euro 44,90. ISBN 3-534-17501-8.

Rezensent:

Hans-Joachim Höhn

Absicht der auf sieben Bände angelegten Reihe »Topologien des Menschlichen« ist es, »eine transdisziplinäre Verständigung darüber herzustellen, was sich unter den Bedingungen des gegenwärtigen Wissens an grundlegenden Aussagen über den Menschen machen lässt« (6). Den Anlass dazu bietet nicht nur der Umstand, dass die Frage nach dem Selbstverständnis, das der Mensch von sich hat, immer aktuell und angesichts ihrer ethischen und politischen Implikationen von größter Relevanz ist, sondern mehr noch die Tatsache, dass die heutige transdisziplinäre Verständigung über das, was den Menschen ausmacht, immer schwieriger, zugleich aber angesichts des rasanten Zuwachses der Erkenntnisse in den »life sciences« immer dringlicher wird.

Längst obsolet geworden ist das Projekt einer metaphysischen Anthropologie, die alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Menschen in sich integrieren und eine umfassende »Supertheorie« bilden könnte, die sich jenseits der einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse ansiedelt und sich ohne Rücksicht auf die Fortschritte der diversen Wissenschaften entfaltet. An ihre Stelle wollen die Herausgeber »Topologien des Menschlichen« stellen, welche zunächst die Orte und Kontexte erfassen, an denen Selbstverständigungsdiskurse über »den« Menschen stattfinden, die es transdisziplinär zu vernetzen gilt. Neben dem Motiv der Ortung gilt das Interesse den Mustern einer Ordnung menschlicher Selbstwahrnehmungen und ihren Paradigmen. Der erste Band kreist um die Bestimmung des Menschen als »animal rationale« und sondiert in 16 Beiträgen die Möglichkeiten und Grenzen, die »differentia specifica« dieser Definition über die Kategorien Intelligenz, Vernunft, Kognition, Geist oder (Selbst-) Bewusstsein festzumachen. Dabei werden auch all jene Bestreitungen und Korrekturen thematisiert, welche die traditionellen Zuordnungen von »animalitas« und »rationalitas« beim Menschen betreffen.

Wie problematisch der Topos »homo est animal rationale« in der Gegenwart geworden ist, spiegelt sich bereits in der Gliederung dieses Bandes wider: Im ersten Teil (17­97) werden Grundfragen zur Anthropologie heute und zur Bestimmung des Menschen als eines vernunftbegabten Lebewesens diskutiert aus philosophischer, philosophiehistorischer und sprachwissenschaftlicher Sicht (J. Mittelstraß, U. Steinvorth, W. Welsch, Kienpointner). Im zweiten Teil (99­139) geht es um das Verhältnis »Mensch-Maschine«. Verunsichert die Rede von »künstlicher Intelligenz« die Abgrenzung vom Menschen zu intelligenten Maschinen? KI-Forscher und ein Literaturwissenschafter, der sich mit Science-fiction-Szenarien, die mögliche Konstellationen durchspielen, beschäftigt, gehen dieser Abgrenzungsfrage nach (G. Dorffner, P.Kopacek, H.-E. Friedrich). Der dritte Teil (141­252) thematisiert das Verhältnis Geist und Natur sowie die Abgrenzung zwischen Mensch und Tier aus biologischer, medizinischer und kognitionswissenschaftlicher Sicht (H. Römer, C.Niemitz, G. Rager, J. Perner, I. Kryspin-Exner, R. Haller). Im vierten Teil (253­317) schließlich steht die Rationalität menschlichen Entscheidens und Handelns unter dem Aspekt des »rational choice« mit Beiträgen aus den Bereichen Ethnologie, Rechtswissenschaft, Ökonomie und Psychologie zur Diskussion (S. Gächter, C. Thöni, W. Schiefenhövel, N. Wimmer). Obwohl allen Themenblöcken jeweils eine methodisch-inhaltliche Basisreflexion von C. Sedmak vorangestellt ist, bleibt die transdisziplinäre Vernetzung der zweifellos sehr informativen und den »status quaestionis« der einzelnen Wissenschaften dokumentierenden Beiträge eine Aufgabe, die hauptsächlich von den Lesern des Buches zu leisten ist. Es fällt auch äußerst schwer, den Ertrag der Lektüre zu bündeln oder wenigstens eine Quersumme von Einsichten zu formulieren. Man kann allenfalls drei Tendenzen anführen, die gleichsam die gemeinsamen Merkmale der unterschiedlichen Zugänge und leitenden Interessen der beteiligten Autoren erkennen lassen: a) der Trend, den Prozess menschlichen Erkennens nicht allein in Begrifflichkeiten von Rationalität zu beschreiben, sondern auch Aspekte wie Leiblichkeit und Emotionalität zu berücksichtigen und damit das Nichtrationale, Prae- und Metareflexive als wesentliches Moment menschlicher Rationalität aufzufassen; b) die Relativierung der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen bzw. Einzigartigkeitsansprüchen und der Vorstellung, die Kategorie »Rationalität« sei allein dem Menschen vorbehalten; c) die Notwendigkeit, zwischen naturwissenschaftlichen Daten und (philosophischer) Interpretation zu unterscheiden.

Auch bei dezidiert inter- und transdisziplinären Perspektiven bleiben die Autoren »diszipliniert«, d. h. gebunden an jene Parameter, welche ihre Fachwissenschaft konstituieren. Vorstellungen eines trans- und interdisziplinären Export/Import-Denkens erweisen sich daher als naiv. Angesichts der Diversität und Heterogenität der jeweiligen methodischen und thematischen Zugänge bereichert das ambitiöse Unternehmen einer topologisch-komparativen Anthropologie den wissenschaftlichen Diskurs daher auch eher mit »Heterotopien« als mit einer neuen »Summa anthropologica«. Aber gerade dieser Umstand macht wiederum den Reiz des Buches aus, das nicht mit »Systemzwängen« aufwartet und auch keine neue »Schule« vorstellen wird. Es verfolgt einen pluralen Ansatz und bereitet den Boden für eine Reflexion über den Menschen, welche die hierfür relevanten Disziplinen buchstäblich »durchquert«. Die Theologie sollte diese »Heterotopien« darum auch nicht zum Anlass nehmen, sich nach der Devise »homo definiri nequit« aus dem interdisziplinären Diskurs zu verabschieden und den Menschen als ein Wesen zu bestimmen, das sich jeder Bestimmung entzieht und als beständige Frage nach sich selbst existiert. Wenn diese »Definition« zutrifft, dann existiert der Mensch in der Vielfalt der Fragen und in der Vielgestaltigkeit des Fragens nach sich als er selbst.

Eine Theologie, die den ganzen Menschen im Blick haben will, wird darum den vielen Fragen nicht ausweichen dürfen, als deren Ganzheit der Mensch existiert. Aber auch umgekehrt besteht kein zureichender Grund, die Theologie beim Aufbau einer wissenschaftlichen Auskunftei über den Menschen zu übergehen. Wenn über den Menschen im Modus der Frage zu reden ist, hätte unter dieser Rücksicht auch in den ersten Band­ und nicht wie im Editionsplan vorgesehen in den Abschlussband ­ der Reihe ein Beitrag über die Rationalität der religiösen Menschheitsfragen durchaus gepasst.