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Ausgabe: | April/2006 |
Spalte: | 459–463 |
Kategorie: | Ökumenik, Konfessionskunde |
Autor/Hrsg.: | Willems, Joachim |
Titel/Untertitel: | Lutheraner und lutherische Gemeinden in Russland. Eine empirische Studie über Religion im postsowjetischen Kontext. |
Verlag: | Erlangen: Martin-Luther-Verlag 2005. 471 S. m. Abb. u. Tab. 8°. Kart. Euro 30,00. ISBN 3-87513-142-8. |
Rezensent: | Reinhard Slenczka |
Sozialempirische Untersuchungen gehören seit Jahrzehnten zu den selbstverständlichen Mitteln von Kirchen- und Gemeindeleitung. Kirchliche Wirklichkeit wird dabei mit zwei Mitteln erfasst: Statistik als in Zahlen erfasste Bestandsaufnahme, bei der hohe Zahlen positive und niedrige bzw. abnehmende Zahlen negative Werte darstellen. Demoskopie mit Fragebögen und Interviews, um zu erfahren »was sagen die Leute ?« (vgl. Mt 16,13). Auf diese Weise soll die gesellschaftliche Basis erfasst werden, die als maßgeblich für die Entwicklung der kirchlichen Verhältnisse in einer Volkskirche angesehen wird. Der Vf. dieser Hamburger Dissertation orientiert sich dazu vor allem an Thomas Luckmann und Peter L. Berger zur Beantwortung der Frage, »welche Auswirkungen der erneute Modernisierungsschub und vor allem der Pluralisierungsschub der letzten fünfzehn Jahre auf die gesellschaftlichen Muster hatte« (106) und » dass sich im Zuge von Modernisierung und Pluralisierung der gesellschaftliche Ort der Religion ändert« (125). Wenn es vor 40 Jahren immerhin noch zaghafte Einwände gegen die Anwendung von Sozialempirie für die Kirchenleitung gab, so werden solche Bedenken heute weithin auf völliges Unverständnis stoßen. Doch gerade im Blick auf die Kirchen, die unter einem militanten Atheismus ein halbes bis ein dreiviertel Jahrhundert überlebt haben, muss man die beiden Bereiche sehen, in denen diese Verfahren ursprünglich lokalisiert sind: Das sind zum einen Werbung und Propaganda, bei denen es im Verhältnis von Angebot und Nachfrage um die Steigerung von Absatz und Zustimmung geht. Das ist zum anderen die marxistische Religionstheorie, die davon ausgeht, dass die soziale und materielle Basis den religiösen Überbau bestimmt und verändert, was nach »wissenschaftlicher Begründung« zum Absterben der Religion im Übergang von der feudalen zur sozialistischen Gesellschaft führen sollte. (Dass der in der evangelischen Theologie vorherrschende Historismus mit seinem »Geschichtspantheismus« [R. Bultmann] von denselben ideologischen Voraussetzungen ausgeht, sei wenigstens am Rande erwähnt.) Die Kirchen, oder man sollte besser sagen: die Gemeinden, die Jahrzehnte der Verfolgung und Anfechtung überstanden haben, sind indes das sichtbare Zeugnis dafür, dass eben nicht die Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen ihren Bestand gesichert hat, sondern die Entscheidung zwischen Bekennen und Verleugnen und die Erfüllung der Verheißung ihres Herrn » die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen« (Mt 16,18). In dem Maße, wie sich die Archive der Sowjetzeit öffnen, kann man immer nur staunen, was hier alles geschehen ist.
