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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1342–1345

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bahr, Petra

Titel/Untertitel:

Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A. G. Baumgarten und I. Kant.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. X, 332 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 9. Kart. €59,00. ISBN 3-16-148179-8.

Rezensent:

Roderich Barth

In ihrer im Wintersemester 2002/03 von der Theologischen Fakultät der Universität Basel im Fach Systematische Theologie angenommenen Dissertation verfolgt B. drei Forschungsinteressen, die in dem gleichsam die Kunstphilosophie J.-F. Lyotards zusammenfassenden Titel koinzidieren. Zunächst geht es um eine »Vorgeschichte« (2) des für Schleiermachers Denken maßgeblichen Darstellungsbegriffs, die jedoch mit A. G. Baumgarten und Kant nicht weniger prominent besetzt ist. Das Darstellungsthema dient sodann als Parameter für die Entwicklung der Ästhetik in der 2. Hälfte des 18. Jh.s – meistenteils in poetologischer Konkretion. Im »ästhetischen Untergrund« (5) wirke die Rhetorik mit ihren antiken Traditionen »aller antirhetorischen Emphase der Zeit zum Trotz« (4) als produktive Basis weiter. So liest sich die Abhandlung gleichsam auch als eine Geschichte der Rhetorik nach der Rhetorik. Die rhetorischen Motive stehen schließlich für die anthropologische Reichweite des »aisthesiologischen« (29) Neuansatzes, dessen Konzept menschlicher Welt- und Selbstauslegung auch für die christliche Religion und Theologie bestimmend wurde. Deren historische Ausdrucksgestalten sind nicht nur vorzüglicher Gegenstand einer kulturwissenschaftlich verstandenen Theologie, sondern stellen auch die kategorialen Mittel einer religionsphilosophischen Ortsbestimmung bereit. Daher mündet B.s Studie in eine »darstellungstheoretische« Definition der Religion (301).
Der 1. Teil (11–170) handelt von Baumgartens ›Neuer Wissenschaft‹ der ›repraesentatio sensitiva‹. B. erkennt hierin eine Theorie »darstellenden Handelns« avant la lettre. Der Schleiermachersche Lehnbegriff soll mentalistischen und kognitivistischen Engführungen vorbeugen und der ›piktoralen und performativen Dimension‹ (57–61) Ausdruck verleihen. Die souverän in Debattenzusammenhänge und übergreifende Theoriebezüge eingezeichnete Genese dieser bereits in Baumgartens philosophisch-poetologischer Dissertation (1735) greifbaren Darstellungstheorie wird von B. als ein vielschichtiger Prozess der »Umbesetzung« (47 u. ö.) in zentralen Positionen des Theoriearrangements inszeniert. Von der Rezeption Baumgartens im 18. Jh. (Meier, Mendelssohn, Herder, Klopstock, Kant) und seiner kulturphilosophischen Langzeitwirkung (Groce, Cassirer) ausgehend beschreiben die Kapitel 1 und 3 den eingeleiteten »Paradigmenwechsel« (15) in seiner inneren Ambivalenz. Im Halleschen Fluidum zwischen Pietismus und Wolffianismus leite Baumgarten bahnbrechende Transformationsprozesse ein, indem er den »sinnlich-individuellen Weltzugang« (41) als einen eigenen Theoriegegenstand etabliere. Die damit einhergehende ›Depotenzierung des logisch-mathematischen Kalküls‹ samt seiner von Gottsched vertretenen ästhetischen Variante, der Imitatio-Lehre (66 ff.), kristalliere sich in der Konzeption einer auf metaphorische Vermittlung angewiesenen »ästhetischen Wahrheit« (72 ff.). Dieses »analogon rationis« sei keineswegs als Defizienzform projektiert, sondern konfrontiere den Bestimmtheitsgewinn der abstraktiv-diskursiven Welterschließung mit einer gegenläufigen Verlustrechnung. Die poietisch-poetischen Vollzüge erhalten so vor dem Horizont der metaphysischen Wahrheit eine Auszeichnung als »repraesentationes praegnantes«, die vermöge ihrer Fülle, Komplexität und Latenz nicht nur eine heuristische Produktivität entfalten (91–101), sondern sich auch auf die »ganze Seele« (101) erstrecken. Im Um kreis der Influxus-Physicus-Lehre (auch der dezidierte Gegner derselben, Ch. Wolff, wird darunter subsumiert, 105), könne so der Körper in seiner affektiven Ausdrucksdimension als Medium der Darstellung fungieren. Das anthropologische Zentrum der sinnlichen Darstellungsvollzüge (die Gesamtheit der dunklen Vorstellungen) heißt bei Baumgarten »fundus animae«. Hierin sei ein vorprädikatives Selbstverhältnis (B. nennt es »Selbstgefühl«, 82.169) enthalten, das überdies auf den »immer schon entzogenen Grund des Selbst« (83) bezogen sei. Damit sind metaphysische und religiöse Implikationen benannt, die B. Leibnizscher Provenienz zuschreibt, aber lediglich in einem Exkurs (85–91) andeutet.
