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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

923–925

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Witte, Markus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionskultur ­ zur Beziehung von Religion und Kultur in der Gesellschaft. Beiträge des Fachbereichs Evangelische Theologie an der Universität Frankfurt am Main.

Verlag:

Markt Zell: Religion & Kultur Verlag 2001. 426 S. 8 Abb. 8°. Kart. Euro 31,00. ISBN 3-933891-09-4.

Rezensent:

Walter Sparn

Die Publikation stellte zum Kirchentag 2001 die Arbeit des Fachbereichs Evangelische Theologie in Frankfurt am Main vor. Diese Arbeit will in kritischem Bezug auf den EKD-Konsultationsprozess (Christentum und politische Kultur, 1997; Gestaltung und Kritik, 1999) gängige kulturtheologische und anthropologische Annahmen auf Grund religionskultureller Analysen klären, wie einleitend Markus Witte erklärt. Der mit acht Collagen religiöser Thematik von der Künstlerin und Theologiestudentin Moni Jahn bereicherte, leider fehlerhaft lektorierte Band wird mit einem Text des ðFrankfurtersÐ P. Tillich über die Beziehung von Religion zu Moralität und Kultur eröffnet. Sieben Kapitel wenden sich dann je einem »kulturimmanenten System« (12) zu.

Im 1. Kapitel Religion und Ästhetik stellt Lukas Bormann »Apokalyptik im Film ­ Eco, Coppola, Tarkowskij, von Trier« (21­38) vor: Das Genre »Endzeitfilm« trägt in sich den (an J. Taubes und J. W. Goethe exemplifizierten) Gegensatz zwischen dem apokalyptischen Denken und einer ästhetisch-epikureischen Position aus. Peter Steinacker widersprach in einem Vortrag in Bayreuth P. Wapnewski mit einem Nein zur Frage: »Ist Wagners Wotan ein ðtrauriger GottÐ?« (39­63). Im Licht von Phil 2 zeige sich, dass Wotan einen neuen Heilsweg lernt: »Kenotisch« nimmt er die Macht aus dem Weltprozess heraus und initiiert in Brünnhilde das Projekt der machtfreien Liebe ­ die inhaltliche Füllung der angezielten Erlösung sei freilich kultischer Religionsersatz.

Ein 2. Kapitel thematisiert das Bildungspotenzial von Religion. Der Vortrag Hermann Deusers vor Pfarrern über »Protestantismus und Bildung« (67­82) stellt sich der Situation, dass das zumal für das protestantische Christentum notwendige Bildungsgeschehen nicht mehr selbstverständlich ist, und rückt es eben deshalb ins Zentrum des Verhältnisses von Religion und Kultur, zumal die aktiv-passive individuelle Selbstbildung und die Pluralität von Bildungsvorgängen. Ist der Grundsinn von Bildung die Selbstbeziehung des Menschen im Blick auf seinen unverfügbaren Grund, so vertritt die Kirche gerade dann allgemeine Bildungsinteressen, wenn sie persönliche Überzeugung und individuelle Handlungsgewissheit als die Fähigkeit zur doppelten Selbstunterscheidung von der Welt und von Gott aufbaut. In Fortschreibung von Luthers Schulschrift also: »Protestantische Kultur« als Aufgabe des »geistlichen Regiments« (80)!

»Christliche Glaubenslehre und erzieherische Haltung« z. B. von Kindergärtnerinnen verbindet Matthias von Kriegstein mittels eines »deutenden und inspirierenden« Verständnisses der Grundworte Schöpfung, Fall und Erlösung (83­109). Mit M. Buber und R. Cohn skizziert Werner Licharz die pädagogische Bedeutung von dialogischer Existenz und schöpfungsgläubiger Interaktion (111­119). Wolfram Kurz erhebt in der Emmausgeschichte die Kommunikationsformen, die das Zusammenspiel der Personen bestimmen, und erklärt die »psychotherapeutische Weisheit der Bibel« unter Titeln der Franklschen Logotherapie (121­136). Im 3. Kapitel Religion und Ethos bestimmt Markus Witte das »Wesen der alttestamentlichen Ethik« (139­161) am Paradigma des Dekalogs, charakterisiert sie angesichts des Befundes bei Jesus und Paulus als Gesetz und Evangelium und weist ihre kritische und konstruktive Bedeutung für die Gestaltung von Lebensraum (»Kultur«) nach. Ilona Nord analysiert, angeregt durch P. Tillich, E. Badinter und J. Butler, die aktuelle Popularität aktueller androgyner Menschenbilder und stellt ihre Ambivalenz angesichts fortbestehender Dominanz des Männlichen auch im erlösten Menschen heraus (164­174).

