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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

1033–1036

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph:

Titel/Untertitel:

System des transscendentalen Idealismus (1800). 2 Teilbde.

Verlag:

Hrsg. v. H. Korten u. P. Ziche. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2005. Teilbd. 1: Editorischer Bericht zur Edition des Textes. Text. XIV, 344 S. m. 2 Abb. 4°. Teilbd. 2: Editorischer Bericht. Erklärende Anmerkungen. Register. VII, 260 S. 4° = Historisch-kritische Ausgabe. Reihe I: Werke, 9,1 u. 9,2. Lw. Euro 582,00. ISBN 3-7728-1903-6.

Rezensent:

Christian Danz

Schellings im Frühjahr des Jahres 1800 erschienenes System des transscendentalen Idealismus kann neben dessen Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 als eine seiner wirkungsmächtigsten Schriften gelten. Das System von 1800 ist auch einer der klassischen Texte zum transzendentalen Idealismus.

Der gerade erst 25-jährige Sch., bereits seit Oktober 1798 Professor für Philosophie an der Universität Jena, nimmt mit seiner Schrift, die auf von ihm an der Jenaer Universität gehaltene Vorlesungen zurückgeht, Stellung zu der zeitgenössischen Debatte um die Gestalt einer Ersten Philosophie. Mit Kant und Fichte votiert er gegen Reinhold und Jacobi für eine transzendentalphilosophische Grundlegung der Philosophie und im Unterschied zu Kant und Fichte erhebt er den Anspruch, ein System des Wissens selbst auszuführen. Der Transzendentalphilosophie stellt Sch. jedoch, was nach 1800 zum Bruch mit Fichte führen wird, eine Naturphilosophie zur Seite. Diese sei, wie Sch. ausdrücklich in der Vorrede des Systems betont, ein »nothwendiges Gegenstück« (25) zur Transzendentalphilosophie. Die Bedeutung des Systems wird auch daran deutlich, dass noch der späte Sch. dieser Schrift einen hohen Stellenwert für seine eigene philosophische Entwicklung beimisst. In seinen seit den späten 20er Jahren des 19. Jh.s an der neu gegründeten Münchener Universität gehaltenen Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie würdigt Sch. das System des transscendentalen Idealismus nicht nur als eines der maßgeblichen Dokumente im Entwicklungsgang der nachkantischen Philosophie, er verbindet mit dieser Schrift und der in ihr angewandten Methode auch den Durchbruch zu seiner eigenen Philosophie. Dieses Urteil des späten Sch. bezieht sich keineswegs auf Einzelheiten des Systems von 1800, sondern auf den alles tragenden Grundgedanken, nämlich die von ihm rekonstruierte Geschichte des Selbstbewusstseins. Dieser Gedanke, den Sch. nicht nur in seiner Naturphilosophie verfolgte, sondern der auch noch seiner Spätphilosophie in Form einer Rekonstruktion des mythologischen Bewusstseins zu Grunde liegt, kann in der Tat als eine der wichtigsten philosophischen Einsichten Sch.s gelten.

Das System des transscendentalen Idealismus liegt nun als Band 9 der von der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften besorgten Historisch-kritischen Ausgabe der Werke Sch.s vor. Der von Harald Korten und Paul Ziche mustergültig edierte Band ist dem im Jahre 2004 verstorbenen Hermann Krings gewidmet, dem wesentliche Verdienste für die Edition der Historisch-kritischen Ausgabe der Werke Sch.s zukommen und der selbst gewichtige Beiträge zur Schelling-Forschung geliefert hat. Im Unterschied zu den bisher erschienenen Bänden der Ausgabe umfasst der Band 9 zwei Teilbände.