Die produktive Tiefendimension der Rhetorik wird von B. den beiden im engeren Sinne der Darstellungstheorie Baumgartens gewidmeten Kapitel jeweils nachgeschaltet (2. und 4. Kapitel). Baumgarten schließe mit der Einbeziehung der Ausdrucksdimension (»proponere«, 47 ff.) an die Tradition der Rhetorik an und unterziehe sie zugleich einer »anthropologischen Revision«, die durch Aufwertung von Sinnlichkeit und Individualität die anthropologische Wende in der 2. Hälfte des 18. Jh.s einleite. Um die Rhetorizität der »ästhetischen Wahrscheinlichkeit« Baumgartens kenntlich zu machen, holt B. zu einer fulminanten Zusammenschau aus: rhetorische Evidenztechniken (Aristoteles bis Quintilian, 110–119) mit der Rhetorik eines Hallbauer (1763) einerseits, protestantische Innerlichkeits- und Ausdruckskultur (Luther bis Francke und Spener, 119–136) mit dem Akkommodationstheorem eines Fellmer (1742) andererseits. So wird die Verwurzelung von Baumgartens persuasiv-sinnlicher Gewissheit in den rhetorischen Evidenzvorstellungen deutlich und kann als ein perspektivischer Zugang sui generis zu einer verborgenen Sinnschicht gewürdigt werden. Das an den 2. Teil heranführende 5. Kapitel zeichnet »die Entdeckung der produktiven Einbildungskraft« innerhalb der poetologischen Debatte zwischen Gottsched auf der einen, Bodmer und Breitinger auf der anderen Seite nach. Das bei den Schweizern in die »inventiv-innovativ wirkende Einbildungskraft« (166) »säkularisierte Wunderbare« erhalte in Baumgartens Seelenlehre seine prinzipielle Fassung (168 f.).
Der 2. Teil (170–299) zielt auf Kants Symboltheorie nach §59 der ›Kritik der Urteilskraft‹. Da Kant hier den Darstellungsbegriff als deutsches Äquivalent zum rhetorischen Topos der Hypotypose einführt, kann B. nach Baumgartens »psychologischer Transformation« nun eine »transzendentale Anverwandlung« der »rhetorischen evidentia-Lehre« identifizieren (269). Trotz Kants expliziter Kritik an der Rhetorik komme sie »so in einem entscheidenden Moment und zugleich im Zentrum seiner Philosophie ins Spiel« (270). Nach Kant ist das ästhetische, als reflexives auf einem subjektiven Gefühlszustand basierende Urteil im Gegensatz zum Erkenntnisurteil nicht auf die Bestimmung des Gegenstandes der Vorstellung bezogen. Entgegen neueren kunsttheoretischen Lesarten sei Kants eigenes Sachinteresse in der Freilegung einer elementaren Form »bedeutsamkeitsgenerierender, sinnlich-anmutender Gestaltung« (190) zu erblicken, die zwar religionstheoretisches Innovationspotential enthalte, aber nicht mit dem Entdifferenzierungsprogramm einer ›Kunstreligion‹ verwechselt werden dürfe (193 f.). Das für die reflektierende Urteilskraft einschlägige Prinzip der Zweckmäßigkeit wird erst im 2. Kapitel thematisiert, und zwar im Zusammenhang der These, dass nicht nur der teleologische, sondern auch der ästhetische Teil der ›Kritik der Urteilskraft‹ als eine Auseinandersetzung mit dem »physikotheologischen Deutungssyndrom« zu verstehen sei. B. belegt dies mit einer kenntnisreichen Darstellung dieses »massenkulturellen Phänomens« (199), das sich ab dem 17. Jh. ausgehend von naturwissenschaftlichen Diskursen über bildungsreligiöse Strömungen bis zur ›Physikopoetik‹ erstreckt. Entgegen einer metaphysischen Verklammerung dieser Diskurse laufe Kants Theorieintention auf eine konsequente Ausdifferenzierung hinaus (213). Bevor B. Kants Konzeption regulativer Ideen als eine dem ästhetischen Urteil analoge Umdeutung der Physikotheologie ausführt (244–253), widmet sie sich eingehend Kants eigener ›Analytik des Erhabenen‹ (215–244). Nicht in der Gegenständlichkeit unserer Naturbetrachtung ist das Erhabene zu verorten, sondern in einem »Selbstachtungsgefühl« (231), das sich einstellt, sobald das vergebliche Abarbeiten der Einbildungskraft an der Versinnlichung der Vernunftidee gleichsam umschlägt und als ›negative Darstellung‹ Letztere erschließt. Diese »Subjektivierung des Erhabenen« (230) in ein »Geistgefühl« (232) vollziehe Kant jedoch, »ohne die bleibende Bezogenheit dieses Gefühls auf konkret gefühlte Emotionen und da mit jene unvertretbare Leibhaftigkeit … eines perspektivischen Weltverhältnisses« (237) zu leugnen.