Dieser Einwand trifft freilich die Voraussetzungen und das Ziel dieser Untersuchung. Allerdings sehe ich persönlich nach langen Jahren der Begegnung mit Kirchen unter der Sowjetherrschaft und schließlich nach acht Jahren Tätigkeit im »postsowjetischen Kontext« der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands gerade darin ðe contrarioÐ einen aufschlussreichen Beitrag dieser nach ihren eigenen Voraussetzungen in Anlage und Durchführung sicher konsequenten Untersuchung. Sie besteht aus zwei unterschiedlichen Teilen: Zum einen bieten Kapitel 2 »Die Geschichte und Gegenwart des Luthertums in Russland« und Kapitel 3 »Religion und Gesellschaft in der Geschichte Russlands« einen guten und eindrucksvollen Überblick über vieles, was entweder im Westen unbekannt oder aber durch oberflächliche Klischees verdeckt ist. Dazu gehört vor allem auch die Kontinuität der religionspolitischen Problematik und Gesetzgebung in dem russischen Vielvölkerstaat oder besser: Kolonialreich. Zur Zarenzeit ebenso wie unter der Sowjetherrschaft ging es durchweg um die Sicherung der politischen Einheit angesichts des religiösen und ethnischen Pluralismus. Das zeigt sich in der Religionsgesetzgebung, in der z. B. für die ursprünglich kongregationalistisch organisierten lutherischen Gemeinden von Zar Nikolai I. 1832 ein »Gesetz für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland« mit einheitlicher Kirchenordnung und Gottesdienstordnung erlassen wurde (85). Es zeigt sich aber ebenso in Lenins »Dekret des Rats der Volkskommissare« vom 23. Januar 1918 mit der Trennung des Staats von der Kirche und der Kirche von der Schule (94). In der sehr knappen, jedoch die Problematik treffenden Darstellung eines umfangreichen Materials wird vom Vf. gezeigt, dass der Zerfall der Religion in Russland keineswegs nur auf die Sowjetherrschaft und ihre »Staatsreligion« (95) zurückzuführen ist. Wenn man nicht gerade die Trennung von Staat und Kirche als eine neuzeitliche Errungenschaft fortschreitender Entwicklung sieht, dann wäre hier die Frage nach dem Verhältnis von politischer und religiöser Gemeinschaft zu stellen, die gerade heute weltweit ein völlig ungelöstes Problem ist, vor dem wir in überraschter Hilflosigkeit stehen, weil die Meinung weit verbreitet ist, Religion sei durch die Neuzeit und ihr Weltbild überholt.
Ein zweiter Teil der Untersuchung mit den Kapiteln 4 und 5 enthält die empirische Untersuchung und die Analyse des damit erschlossenen Materials. Erhebungen mit Fragebogen und durch Interviews wurden an fünf Orten mit Gottesdienstbesuchern in lutherischen Gemeinden durchgeführt: Moskau, Orenburg, Omsk, Orsk, Sol¹Ileck. Der Vf. ist sich selbst völlig darüber im Klaren, dass seine Befragung nach Grundlage und Umfang in keiner Weise repräsentativ sein kann. Manche Gemeindeglieder haben auch eine solche Befragung abgelehnt. Gleichwohl zieht er aus dem sehr begrenzten Material sehr weitreichende Folgerungen.
Interessant ist zunächst einmal, wonach gefragt wird, und das sind fünf Themenkreise: 1. »Die Glaubensdimension«, 2. »Die religiöse Praxis oder rituelle Dimension« mit Beteiligung an Gottesdiensten und privatem Gebet, Bibellektüre, 3. »Die Erfahrungsdimension« »mit Gott oder dem Transzendenten«, 4. »Die Wissensdimension« und schließlich 5. »Die Konsequenzdimension«, die sich vor allem auf den Bereich von Ethik und Moral bezieht (144). Diese Themenkreise werden in einem Fragebogen mit immerhin 50 Fragen erfasst.
