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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

189–191

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Chalamet, Christophe

Titel/Untertitel:

Dialectical Theologians. Wilhelm Herrmann, Karl Barth and Rudolf Bultmann.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2005. 327 S. 8°. Kart. € 37,00. ISBN 3-290-17324-0.

Rezensent:

Rainer Mogk

Die theologischen Entwürfe von Karl Barth und Rudolf Bultmann sind als zwei, letztlich konfessionell bedingte Ausformungen auf der Basis ihres bereits als dialektischer Theologe klassifizierten Lehrers Wilhelm Herrmann zu verstehen. Ausgehend von dieser steilen These möchte der jetzt in New York lehrende reformierte Schweizer Kirchengeschichtler Chalamet in seiner ursprünglich auf Französisch verfassten Genfer Dissertation die Debatte zwischen Barth und Bultmann mit Schwerpunkt auf den 20er Jahren des vergangenen Jh.s neu beleuchten.
In einem knappen ersten Teil (23–81) werden dazu die Wurzeln von Barth und Bultmann in der als dialektisch verstandenen Theologie Herrmanns aufgezeigt: Das Dialektische findet C. bei Herrmann an verschiedenen Orten: bei der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium (31 ff.), bei Gottes absolutem und personalem Sein, bei der Rede vom verborgenen und offenbaren Gott und auch beim epistemologischen Dualismus zwischen wissenschaftlicher, objektiver Erkenntnis auf der einen und Religion auf der anderen Seite, die individuell in der Offenbarung erfahren werde (37). Herrmann betone Gottes Transzendenz, in der Gott gerade in seiner Offenbarung verborgen bleibe (47). Mit seiner komplementären und antinomischen Denkweise, mit der Herrmann die Wahrheitsmomente des liberalen und des positiven theologischen Spektrums zusammenhalten wolle, ohne eine hegelsche Auflösung anzustreben, habe Herrmann die dialektische Ära schon eingeleitet (50.65).
Im zweiten umfangreichen Hauptteil (85–220) wird der Dialog zwischen Barth und Bultmann von 1914 bis 1930 nachgezeichnet: Dabei interpretiert C. den eigentlichen Neuaufbruch bei Barth zu Beginn des Ersten Weltkriegs nicht als Wechsel von einer liberalen, harmonisierenden Theologie hin zu einer dialektischen, sondern Barth greift seinen Lehrer, von dessen Einstellung zum Krieg er enttäuscht ist, mit dessen eigener Waffe, der Dialektik, an. Dazu verschiebt er nur das Gleichgewicht in der Dialektik hin zum Positiven und bettet das Negative ins Positive ein (97 f.). Dabei tritt an die Stelle der Barth fragwürdig gewordenen religiösen Erfahrung der Ausgang bei Gott selbst. Durch den Einfluss Blumhardts betont Barth nun den Sieg Gottes jenseits der und zu gleich in den Wirrungen des Hier und Jetzt. In der ersten Auflage des Römerbriefs entwickelt Barth eine nunmehr dreidimensionale Dialektik mit einer Aufhebung der Spannung von These und Antithese im Ostersieg (111 f.). Über den für die dialektische Theologie schulbildenden Tambacher Vortrag (1919), bei dem der Mensch nicht länger am Sieg Gottes, der Synthese, direkt partizipiert, gelangt Barth in der zweiten Auflage des Römerbriefs wieder zu einer stärkeren Betonung der Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung (Antithese) und damit zu einer Wiederannäherung an Herrmann, wobei Barth aber in seine Dialektik eine unumkehrbare teleologische Orientierung einzeichnet (132).
Bultmann kritisiert Barths ersten Römerbrief als eine Erneuerung des hellenistischen Christusmythos ohne Bezug auf konkrete Geschichte (117). In Bultmanns Kritik an Barths zweitem Römerbrief, die Bultmanns insgesamt größere Nähe zu Herrmann zeigt, finden sich bereits die Hauptaspekte der Debatte zwischen Barth und Bultmann: Bultmann fordert eine Sachkritik an der Bibel, lehnt die Rede von Gottes objektiver Realität im Interesse des pro me ab und betont selbst die Wahrhaftigkeit als Forderung des Gesetzes und als Weg zur Religion (145). Auf der anderen Seite bildet sich doch eine Arbeitsgemeinschaft beider, die auf