»Die Subjektivierung des Erhabenen verlangt jedoch nach einer näheren Bestimmung des Darstellungsbegriffs über das, was er negiert, hinaus« (243). Einen zentralen Aspekt der »Darstellung des Absoluten« als des »Undarstellbaren« (257) erblickt B. in der Genietheorie des § 49 der ›Kritik der Urteilskraft‹ (4. Kapitel). Die anschauliche Begriffstranszendenz der ästhetischen Idee komme hier als ›symbolische Darstellung‹ (258) der Anschauungstranszendenz der Vernunftidee in den Blick. Gleichsam als deren »ordo invers[us !]« habe die ästhetische Idee »Versinnlichungskompetenz« (244). Kants Hinweise zur inneren Verwiesenheit der ästhetischen Idee auf den Begriff bleiben jedoch unerläutert wie auch der Darstellungsbegriff der ›Ersten Einleitung‹. Die vermögenspsychologische Konsequenz besteht nach B. (5. Kapitel) in einer »Entgrenzung der produktiven Einbildungskraft«, die nicht auf Bestimmung, sondern auf Vergegenwärtigung des »Spielraums des Bestimmens selbst« (265) zielt. Dieses »in der Erfahrung« (266) vollzogene Ansinnen der Ganzheitsintention der Vernunftidee werde schließlich in Kants Symboltheorie (§ 59) auf seine Medialität hin präzisiert (6. Kapitel). Neben rhetorikaffinen Aspekten (272 ff.), zeichen- und sprachtheoretischen Korrekturen (278 ff.) weist B. werkgeschichtliche Vorformen auf, welche bereits die religionsphilosophische Valenz des Symbolbegriffs unterstreichen (274). Das Herzstück von Kants Symboltheorie, den Analogiebegriff, meint B. nicht nach seiner logischen Provenienz rekonstruieren zu dürfen, sondern sieht hier im Anschluss an Blumenberg vielmehr eine »metaphorologische Variation« (280 ff.) vorliegen. Der »Höhepunkt« (292) in religionsphilosophischer Sicht bestehe aber in Kants Rehabilitierung des ›symbolischen Anthropomorphismus‹, die den Kritizismus gleichsam in eine »Philosophie des Bildermachens« (287) auslaufen lasse. Diese unhintergehbare Interpretativität und Symbolizität ästhetisch-religiöser Auslegungsvollzüge impliziere für die Theologie nicht nur ein »Revisionsprogramm« (289), sondern darin auch Erschließungspotential für den »kulturell tradierten und bewährten Bildervorrat« (290).
Das Ganze überblickend lässt sich fragen, ob die starke Gewichtung der Rhetorik auf der einen, der Sinnlichkeit auf der anderen Seite nicht zu einer übermäßigen Kontrastierung gegenüber den logisch-metaphysischen Aspekten führt, die doch gerade mit Blick auf den Darstellungsbegriff und nicht zuletzt bei Kant wirksam wurden – der mathematischen Konstruktion in der Anschauung, also dem Darstellungsbegriff der ersten ›Kritik‹, werden nur zwei Seiten gewidmet (176 f.). Bereits A. Baeumler hat gerade in diesem Problemtableau eine produktive Affinität zum Werden der neuen Ästhetik erblicken können. Daher war für ihn etwa die Bedeutung Wolffs, allem voran seine empirische Psychologie, kaum zu überschätzen, während ein prinzipieller Gegensatz zwischen Gottsched und den Schweizern zu bestreiten sei. Bezüglich des Verhältnisses von Baumgarten und Kant hingegen hätten die Differenzen mitunter schärfer konturiert werden können. Der Abschied von der für Baumgarten und noch den frühen Kant maßgeblichen Vollkommenheitsästhetik oder die Tragweite der symboltheoretischen Differenz gegenüber Baumgarten und Meier, die Kant dann auch von neueren Symboltheorien (Cassirer) scheidet, wird nur unzureichend deutlich.
Unbeschadet dieser Anfragen liegt mit dieser glänzend geschriebenen Studie jedoch ein imposanter Zugriff auf die Ästhetik und Religionsphilosophie des 18. Jh.s vor, der gleichsam als steter Tropfen den Stein hartnäckiger Aufklärungsvorurteile auszuhöhlen vermag, da er den Reichtum und die Aktualität dieser Epoche unterstreicht. Eine Fortführung dieser Arbeit zum Schleiermacherschen Darstellungsbegriff unter Einbeziehung Herders und vor allem spinozistischer Motive wäre wünschenswert.