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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

912–914

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ricken, Friedo [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2004. 220 S. gr.8° = Münchener philosophische Studien. Neue Folge, 23. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-17-018367-2.

Rezensent:

Gesche Linde

Der Band versammelt, versehen mit einer Einführung des Herausgebers, 15 Beiträge eines interdisziplinär angelegten Symposions, mit dem im Januar 2003 das Münchner Graduiertenkolleg »Der Erfahrungsbegriff in der europäischen Religion und Religionstheorie und sein Einfluss auf das Selbstverständnis außereuropäischer Religionen« seine erste Förderperiode beschlossen hat.

Der Erfahrungsbegriff, um den die einzelnen Texte kreisen, erlebt seit dem späten 19. Jh. in der europäischen Theologie und Religionsphilosophie Konjunktur, vorwiegend aus zwei Gründen: Er bietet eine Spielart der seit Kant vollzogenen Hinwendung zum Subjekt und soll so dem religiösen Glauben Authentizität sichern anders, als externe Autoritäten dies leisten könnten; und er verheißt Anschlussfähigkeit zu den Naturwissenschaften, indem er unterstellt, dass in »religiösen Erfahrungen« ein bestimmtes Erfahrungsobjekt zur Erscheinung komme. Auf diese Weise schützt er die Theologie(n) vor dem Verlust ihres wissenschaftlichen Gegenstandes und die Religion(en) vor dem Verlust ihres Anspruchs auf Realitätsbezug. Wenn man einer solchen Konzeption folgen will, so ist zunächst eine Klärung der Begriffe »Erfahrung« und »religiös« erforderlich, sodann die Zuordnung dieser beiden zueinander. Das unternimmt der Philosoph Gerd Haeffner, S. J., der Erfahrung als (zeitlich strukturierten) Prozess der Integration von (sinnesbasierten) Einzelwahrnehmungen und -erlebnissen (»Eindrücke von seiten des Realen«, 16) in einen (dynamischen) Gesamtzusammenhang durch das erfahrende Subjekt beschreibt, Lebenserfahrung im Besonderen als Bewertungs- und Sinnstiftungsprozess versteht und schließlich, als deren Exponentin, religiöse Erfahrung als »letztgültige Sinnerfahrung« (35) bestimmt, »die in die Tiefe der Person zielt« (36).

An Haeffners begriffsgeschichtlicher Skizze wäre eine Korrektur anzubringen: Die programmatische Wendung »religiöse Erfahrung« hat im deutschen Sprachraum ihren Ursprung nicht bei William James bzw. dessen Übersetzer Wobbermin (so 32 f.), sondern meines Wissens bei Ihmels (Die christliche Wahrheitsgewißheit, 1. Aufl. 1901, 3. Aufl. 1914); von der »christlichen Erfahrung« spricht Frank (System der christlichen Gewißheit, Bde. 1­2, 2. Aufl. 1881­1884) und von der »Erfahrung des Christen« sogar schon von Hofmann (Der Schriftbeweis, Bde. 1­2/2, 2. Aufl. 1857­1860), nicht von ungefähr protestantische Autoren, die ihrerseits alle drei auf Schleiermacher zurückgreifen. Bereits an ihnen ließe sich zeigen, mit welcher grundlegenden Schwierigkeit der Begriff einer spezifisch religiösen Erfahrung vielleicht nicht für die Religionsphilosophie und -wissenschaft, wohl aber für die Theologie behaftet ist, sofern diese an einer Unterscheidung von Gott und Welt interessiert ist: Die spezifisch religiöse Erfahrung soll an allen Gattungsmerkmalen der Erfahrung partizipieren, der spezifische Gegenstand der religiösen Erfahrung jedoch nicht an allen Gattungsmerkmalen der Erfahrungsgegenstände. (James hat folgerichtig in der religiösen Erfahrung ein Sensorium für die durchaus intramundan gedachte spirituelle Tiefendimension der Welt gesehen.)

Haeffner vermeidet dieses Dilemma, indem er seine Problemstellung nicht aus »einer erkenntnistheoretischen, sondern Š einer anthropologischen Perspektive« (15) bearbeitet; damit läuft der Erfahrungsbegriff allerdings Gefahr, subjektivistisch verkürzt zu werden. Kritisch bleibt außerdem anzumerken, dass eine Zusammenstellung der semantischen Facetten des Erfahrungsbegiffs ­ »Vernehmen«, »Erleben«, langfristige Wissensbildung ­ noch nicht unbedingt zu einer Aufhellung der Struktureigenschaften von Erfahrung führt.