Die gestellten Fragen zeigen durchweg die westliche Perspektive, wenn bei den Gottesdienstbesuchern etwa nach der »Göttlichkeit« (sic!) Jesu Christi gefragt wird, nach der Auferstehung der Toten, dann aber natürlich auch nach Darwinismus, Frauenordination, Abtreibung und Homosexualität, also Themen, die im westlichen Protestantismus als Bekenntnisfragen angesehen werden. Nach meiner Erfahrung lösen solche von westlichen Theologen importierten Problematisierungen eigentlich nur Kopfschütteln in höflicher Verwunderung aus, weil das durchweg Themen sind, an denen sowohl in sowjetischer wie in postsowjetischer Zeit die Grenze zwischen christlichem Glauben und atheistischer Gesellschaft verläuft. Der allem zu Grunde liegende Entscheidungspunkt wird jedoch an keiner Stelle direkt angesprochen, nämlich die Frage, ob die Heilige Schrift Gottes Wort ist oder nicht. Dass sich an dieser Stelle gerade auch im postsowjetischen Kontext die Geister scheiden, ist zwar empirisch zu belegen, doch praktisch schwer zu verstehen und verständlich zu machen. Dies zeigt sich nun auch an der Typisierung, die aus der Befragung und weiteren Interviews abgeleitet wird:
Einige Stichwörter aus der Befragung erscheinen als Überschrift bei der Auswertung und dienen als Anhaltspunkte für die sozialempirische Typisierung. Nach Form und Inhalt handelt es sich dabei um persönliches Zeugnis, wie die folgenden Antworten auf die Frage zeigen, was die Befragten an die Kirche bindet: »Also das Wichtigste ist, dass ich Gottes Wort höre« (286) »Und die Seele findet Ruhe« (290) » ich will mein Leben dem Herrn weihen« (292) »Ich bleib an dem, was ich gelernt hab« (296) »Also dies Wort ðGemeindeÐ ist für mich gleichbedeutend geworden mit ðFamilieЫ (298) »Statt Ritualismus Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist und Studium der Bibel« (301) »Deutsche Tradition und die ðSchejnheitÐ eines ðrichtigenÐ Gottesdienstes« (304) »Teilhabe an einer alten Religion und Freude über die Liebe Gottes« (308).
Diese und andere Zitate liefern der Untersuchung die Stichwörter für eine dreigliedrige Typisierung der befragten Gemeindeglieder: 1. Der »traditionale Typ«, der am Überkommenen festhält, 2. der »ethnische Typ«, der am Deutschtum interessiert ist, und schließlich 3. der »häretische Typ«. Diese missverständliche Bezeichnung geht von Peter L. Bergers Buch »Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft« (Ffm 1980) aus und bezieht sich auf den Vorgang einer Wahl unter den Angeboten des religiösen Pluralismus (312 ff.358). Schon nach den Bezeichnungen ist diese Typologie von dem Schema »konservativ« und »liberal« gekennzeichnet. Dabei stehen, wie die Auswertung auf Schritt und Tritt zeigt, auf der einen Seite die »brüdergemeinschaftlich« eingestellten Gemeindeglieder, die als konservativ und unmodern beschrieben werden; auf der anderen Seite stehen die »liberalen« Gemeindeglieder, die sich vor allem in neu gegründeten Großstadtgemeinden mit höherer Bildungsstufe und Westkontakten finden sollen.
Es können einem die Tränen kommen, wenn man die ausführlich zitierten persönlichen Glaubenszeugnisse von Gemeindegliedern aus der Verfolgungszeit liest, die nun unter die Kategorie ungebildet, veraltet und unmodern, »Passivität«, »Welt- fremdheit« subsumiert werden und so auch in den Statistiken auftauchen (vgl. bes. 321 ff.). Kein Gedanke daran, dass es genau diese Gemeinden gewesen sind, die die schlimme Verfolgungszeit bestanden haben! In den Verhörprotokollen aus der Sowjetzeit sind genau diese Zeugnisse von Christen zu finden.Wenn wir das besondere Phänomen des »ethnischen Typs« unter den russländischen Lutheranern übergehen, zeigt sich nun der Gegenpol im »häretischen Typ« mit folgendem Zitat: »Wurde die spezifische ðun-Ð oder ðvormoderneÐ Prägung des traditionalen Typs mit seiner sozialen Stellung am Rande der Gesellschaft in Bezug gesetzt, so lässt sich entsprechend die spezifisch ðmoderneÐ Prägung des ðhäretischenÐ Typs aus seiner gesellschaftlichen Verortung erklären. Bei seinen Vertretern (übrigens nicht zufällig die Mehrzahl der in den Stadtgemeinden Interviewten) handelt es sich in den meisten Fällen um Akademiker, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, politisch interessiert sind und sich mit Wissenschaft und Kunst beschäftigen«. Sie sind »durch die moderne, pluralistische Gesellschaft geprägt« (359).
