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Ausgabe:

Juli/August/2006

Spalte:

895–897

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Maser, Peter, u. Jens Holger Schjørring [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zwischen den Mühlsteinen. Protestantische Kirchen in der Phase der Errichtung der kommunistischen Herrschaft im östlichen Europa.

Verlag:

Erlangen: Martin-Luther-Verlag 2002. 328 S. 8°. Kart. Euro 29,00. ISBN 3-87513-136-3.

Rezensent:

Rudolf Mau

Forscher und Kirchenvertreter aus Mittel- und Osteuropa berichten über ein noch weithin unbekanntes Terrain, die Wege und Schicksale protestantischer Minderheiten im sowjetischen Imperium. Zwei Beiträge behandeln das erste Jahrzehnt im kommunistischen Russland, sieben weitere die Phase nach der sowjetischen Besetzung der westlich angrenzenden Länder. Einführenden Überlegungen von Hartmut Lehmann/Göttingen zu »Protestantismus und Totalitarismus in Ostmitteleuropa in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg« (9­24) entstammt der Buchtitel »Zwischen den Mühlsteinen«, den die folgenden Beiträge vielfältig verifizieren: Aus den Ansprüchen der kommunistischen Heilslehre und ethnischer Nationalismen resultierten »Existenzangst, Terror und Verzweiflung« (11). Kirchen und Gruppen mussten nach dem Verlust kirchlicher Räume und geistlicher Versorgung überhaupt erst wieder »Gemeinschaft stiften, die auf Vertrauen und Nächstenliebe« beruht (18). Vergleichbar sei nicht der Kirchenkampf der NS-Zeit, sondern eher das Schicksal von Protestanten zwischen habsburgischem Absolutismus und gegenreformatorischem Katholizismus.

Otto Luchterhandt/Hamburg beschreibt Phasen der bolschewistischen Religionspolitik: Entrechtung, Verfolgung und Terror (25­62). Taktische Milderung vor Stalins Vernichtungspolitik sei nicht als »Toleranz« zu deuten. ­ Mit vielen Details berichtet Gerd Stricker/Zürich über die »Ev.-Luth. Kirche in Rußland im ersten Jahrzehnt der sowjetischen Herrschaft« (53­120), mangels anderer Quellen oder des Zugangs zu ihnen vor allem anhand seit den 70er Jahren gesammelter Zeitzeugenberichte. Bis in die Spätphase der Sowjetunion hinein war das Schicksal der aus deutscher Tradition kommenden lutherischen Kirche, im Zarenreich Staatskirche minderen Rechts, gut situiert, mit eigenem Schulsystem und Diakonie, ein Tabuthema; es gab die politisch heikle Konkurrenz zum ÖRK- und EKD-Interesse an der Russischen Orthodoxen Kirche. Nachdem anfangs vor allem die ROK verfolgt wurde, zielten wachsende Schikanen auf die Zerstörung der Institution. Ein Studium in Leipzig oder Tartu wurde unmöglich, nur kurzzeitig ab 1925 boten »Biblische Kurse« in Leningrad einen Ersatz. Unter Stalins Vernichtungskurs mussten die Pastoren flüchten, nur noch drei überlebten die Lager-, Kriegs- und Deportationsjahre 1938­1955. Erst die Perestrojka ermöglichte nach verborgener Fortexistenz das Aufleben lutherischer »Brüder«-Gemeinden und der seit Generationen verschütteten Tradition lutherischen Kirchenwesens.