Schon dem 4. Kapitel Religion und Kulturgeschichte wird der Beitrag Stefan Alkiers über »Die Vielfalt der Zeichen und die Aufgabe einer Theologie des NT« zugezählt. Der Vorschlag, das Dilemma historisch-kritischer und kanonbezogener Exegese produktions- und rezeptionsästhetisch zu überwinden, wird allerdings nicht kulturtheologisch expliziert (177­198). Yossef Schwartz beschreibt »Formen mittelalterlicher Inter-Kulturalität«, z. B. das (keineswegs spezifisch jüdische) Narrativ des Exils, und rehabilitiert, gegen neueren jüdischen Partikularismus, die Perspektive der Wissenschaft des Judentums, hier: das Mittelalter als einer hin und her übersetzenden Kultur (199­220). Karl Diensts Mikrostudie über die »Jahrhundertwende 1800/1801 und Frankfurt am Main« illustriert die aufklärerische Verzeitlichung der kulturellen Selbstinterpretation (»Fortschritt«) an religionspolitischen Vorgängen und an Predigten vor Ort (221­238). Der Beitrag von Heinz Röhr über »Nietzsche und das Christentum« (239­249) kennzeichnet sich selbst als Bekenntnis (zur Ethik der »Ehrfurcht vor dem Leben«), bringt dessen kulturtheologische Relevanz allerdings nicht zur Geltung.

Im 5. Kapitel Religion und Religionen machen sich Hans-Günter Heimbrock und sein Seminar auf die »Suche nach Gelebter Religion in Main-Hattan ­ Facetten und Elemente urbaner Religionskultur« (253­267). Die Beobachtungen zur Ambivalenz von Heimat und Fremde, zur Kreolisierung von Religiosität oder zu außerinstitutionellen Suchbewegungen (unberücksichtigt bleibt die Öffentlichkeit der beobachteten Räume) reflektiert Heimbrock als Leben in »religiös-kulturellen Zwischenräumen« vor Ort: »City-Religion, Synkretismus und kontextuelle Theologie« (269­294). Das »phänomenologische« (wohl zur Überinterpretation neigende) Konzept Gelebter Religion fordert eine Religionspädagogik als regionale Didaktik, Umgang mit sakralen Räumen und produktiven Zugang zur Alltagskultur. Überzeugend kritische »Bemerkungen zur ðLeitkulturЫ trägt Thomas Wabel bei (295­313), an E. Cassirers Analyse von Kultur als Gesamtgefüge von Symbolsystemen anknüpfend und normativen bzw. deskriptiven Kulturbegriff unterscheidend. Wie H. Deuser stellt der Autor die Bedeutung des Rechtfertigungsglaubens, als Selbstwertgefühl, für erkennbares Eigensein und zugleich für Akzeptanz von Pluralismus heraus. Ob aber der Protestantismus als »kulturelles Ferment Š eine Leitkultur unnötig macht« (313)?

Der Überwindung der »nur kulturbedingte[n] hermeneutische[n] Schranke« (339) zwischen westlicher und östlicher Religiosität widmet sich Edmund Weber in einer Analyse einer (monotheistischen) Gaudiya Vaishnava Religion (315­339). Die dabei leitende Unterscheidung von »Gesetz und Evangelium« (wie auch die geforderte »universale«, »autonome« Theologie) ist hier allerdings derart frei von jeglicher Christologie, dass das Verhältnis von Religion und Kultur ein völlig blinder Fleck bleibt. Für Öffnung der Volkskirche zur modernen Esoterik und für einen Studienbestandteil »christliche Mystagogie« plädiert Stephan Nagel (341­363). Zu Recht wird die nur zögerliche Erforschung eines respektablen Phänomen beklagt, unklar bleibt das Verhältnis der im Hauptstrom mit christlichem Glauben vereinbaren »gelebte[n] Naturphilosophie oder Metaphysik« und der esoterischen »Sekundär-Religion«, was Esoterik für viele Zeitgenossen besagt.

Das 6. Kapitel Religion und Wirtschaft besteht nur aus Inken Mädlers geistreichen und phänomenologisch präzisen »Anmerkungen zu einer Kultur des Habens« (367­384). Sie besetzen die theologische Leerstelle »Sachkultur« und nehmen, statt auf die bloße Alternative »Haben oder Sein« auszuweichen, die persönliche Habe und konkreten »Siebensachen« in ihrer Ambivalenz von »Hab-Seligkeit« und »Hab-Sucht« sowie als Medien expressiv-symbolischer Kommunikation in den Blick; auch, dass diese Siebensachen in ihrer, kraft ihrer Materialität im Raum ambivalenten Gewichtigkeit (»Kabod«), in Konkurrenz zur Schwere Gottes geraten können. Eine geistreiche »Theologie der Schwere«! Im 7. Kapitel Religion und Wissenschaft fragt Eva Pelkner: »GENese einer neuen Wissenschaftsreligion?« (386­411). Sie spitzt die Kritik an der Ambition »Leitkultur« zu und weist auf Defizite im EKD-Text von 1999 hin, vor allem im Blick auf die bio-industrielle Revolution und die hier sich abzeichnende Verselbständigung einer einseitig westlichen Wissenschaftskultur, die gnostische Züge erkennen lässt und die, in ihrer »Verrohstofflichung« des weiblichen Körpers, frauenfeindlich ist. Eine erfrischende Polemik!

Der Kirchentagslosung (Ps 31,9) folgend greift der Band weit aus, notgedrungen selektiv, methodisch aber nicht durchweg sicher. Immerhin vereinigt er 22 Autoren und Autorinnen; ein konsistenter Begriff von »Religionskultur« ist da nicht ohne weiteres zu erwarten. In seiner analytischen Materialität trägt das Buch jedoch zur Korrektur der offiziösen Diskussion bei; und man sieht, wo eine theologische Fakultät präsent sein sollte, wenn sie die Beziehung von Religion und Kultur auch an sich selbst vollziehen will.