Es ist schon erstaunlich, in welchem Maße hier sehr begrenzte empirische Erhebungen ganz bestimmten wertenden Vorurteilen blindlings zugeordnet werden.
Dafür ein Beispiel: Zitiert wird aus einem Bericht von Bischof Heinrich Rathke, der lutherische Gemeinden in Russland betreut und sie daher auch von innen her verstanden hat. Er stellt fest, »dass es viele Momente geistlichen Lebens in den Brüdergemeinden gebe, ðdie uns von unseren Gemeinden [in Deutschland] fremd sind und eher an gemeinschaftliche und freikirchliche Frömmigkeit erinnernÐ. Dennoch sehe er ðeinige wesentliche Punkte, an denen diese Gemeinden die Erkenntnis der Reformation Martin Luthers bewahrt bzw. neu entdeckt habenÐ: Erstens lebten sie ðintensiv aus dem Wort der BibelÐ und verstünden zweitens ðdie Schrift vom Zentrum, vom Gekreuzigten herÐ. Drittens ðhängen sie daher an der Lutherbibel und an Luthers Kleinem KatechismusÐ. Viertens praktizierten sie ðdas Priestertum aller GläubigenÐ und hätten fünftens gelernt, ðganz aus der Gnade zu lebenЫ (393). Auf der folgenden Seite ist dann zu lesen: »Eine Folge dieser vorkritischen Hermeneutik ist, wie dargestellt, der lebendige Glaube an Gottes Wirken in der Welt im Sinne eines Zusammenhangs von Tun und Ergehen. Dieser Glaube allerdings steht zugleich den weltlichen Dingen ausgesprochen passiv, fatalistisch gegenüber In Anbetracht der gewandelten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist allerdings zu fragen, ob diese weltabgewandte Haltung noch zeitgemäß ist « (394 f.). So lautet das Verdikt der Untersuchung: »Das Verschwinden des ðeigentlichenÐ traditionalen Typs ist allerdings mit Sicherheit vorauszusagen« »Der ðhäretischeÐ Typ (hat) mit Sicherheit die größte Zukunft« (411.413). Im Klartext heißt das: Die Glaubensgewissheit, von der diese Gemeinden in der Verfolgung getragen wurden, passt nicht mehr in die heutige Zeit!
Die Perspektive dieser Untersuchung mit ihren Voraussetzungen kann nicht einem einzelnen Autor angelastet werden; denn sie ist weithin symptomatisch dafür, wie viele westliche Vertreter von Kirche und Theologie die Kirchen im postsowjetischen Kontext beurteilen und wie dann vor allem versucht wird, durch entsprechende Methoden und Fortbildungsmaßnahmen für »Gemeindeaufbau« die Entwicklung von »neuzeitlichen«, »zeitgemäßen« oder »volkskirchlichen Strukturen« voranzutreiben. Dabei muss man zunächst einmal sehen, dass das volkskirchliche Problem der distanzierten Mitgliedschaft von Kirchensteuerzahlern, von denen nur ein Bruchteil den Gottesdienst besucht, überhaupt nicht auf die Gemeinden passt, bei denen meist mehr Gottesdienstbesucher als Kirchgeldzahler im Gottesdienst sind. Ferner muss man sehen, dass die Spannung zwischen liberal und konservativ durchaus die Kirchen durchzieht und immer wieder auch zu Kirchentrennungen führt, bei denen freilich auch deutsche und amerikanische Spaltungen im Luthertum importiert und finanziert werden können. Was hier an Pressionen ausgeübt wird, ist erschütternd, vermutlich aber nur von innen zu sehen.
Doch für das wunderbare Wirken des Heiligen Geistes bei der Ausbreitung und Erhaltung der Kirche Jesu Christi, auch in Anfechtung und Verfolgung, muss dieser Geist selbst uns die Augen öffnen.