Über die Estnische Ev.-Luth. Kirche unter dem Sowjetregime 1940/41 und ab 1944 (121­136) berichtet Riho Altnurme/ Tartu anhand staatlicher Quellen über den estnischen »Bevollmächtigten des Sowjets für religiöse Kulte«. Nach der sowjetischen Annexion verletzte kirchliche Rechte wurden unter der deutschen Besatzung erneuert. Dank einer »etwas gemäßigten Religionspolitik« wuchs bis 1947 die Religiosität. Dann aber verstärkte sich der Druck bis zu »Gewaltaktionen gegen religiöse Organisationen« 1949­1951. Angst vor Deportation begünstigte das staatliche Anwerben von Agenten; auch Erzbischof Kiivit habe sich doppeldeutig verhalten. ­ Im ausführlichsten Beitrag des Bandes (137­208) behandelt Olgierd Kiec/Pozna´n die »protestantischen Kirchen in Polen unter kommunistischer Herrschaft 1945­1949«, ein schon etabliertes Forschungsthema (vgl. u. a. ThLZ 126 [2001], 783­785). Die Gleichung polnisch = katholisch brachte die pauschal als »deutsch« und hitleristisch verfemten Protestanten unter den Doppeldruck von antigermanischem Nationalismus und kommunistischer Machtpraxis. Auch in »kirchlich nicht zu verantwortender Weise« bekundete man Loyalität (169). Die schwierige Lage von Bischof Jan Szeruda wird beschrieben wie auch die fatale Rolle des Warschauer Pfarrers Zygmunt Michelis, der, demonstrativ regimetreu, zwar nie Bischof wurde, aber in der Ökumene die polnischen Protestanten repräsentierte. ­ »Die reformatorischen Minderheitenkirchen in Rumänien 1944­1989« behandelt Dietmar C. Plajer/Brasow in einer bündigen Darstellung (209­220), die sich vor allem auf die Ev. Kirche Augsburger Bekenntnisses bezieht. Eine Nationalsozialistische Leitung (1941­1945) erschwerte zusätzlich ihre Lage. Arbeitsfähige Deutsche wurden in die Sowjetunion deportiert; eine Agrarreform zielte auf Vertreibung oder Umsiedlung im Land. Doch erfuhr man auch Bewahrung: 1948 ein günstiges Gutachten der Kultusministerin, später die Möglichkeit des Theologiestudiums in Sibiu und die klare Haltung von Bischof Friedrich Müller, der staatlich respektiert, ja geschätzt wurde. Anders als die orthodoxe trug die evangelische Kirche zur Demokratisierung bei. ­ Jozef Szymeczek/Nydek berichtet vor allem aus staatlichen Quellen über die einzige lutherische Kirche in der Tschechoslowakei, die »Schlesische Ev. Kirche A. B.« im Teschener Land (221­233), der nach der Vertreibung der Deutschen zu einem Drittel polnische Protestanten angehörten. Nach 1948 wurden die Landes- und Kreissekretäre des Staatsamtes für Kirchenfragen »zu unbeschränkten Herrschern«. Geistliche und Kirchen hatten strengste Auflagen zu beachten. Loyalität zu bekunden gehörte zur Überlebenstaktik. Eine Milderung der Kirchenpolitik ab 1956 war vor allem der Unnachgiebigkeit der katholischen Kirche zu verdanken. ­ Anhand vielfältiger Quellen und thematisch differenziert schildert Ludwig Steindorff/Kiel die insgesamt günstigere Situation (»Im Windschatten«) von Protestanten in Jugoslawien (235­270). ­ Das Thema »Die evangelischen Kirchen in der SBZ/DDR in der Phase der Errichtung der kommunistischen Herrschaft« fokussiert Peter Maser/Münster (271­302) mehr politisch als kirchlich (nur 286­292). Ad notam »Schuldbekenntnis« erscheinen, wiewohl vielfältig zugänglich, im vollen Wortlaut die Barmer Erklärung 1934, das Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945, das Darmstädter Wort 1947 (293­302) ­ ohne kontextualen Bezug (wie z. B. das Befremden bei der BK im Osten, so Präses Scharf, über das Darmstädter Wort!). ­ Tibor Fabiny/ Budapest beschreibt Weg und Schicksal von Bischof Ordass als christliche Existenz im Zeichen von Luthers Theologie des Kreuzes: »The Testimony of Bishop Lajos Ordass during Communism in Hungary« (303­320). Die unbeugsame Haltung von Ordass (Ý 1978), der sein Amt nur für wenige Jahre (1945­1948 und 1956­1958) ausüben konnte, wird auch durch bewegende briefliche Zeugnisse belegt.

Die aus mancherlei Gründen sehr unterschiedlichen Beiträge des Bandes beleuchten Situationen einer lange verborgenen oder unbeachteten Glaubens- und Kirchenexistenz. Georg Kretschmar/St. Petersburg unternimmt den »Versuch einer Bilanz« (321­327). Der Erzbischof der lutherischen Kirche in Russland warnt vor »Vorurteilsschablonen«; ohne Unterstützung der ROK wäre auch die Sammlung und der Aufbau der ELKRAS nicht möglich gewesen.