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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

204–206

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

O’Donovan, Oliver, and Joan Lockwood O’Donovan

Titel/Untertitel:

Bonds of Imperfection. Christian Politics, Past and Present.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2004. VI, 324 S. gr.8°. Kart. US$ 35,00. ISBN 0-8028-4975-X.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik ist durch die Entwicklungen der letzten Jahre in ungeahnter Weise in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses gerückt. Meist nähert man sich dieser Frage so, dass religiöse Orientierung als Unter- oder Hintergrund politischen Handelns in den Blick kommt. Letzteres wird selbstverständlich säkular begriffen, jedoch nimmt man verstärkt seine Verwurzelung in vorpolitischen Wertorientierungen, in charakterlichen Dispositionen und überhaupt in individuellen und kollektiven Identitäten wahr, zu deren prägenden Kräften die Religion gezählt wird. Die Vff. artikulieren in dieser Diskussion eine deutlich anders gelagerte Intention, indem sie vehement für eine Erneuerung der politischen Theologie eintreten. In den letzten Jahrzehnten hat es eigentlich nur eine Version einer solchen Theorie gegeben, die in der Praxis eminent einflussreich geworden ist, die katholische Naturrechtslehre. Es ist das Anliegen der Vff., dieser thomistischen Lehre die ältere Tradition entgegenzusetzen, die von Augustin her über die Franziskanertheologen des Mittelalters bis zu den Reformatoren reicht und noch bei Hugo Grotius anzutreffen sei. Diese soll in ihrer systematischen Relevanz zur Geltung gebracht werden.
Was zeichnet die Theorie aus, an die die Vff. erinnern wollen? Ein erster Teil von sieben Kapiteln soll hier historische Klärung schaffen. Die einzelnen Beiträge, beeindruckend durch die in ihnen dokumentierte Sachkenntnis, schlagen einen weiten Bogen: von der Johannesapokalypse über Augustin, Bonaventura, Wyclif, Luther, Erasmus bis hin zu Grotius werden Autoren in eindringenden Textanalysen diskutiert. Gezeigt wird, wie eine christologisch-eschatologische Perspektive zu einer beachtlich differenzierten Wahrnehmung des Politischen verhalf. Dieses erscheint auf der einen Seite als Einrichtung der göttlichen Vorsehung zur Regelung menschlichen Zusammenlebens unter den Bedingungen der Sünde, zum anderen aber auch als Ausdruck eben jener sündhaften Verfasstheit der Menschen und ihrer Rebellion gegen den göttlichen Willen. Der Bereich des Politischen ist so der Ort des Vorletzten, nicht der Ort soteriologisch-eschatologischer Erfüllung. Eine solche Wahrnehmung ist gleich weit von dem »idealistischen« Perfektibilismus wie dem »realistischen«, machtpolitischen Zynismus entfernt, die kennzeichnend für neuzeitliche politische Theorien seien. Zentraler Ausdruck der traditionellen politischen Theologie sei die Identifizierung politischer Macht mit dem Amt des Richtens (Röm 13,4). Die Regierenden unterstehen dem göttlichen Gesetz, und es ist ihre Aufgabe dieses anzuwenden: durch Herrschaft nach Gesetzen, durch Einsetzung von Gerichten und durch legislative Spezifikation des allgemein Vorgegebenen für die jeweilige Situation (209–220).
Diese heute entweder vergessene oder pauschal abgelehnte Tradition ist nun, wie die fünf Kapitel des zweiten Teils belegen sollen, erstaunlich aktuell. Die derzeit fraglos akzeptierte »liberale Demokratie« führt aus Sicht der Vff. in eine Reihe von Aporien, die es geraten erscheinen lassen, jene Stimme wiederum zu Gehör zu bringen. So beruhe das Prinzip der Gewaltenteilung auf der Vorstellung eines permanent (und letztlich arbiträr) legislativ tätigen Souveräns, dem dann in der Judikative eine de facto konkurrierende Rechtsquelle entgegengesetzt wird, wobei deren wechselseitige Kompetenzabgrenzung notorisch ungeklärt und entsprechend konfliktgeladen ist (220–224). Die Annahme universell gültiger Menschenrechte, um einen weiteren Punkt zu nennen, setze eine individualistische Anthropologie des Besitzes voraus (»possessive individualism«: auch die Rechte sind »Besitz«), die zur Verknüpfung von Menschenrechtspolitik mit ökonomischem Liberalismus führt und so den humanen Zweck politischer Ordnung effektiv durchkreuzt (73–77). Den letzten Beleg für die totale Herrschaft dieses Konzepts liefert ironischerweise die katholische Naturrechtslehre, die sich durch ihre Rezeption des Rechtebegriffs nicht vor den Konsequenzen dieser Logik retten kann und deshalb z. B. den Sinn von Subsidiarität als gemeinschaftliche Solidarität verfehlt (239–245).