Der erste Teilband enthält neben einem editorischen Bericht zur Edition des Textes (3­14) den Text des Systems von 1800 (23­335) sowie eine Bibliographie zum editorischen Bericht (337­338), eine Seitenkonkordanz (339­341) und ein Siglenverzeichnis (342­344). Der zweite Teilband enthält einen ausführlichen editorischen Bericht (3­60), der über die werkgeschichtliche Stellung des Systems von 1800 zwischen Transzen- dentalphilosophie und Identitätsphilosophie, die Entstehungsgeschichte des Systems sowie die zeitgenössische Diskussion des Transzendentalsystems in den einschlägigen Rezensionsorganen informiert. Im Blickpunkt stehen hier vor allem methodische Fragen zum System sowie die Auseinandersetzung um die das System beschließende Philosophie der Kunst und ihr systematischer Stellenwert für Sch.s Verständnis der Transzendentalphilosophie. Die seit dem Transzendentalsystem immer manifester werdenden Differenzen zwischen Sch. und Fichte, die schließlich zum Bruch zwischen beiden Denkern führen, werden anhand ihres Briefwechsels und den von Fichte notierten Anmerkungen zum System von 1800 erörtert. Neben dem editorischen Bericht bietet der Teilband 9,2 erklärende Anmerkungen zu Sch.s Transzendentalsystem (63­204), die auch dem mit dem Diskussionshintergrund vertrauten Spezialisten aufschlussreiche Hinweise auf den Diskussionskontext geben. Das Register des Teilbandes 9,2 enthält eine umfangreiche Bibliographie (207­235), Namen- (236­241), Orts- (242) und Sachregister (243­254).

Die Entscheidung der Herausgeber, Band 9 in zwei Teilbänden zu publizieren, ist äußerst sinnvoll. Denn dadurch, dass die erklärenden Anmerkungen zum Text des Systems des transscendentalen Idealismus in einem separaten Band abgedruckt sind, ist dem Leser ein mühsames Hin- und Herblättern erspart. In dem begrenzten Rahmen dieser Besprechung kann selbstverständlich keine ausführliche Darstellung und Diskussion von Sch.s Transzendentalsystem im Kontext der transzendentalphilosophischen Debattenlage um 1800 vorgenommen werden (siehe hierzu zuletzt C. Danz/C. Dierksmeier/C. Seysen [Hrsg.], System als Wirklichkeit. 200 Jahre Schellings »System des transzendentalen Idealismus«, Würzburg 2001). Ich beschränke mich deshalb auf eine knappe Skizze von Sch.s transzendentalphilosophischem Programm und gehe sodann noch kurz auf die von Sch. in dem System von 1800 vorgenommene geschichtsphilosophische Grundlegung der Religion ein.

Die Eigenart von Sch.s Verständnis der Transzendentalphilosophie, wie sie im System von 1800 ausgeführt ist, darf darin gesehen werden, dass es eine Kritik sowohl an Kants Grundlegung einer Transzendentalphilosophie als auch an deren kritischer Weiterführung durch Fichte verbindet. Gegenüber Kant macht Sch. geltend, dass dieser mit der Differenz von Anschauung und Begriff von einer Differenz ausgeht, deren Genesis allererst aus dem Selbstbewusstsein zu begründen wäre. Und gegenüber Fichte moniert Sch., dass dieser zwar von dem reinen Selbstbewusstsein als Prinzip der Philosophie ausgehe, dieses Prinzip jedoch nicht zu einem System des gesamten Wissens erweitert habe (vgl. 68). Beide Aufgaben zusammen sind aufgenommen in dem für Sch.s System der Transzendentalphilosophie signifikanten methodischen Verfahren: »Das Mittel übrigens, wodurch der Verfasser seinen Zweck, den Idealismus in der ganzen Ausdehnung darzustellen, zu erreichen versucht hat, ist, daß er alle Theile der Philosophie in Einer Continuität und die gesamte Philosophie als fortgehende Geschichte des Selbstbewußtseyns, für welche das in der Erfahrung niedergelegte nur gleichsam als Denkmal und Document dient, vorgetragen hat.« (24 f.)

