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Ausgabe:

Mai/2006

Spalte:

564–566

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bärsch, Jürgen

Titel/Untertitel:

Allerseelen. Studien zu Liturgie und Brauchtum eines Totengedenktages in der abendländischen Kirche

Verlag:

Münster: Aschendorff 2004. XCIII, 516 S. gr.8° = Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, 90. Kart. Euro74,00. ISBN 3-402-04069-7.

Rezensent:

Konrad Baumgartner

Das Thema Erinnerung beschäftigt seit einigen Jahren die verschiedenen Wissenschaften: als individuelle und kollektive Erinnerung, verdichtet in der Memoria, gefeiert im Gedenken. In der Kultur der Erinnerung der Toten ist dabei ein Wandel festzustellen: von der Jenseitsfürsorge zur Daseinsfürsorge. Entsprechend verändert zeigt sich auch der Bereich der Bestattungs- und der Trauerkultur, der über Jahrhunderte hin von den Traditionen des Christentums geprägt war. Zwar ist Religiosität noch immer vorrangig kirchlich definiert und im katholischen Bereich sind auch seit Jahren die Zahlen der kirchlich Bestatteten stabil, doch angesichts der sich zeigenden Veränderungen ist die Besinnung auf das Profil des Christlichen angesagt und Reflexion der gewachsenen Formen des christlich motivierten Umgangs mit Sterben und Tod, Bestattung und Trauer auf ihre Wesensmitte hin angezeigt.

Eben dazu vermittelt die Arbeit ausgezeichnete Erkenntnisse aus dem liturgischen und sozialgeschichtlichen Umfeld des Festes Allerseelen. Das christlich motivierte Gedächtnis der Toten im Lichte des Pascha-Mysteriums Jesu, seine Entwicklung seit den ersten Jahrhunderten, seine kulturellen Kontexte und die verschiedenen Feiergestalten werden akribisch dargestellt, sorgfältig durchleuchtet und auf ihren Sinngehalt hin bedacht. Die Motivik der Feier von Allerseelen erweist sich dabei als entscheidender und hilfreicher Zugang zu einer Fülle von Fragestellungen der verschiedenen theologischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Weit über die Vermutungen hinaus, die der Titel der Arbeit zunächst nahe legt, ergeben sich historische, liturgie- und religionswissenschaftliche sowie religionskundliche Einsichten von hohem Informationswert, Grundlinien und Durchblicke, aber auch konkrete Details, die den interessierten Leser von Anfang bis Ende faszinieren. Zu Recht wurde diese Habilitationsarbeit für die Lehrbefugnis in Katholischer Liturgiewissenschaft mit dem erstmals verliehenen »Balthasar-Fischer-Preis« ausgezeichnet, der zu Ehren eines Nestors dieser Disziplin verliehen wurde ­ gilt er doch auch als Begründer der »Trierer Schule«.

Allein schon das 80 Seiten umfassende Quellen- und Literaturverzeichnis legt von der extensiven und intensiven Beschäftigung mit den vielfältigen Aspekten eines Projektes Zeugnis ab, das bislang kaum Gegenstand einer umfassenden Forschung war. Das Werk selbst ist in acht große Kapitel (A­H) gegliedert; ein differenziertes Register zu biblischen Schriftstellen, Autoren und Personen, Orten, Initien und Formeln sowie zu Sachen ermöglicht das nachträgliche Auffinden von interessierenden Aspekten.

Nach einer knappen »Einführung« (A) zur inhaltlichen Ausgangslage zu den Themen »Allerseelen« und »Totenmemoria« werden Ziel, Methode und Aufbau der Untersuchung vorgestellt. Den Grundelementen des Totengedächtnisses in Antike, Judentum und frühem Mittelalter ist Teil B gewidmet. Dabei zeigen sich deutliche Verschränkungen allgemein religionsgeschichtlicher Ausdrucksformen mit christlichen Formen und religiös-liturgischen Gestaltungen. Aus der Verbindung von Buß- und Totenliturgie ist das Gesamt der mittelalterlichen Totenmemoria bis in die verschiedensten Ausprägungen hinein zu verstehen. Aus ihr ist das »Gedächtnis der Toten« als Fest Allerseelen in Feiergestalt und Sinngehalt hervorgegangen. Für seine Entstehung, Ausgestaltung und immense Verbreitung steht das Kloster Cluny, das als »Clunyacensis ecclesia« zum Zentrum des mittelalterlichen Totengedächtnisses geworden ist: in Liturgie, Spiritualität und gelebter Diakonie (Teil C). Wie sich diese »Feier von Allerseelen« konkret ausgeformt hat über ganz Europa hin, hinein in die liturgischen Bücher und die verschiedenen Feiergestalten, zeigt bis in letzte Details der Teil D. Aufschlussreich ist die Darstellung des Kampfes zwischen Erneuerungswillen und Neugestaltung des Totengedächtnisses durch die Reformation und schließlich in der Zeit der Aufklärung: Beharrung und Veränderung auch im katholischen Bereich werden kundig vorgestellt (Teil E). Beeindruckend dabei sind die Schilderung und die Analyse der gesellschaftlichen, kulturellen und theologischen Wandlungen. Vor allem auch volksliturgische Motive in der Allerseelen-Memoria prägen die Friedhofsprozessionen und die Gräbersegnung (F) sowie das liturgische und volksfromme Brauchtum im Umkreis der Feier des Doppelfestes Allerheiligen-Allerseelen (G).

Eine komprimierte Zusammenschau des gesamten Werkes bietet Teil H »Die Feier von Allerseelen in der abendländischen Kirche«. Insgesamt wird deutlich, warum und wie Christen ihrer Toten gedenken ­ nicht, damit sie leben, sondern weil sie leben. Denn ihr Glaube bezieht sich auf einen Gott der Lebenden, nicht der Toten. Bei ihm sind alle lebendig. Mit dieser Sinnspitze ist die christliche Totenmemoria als das »Entscheidend-Unterscheidend Christliche« bewusst einzubringen in eine plural werdende Memorial-Kultur.