Natürlich bleibt es nicht aus, dass solche Thesen Widerspruch provozieren. Unbefriedigend bleibt die oft pauschale Neuzeitkritik der Vff., die deutlich weniger präzise ist als ihre Rekonstruktion der älteren Tradition. So wichtig der Hobbessche Impuls zusammen mit seiner Modifikation durch John Locke ist, so wenig lässt sich die neuzeitliche Entwicklung darauf reduzieren. Für die scharfe Kritik der Vff. am Konzept der Menschenrechte ist eine solche historische Engführung freilich von fundamentaler Bedeutung. Weitet man hier den Blick, dann ändert sich von selbst die theologische Frage: Wird deutlich, dass die neuzeitliche Geschichte eben auch aus Versuchen besteht, den politischen Impuls des Christentums anders und besser umzusetzen, als Mittelalter und konfessionelles Zeitalter es vermocht hatten (und das wohl nicht gänzlich ohne Anlass!), ist die Theologie zu einem besseren Verständnis und nicht zur Ablehnung der Ergebnisse dieser Geschichte herausgefordert, konkret also zur Suche nach spezifisch theologischen Begründungen der Menschenrechte.

Die theologische Position, die die Vff. nachdrücklich forcieren, entspricht in lutherischer Perspektive grundsätzlich dem, was traditionell als usus politicus legis verhandelt wurde. Bedenkt man ihre Thesen aus diesem Blickwinkel, stellen sich mehrere weiterführende Fragen. Zunächst natürlich die, ob nicht trotz der peinlichen politischen Fehlurteile maßgeblicher lutherischer Theologen in den 30er Jahren jene Lehre ein bleibendes Recht für ein theologisches Verständnis des Politischen behält. Zweitens mag es interessant sein, sich von den Vff. darauf hinweisen zu lassen, dass Luther in seiner politischen Theologie Erbe einer Tradition ist, eine Einsicht, die über eine konfessionell-lutherische Engführung jener Lehre hinausführen könnte. Dabei ist drittens bemerkenswert, dass die patristischen und mittelalterlichen Belegautoren der Vff. viel stärker christologisch und viel weniger naturrechtlich argumentieren als die neueren Lutheraner – Letzteres war bekanntlich der theologische Hauptgrund für Barths vernichtende Kritik an deren Lehre. Was schließlich das Verständnis des Politischen selbst betrifft, werfen die Analysen der Vff. viertens die Frage auf, ob nicht das ausgesprochen »Hobbessche« Menschenbild der neulutherischen Lehre zentrale Ursache der politischen Fehlurteile seiner Exponenten gewesen ist, indem dieses sie daran gehindert hat, den providentiellen Aspekt der Existenz des Staates mit seiner die Sünde eindämmenden Funktion zusammenzudenken. Antworten auf diese Fragen könnten nur im Rahmen einer umfassenderen Rekonstruktion der Lehre vom usus politicus legis gegeben werden: Deren Fehlen wird bei dieser Gelegenheit schmerzlich bewusst.
Auch wenn der Rezensent Vorbehalte gegenüber einzelnen Positionen der Vff. hat, unterliegt es aus seiner Sicht keinem Zweifel, dass hier ein theologischer Meilenstein vorliegt, an dem für künftige Arbeit kein Weg vorbeiführt.