Sch.s Programm einer Transzendentalphilosophie, welches in der Formel von einer »Geschichte des Selbstbewusstseins« seinen prägnanten Ausdruck gefunden hat, zielt auf eine Rekonstruktion der für das Selbstbewusstsein in seinem synthetischen Setzen und Bestimmen selbst konstitutiven Akte. Eine solche Rekonstruktion ist freilich nur auf einer von dem aktualen Vollzug des Selbstbewusstseins unterschiedenen Ebene möglich, welche Sch. ideelle Reihe im Unterschied zur reellen Reihe der Handlungen des Selbstbewusstseins nennt. »Philosophie überhaupt ist also nichts anders, als freye Nachahmung, freye Wiederholung der ursprünglichen Reihe von Handlungen, in welchen der Eine Act des Selbstbewußtseyns sich evolvirt« (89). Beide Reihen müssen deckungsgleich sein. Im System von 1800 beschränkt sich Sch. auf die Handlungen, »die in der Geschichte des Selbstbewußtseyns gleichsam Epoche machen« (91). Rekonstruiert werden also diejenigen Handlungen des Selbstbewusstseins, durch »welche jene Eine absolute Synthesis«, die das Selbstbewusstsein ist, »successiv zusammengesetzt wird« (ebd.). Hieraus resultiert der Aufbau des Systems der Transzendentalphilosophie: die drei Epochen der theoretischen Philosophie, welche Empfindung, Anschauung und Reflexion als Handlungen des Selbstbewusstseins umfassen; die praktische Philosophie, bestehend aus Rechts-, Geschichts- und Religionsphilosophie, sowie die Philosophie der Kunst, welcher Sch. den systematischen Status eines »Organon der Philosophie« (40) zuweist.

Interessant ist auch die von Sch. im Transzendentalsystem angedeutete Geschichtsphilosophie. Sie wird zwar nur auf wenigen Seiten dargestellt und ist kaum ausgeführt. Aber der im System von 1800 sich andeutende Zusammenhang von Geschichts- und Religionsphilosophie schlägt eine Problemfassung an, die von Sch. in seinen weiteren Schriften bis hin zu seiner Spätphilosophie immer weiter ausgearbeitet wird. In dieser geschichtsphilosophischen Grundlegung des Religionsbegriffs darf Sch.s eigenständiger Beitrag zur religionsphilosophischen Diskussion am Beginn des 19. Jh.s gesehen werden.

Sch. nimmt hier einerseits Gedanken auf, die er in der Allgemeinen Uebersicht der neuesten philosophischen Literatur vom Oktober 1798 bereits ausgeführt hatte, und zum anderen greift er mit der im System ausgeführten geschichtsphilosophischen Grundlegung der Religion auf Fragestellungen zurück, mit denen er sich in seinem Tübinger Theologiestudium, insbesondere in seiner Magisterdissertation, intensiv beschäftigt hatte. Im Transzendentalsystem von 1800 werden diese Aspekte aufgenommen und zu der These verdichtet, dass die »Geschichte als Ganzes Š eine fortgehende allmählig sich enthüllende Offenbarung des Absoluten« (301) sei. Die Religion wird in diesem Zusammenhang von Sch. als Vorsehung bestimmt. Die Eigenart religiösen Bewusstseins liegt dieser Bestimmung zufolge darin, dass sich hier die Reflexion »bis zu jenem Absoluten« erhebt, »was der gemeinschaftliche Grund der Harmonie zwischen der Freyheit und dem Intelligenten ist« (300). In der Religion erfasst sich also das Bewusstsein als Einheit von Freiheit und Notwendigkeit und damit in der ihm eigenen inneren Struktur und Geschichtlichkeit. Aus diesem Grund ist das religiöse Bewusstsein für Sch. Geschichtsbewusstsein und Religion »die einzig wahre« Ansicht der Geschichte, da nur das religiöse Bewusstsein Notwendigkeit und Freiheit miteinander verbindet. Schicksalsglaube und Atheismus stellen gegenüber dem religiösen Bewusstsein insofern geschichtsunbewusste Formationen des Bewusstseins dar, da sich in ihnen das Bewusstsein nicht in der ihm eigenen Reflexivität erfasst hat. Aus diesem Grund tritt die Geschichtsdeutung im Schicksalsglauben unter die Dominanz der Notwendigkeit und im Atheismus unter die des Zufalls (vgl. ebd.). Diese Fassung der Religion als eines sich in seiner inneren Reflexivität durchsichtig gewordenen Geschichtsbewusstseins sowie die Deutung dieses Reflexivwerdens des Bewusstseins als Offenbarung wird Sch. in den folgenden Jahren immer weiter ausbauen und eine geschichtsphilosophisch grundgelegte Religionsphilosophie konzipieren, welche auch für die gegenwärtige Theologie von hohem Interesse sein dürfte.