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Ausgabe:

April/1998

Spalte:

344 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Silva-Gotay, Samuel

Titel/Untertitel:

Christentum und Religion in Lateinamerika und der Karibik. Die Bedeutung der Theologie der Befreiung für eine Soziologie der Religion.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1995. XXII, 465 S. 8° = Würzburger Studien zur Fundamentaltheologie, 17. Kart. DM 98,­. ISBN 3-631-45772-3.

Rezensent:

Hans-Jürgen Prien

Diese Studie ist 1978 von der philosophischen Fakultät der Autonomen Nationalen Universität von Mexiko als Dissertation angenommen worden. Es erscheint irgendwie als symptomatisch für unsere verzögerte Wahrnehmung der wissenschaftlichen Arbeit Lateinamerikas, daß es des publizistischen Aufwindes des Jahres 1992 und der Bemühung mehrerer Wissenschaftler bedurfte, ehe diese in ihrer Art einmalige Untersuchung, nachdem sie im spanischen Sprachbereich schon in 2. Aufl. erschienen ist, endlich bei uns herauskommt, wobei sich drei Übersetzer und zwei Überarbeiter um die deutsche Fassung bemüht haben. Enrique Dussel gibt in einem erweiterten Geleitwort zur deutschen Ausgabe einen Überblick über die Entwicklung der Theologie der Befreiung (ThdB) von 1972, dem Jahr, mit dem Silva-Gotay seine Arbeit abschließt, bis in die achtziger Jahre. Vielleicht hat diese Verzögerung den Vorteil, daß der Leser sich nach Abklingen der Euphorie über die ThdB sine ira et studio mit deren bleibenden Herausforderungen auseinandersetzen kann.

Der Autor betont im Vorwort zur deutschen Ausgabe, daß die ThdB durch den Zusammenbruch des Kommunismus in Europa keineswegs obsolet geworden sei, da sie sich nicht mit dem real existierenden Sozialismus identifiziert habe und Ausdruck der Ent-Europäisierung der Theologie sei, ja daß sie sich immer weniger auf Lateinamerika beschränke, sich vielmehr in einem Prozeß der Globalisierung befinde.

Die Arbeit gliedert sich in neun Abschnitte:

1. Entstehungsbedingungen und vorbereitende Entwicklungen der ThdB; 2. Die Theoriekrise der europäischen Theologien in Lateinamerika; 3. Die lateinamerikanische Antwort auf die Theoriekrise der Theologie: die Wiedergewinnung der realen Geschichte als Ort der Erlösung; 4. Die hermeneutische Revolution: Wiedergewinnung des christlichen und befreienden Sinns des Reiches Gottes aus den biblischen Schriften; 5. Glaube und Politik: die Wiederentdeckung der politischen Dimension des Glaubens; 6. Glaube und Wissenschaft: der Wechsel des Ausgangspunkts der theologischen Reflexion und die Hineinnahme der Sozialwissenschaften in die Theologie; 7. Glaube und Ideologie: die Option des Glaubens für die Werte, Interessen und das historische und utopische Projekt des revolutionären Proletariats; 8. Unterwegs zu einer christlichen Ethik der Befreiung: Vergeschichtlichung der Werte und Politisierung der Ethik; 9. Folgerungen aus dieser Studie; ihre Implikationen für die marxistische Religionssoziologie.

Der Vf. ist Puertoricaner und vertritt nachdrücklich die Auffassung, daß Puerto Rico die einzige Insel der Gr. Antillen ist, die nicht ihre politische Unanghängigkeit erlangt hat. Die Optik eines protestantischen Verfassers von einem Territorium der USA aus auf die soziopolitische und theologische Entwicklung der Karibik und Lateinamerikas macht eine Besonderheit der Arbeit aus. Hilfreich ist, daß der Vf. die Entwicklung der protestantischen und katholischen Theologie Europas darstellt, die in Lateinamerika die Herausbildung der ThdB ermöglichten.

Die Stärke dieser Untersuchung liegt darin, daß sie dem Leser den Zugang zum Denkprozeß eröffnet, der in den sechziger und siebziger Jahren zur Entstehung und Ausbildung der ThdB führte. Insofern ist es eine historische Studie wider Willen, denn es geht dem Vf. ja um die Beschreibung eines Weges aus der Misere der Masse der Bevölkerung Lateinamerikas, die seit den siebziger Jahren eher noch zugenommen hat. Die Lösung heißt für ihn Übernahme des marxistischen Modells der Interpretation der sozioökonomischen Situation, wobei die revolutionäre Theorie die Enge des Atheismus überwinden müsse. Gleichzeitig werde mit der Krise der kapitalistischen Produktionsweise und dem Aufkommen des Sozialismus "nicht notwendig das Christentum verschwinden, wohl aber die Religion des bürgerlichen Christentums" (420). "... ThdB und die ’Christen für den Sozialismus’" könnten "die Gestaltung der neuen, sozialistischen Gesellschaft als ein ’sozialistisches Christentum’ begleiten" (423). Der Vf. zitiert am Schluß zustimmend Che Guevara: "Wenn die Christen sich mit der lateinamerikanischen Revolution vereinen, wird sie unbesiegbar sein". Und er zitiert den Kubaner Fernández Retamar: "Und was ist die Revolution anderes als eine neue Welt, einen neuen Menschen erzeugen?"

Genau hier liegt das Problem. Bei aller berechtigten Kritik an Gewalt und Druck der USA gegen revolutionäre Prozesse wie in Nikaragua oder Kuba muß man leider konstatieren, daß auch hier wie im Ostblock die Schaffung eines neuen Menschen und einer demokratisch partizipativen Gesellschaft nicht gelungen ist. Die Situationsanalyse der ThdB mit Hilfe der Dependenztheorie war nicht ausreichend. Aber die ThdB ist theologisch sehr befruchtend. Und das Versagen aller Entwicklungsmodelle und die Fortdauer der Misere in Lateinamerika verbieten es Christen und Kirchen in Europa nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, die Suche nach verantwortbaren Gesellschafts- und Wirtschaftsmodellen aufzugeben.