Was bei Haeffner sich der Sache nach heimlich andeutet, nämlich der Umstand, dass das, was wir unter dem Begriff der »Erfahrung« zusammenzufassen pflegen, interpretationsgesteuert ist, thematisieren die drei folgenden Beiträge aus eher empirisch orientierten Disziplinen, die der Frage nachgehen, was eine Erfahrung zu einer religiösen Erfahrung macht. Der Religionspsychologe Jacob A. van Belzen weist (völlig zu Recht) für die Religionspsychologie als Disziplin der Psychologie das Ansinnen zurück, sie solle definieren, was unter einer religiösen Erfahrung zu verstehen sei, indem er die Aufgabe der Qualifizierung einer Erfahrung als »religiös« den mit der Religion befassten Disziplinen zuweist; die Religionspsychologie könne lediglich Erfahrungen psychologisch untersuchen, die ihr von diesen Disziplinen zur Beobachtung überwiesen würden. Er macht aber mit Nachdruck darauf aufmerksam, dass Erfahrungen ­ sogar Emotionen ­ interpretationsabhängig sind und damit inhaltlich von ihren jeweiligen, kulturell wie auch situativ bestimmten, Kontexten abhängen; diese Einsicht habe sich nicht nur in der Religionspsychologie seit Leuba und Sundén durchgesetzt, sondern auch in der allgemeinen Psychologie (z.B. im attributionstheoretischen Ansatz oder in der narrativen Psychologie). Was eine Erfahrung mithin als religiös bestimmt, sind nicht etwa besondere Merkmale, sondern ist ihre Interpretation vor dem Hintergrund religiöser Deutungsmuster.

Der Religionssoziologe Hubert Knoblauch verfolgt unter Anknüpfung vor allem an Luckmann eine ähnliche Linie, indem er die Frage religiöser Erfahrungen auf die Frage von »großen« Transzendenzerfahrungen zuspitzt, die in der Struktur des menschlichen Bewusstseins liegen und erst nachträglich religiös interpretiert werden können ­ dann nämlich auf der Basis des Glaubens als eines kulturell bzw. institutionell »vermittelten Wissen[s] über Transzendenzerfahrungen« (79) ­, jedoch nicht müssen. Ob das Verhältnis zwischen Glauben/Religion und Erfahrung allerdings tatsächlich so gedacht werden kann, dass die Erfahrung durch den Prozessor des Glaubens zur religiösen Erfahrung transformiert wird, kann man immerhin fragen; dieses Modell macht nicht deutlich, ob und wie der »Glaube« sich in seiner Genese seinerseits der »Erfahrung« verdankt, und zieht eine Gleichursprünglichkeit von Erfahrung und Interpretation bzw. die Konstitution von Erfahrung als Interpretation nicht in Betracht. Der Religionswissenschaftler Carsten Colpe schließlich bestreitet nicht »die Existenz von Erfahrungen, wie der Homo religiosus sie macht« (67), stellt den Erfahrungsbegriff aber dennoch beiseite, weil er sich nicht zum Typenmerkmal der Religion eigne; erst die (durch anderweitige Merkmale typisierbare) Religion mache eine Erfahrung zu einer religiösen.

Die restlichen elf Beiträge des Bandes gehen dem Erfahrungsthema bei verschiedenen Autoren aus diversen Kontexten nach: Heidegger (Claudius Strube), William James (Henryk Machon´), nochmals James (Sebastian Niklaus), Alston (Andreas Hansberger); sodann Johannes vom Kreuz (Karl-Heinz Steinmetz), Simone Weil (Margit Wasmeier), Franz von Sales (Gereon Kühr); schließlich Rosenzweig (Katrin J. Kirchner), tibetische Gelug-Tradition und Kitaro- Nishida (Maximiliane Demmel/ Sebastian Niklaus), nochmals Nishida (Tetsuaki Kurusu), Sri Ramana Maharshi und Henri le Saux (Christian Hackbarth-Johnson). Sie können aus Raumgründen nicht einzeln angesprochen werden.

Insgesamt zeigen die Beiträge in ihrer Zusammenstellung die bereichernde Vielfalt geisteswissenschaftlicher Graduiertenkollegs, in der allerdings auch eine ­ möglicherweise unvermeidliche ­ Problematik steckt: Unter einem Arbeitstitel versammeln sich verschiedene Ansätze, Methoden und Fragestellungen ­ in diesem Fall von der deutschen Existenzphilosophie bis zur angelsächsischen »reformed epistemology«, von der mystischen Einzelerfahrung zu kulturell bedingten Erfahrungsmustern, von christlichen und jüdischen bis hin zu buddhistischen Traditionen reichend ­, ohne dass eine einheitliche, umfassende und integrative Theoriebildung zu Stande käme. Als »Klärungsversuch« (Untertitel) ist der Band insofern nur begrenzt tauglich. Indessen ist es nun einmal ein Spezifikum der Geisteswissenschaften, dass in ihnen primär um die rechte Interpretation von Begriffen gestritten wird, die ihrerseits Produkte langer, komplizierter und nicht immer konsensträchtiger Interpretationsprozesse sind. Darin liegt ihre Herausforderung, und darin liegt das Angebot dieses Bandes.