Herrmann und dessen Betonung der Andersheit Gottes und der Verborgenheit Gottes in der Offenbarung fußt (146). Beide bestimmen die Sache der Theologie im Wort Gottes, wobei Bultmann der kritischen Seite Barths näher steht als der positiven. Erst 1925 formuliert Bultmann sein eigenes Lebensprogramm, den Weg zu Gott als Weg zu uns selbst, wobei Gott als der ganz Andere unsere Existenz bestimmt (163). Die nun einsetzende starke theologische Auseinanderentwicklung beider, die auch die (kirchen)politische Nähe in der NS-Zeit nicht aufhält, führt C. im Letzten – und darin folgt er Barth in ›Rudolf Bultmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen‹ (1952) – auf den konfessionellen Unterschied zwischen lutherischer und reformierter Tradition zurück (201.250): Das sola fide lässt Bultmann wie Herrmann gegen jede Objektivierung Gottes ankämpfen, damit Gott kein erkennbarer Gegenstand in der Verfügung des Menschen wird. Über das Glaubensobjekt darf für Bultmann nicht losgelöst vom Glaubenden, dem Glaubenssubjekt, gesprochen werden. Im Gegenzug wird die negative Seite, das Gesetz, als notwendiges und allen zugängliches Vorverständnis expliziert und die Philosophie, in diesem Fall Heideggers Phänomenologie, positiv rezipiert (271.278). Barth hingegen geht vom soli Deo gloria aus und will – gut reformiert – den unendlichen qualita tiven Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf festhalten. Dazu braucht er die positive, objektive Seite. Barth sieht nach C. hierbei nicht, dass Bultmanns Vorverständnis dazu dienen soll, gerade den verhüllenden Charakter der Offenbarung zu wahren und umgekehrt ist für Bultmann Barths supranaturalistische Dogmatik eine Gefahr für die Offenbarung Gottes, insofern der Mensch Gott in einem Lehrsatz zu haben meint (286). Beide versuchen aber den indirekten Charakter der Offenbarung zu wahren, Enthüllung und Verhüllung zusammenzudenken (287), und erweisen sich so stets als Dialektiker.
Um die Konsequenzen aus der Dialektik von verborgenem und offenbarem Gott, insbesondere um die Auseinandersetzung mit der Natürlichen Theologie bei Barth und der Entmythologisierung bei Bultmann geht es schließlich im dritten Teil (225–281), der auf die Zeit ab den 30er Jahren ausblickt: C. verneint einen durch den Einfluss Anselms ausgelösten bzw. im Anselm-Buch manifestierten Bruch bei Barth und schließt sich dabei – im Gegensatz zur lange Zeit dominierenden Rekonstruktion durch Hans Urs von Balthasar – Bruce McCormack und anderen jüngeren Barth-Interpreten an. Stattdessen sieht C. eine – eventuell von Karl Heim oder Walther von Loewenich mitangeregte (234 ff.) – im Wesentlichen jedoch kontinuierliche Entwicklung: Barth baute nur die Erkenntnis von 1915–1917 aus, dass nicht wir Menschen Gott haben, sondern Gott uns hat (227). Von Gottes Wort als Aufgabe der Theologie kam Barth zur dezidierten Betonung der Gabe Gottes (239). Barth musste zunächst durch ein gleichgewichtiges Nein erst alles Selbstvertrauen zerstören, bis er dann den positiven Aspekt ausbauen konnte. Für C. blieb Barth seinem dialektischen Grundanliegen treu, wobei er es anfangs aber noch nicht in seiner Reifeform durchführen konnte (229).

Obwohl Bultmann eine größere Nähe zu Herrmann bescheinigt wird, liegt ein gewisser Schwerpunkt der Darstellung in der Entwicklung der Dialektik bei Barth, vielleicht auch, weil C. behutsam andeutet, dass er Barths Ansatz für überlegen hält, insofern Barth Bultmanns Betonung der kritischen Seite in die positive integrieren bzw. aufheben könne (289). Auch mit der weitgehenden Kontinuität bei Barth und mit der Einordnung der Bultmannschen Position als lutherisch liegt C. ganz auf der Linie Barths. Die große Stärke der Arbeit besteht m. E. in dem weiten Bogen, den C. von Herrmann aus über die ganze Entwicklung von Barth und Bultmann zieht. Die Auseinandersetzungen zwischen Barth und Bultmann und ihr gegenseitiges Eingehen aufeinander werden – gerade auch unter umfangreicher Hinzuziehung der zum Teil unveröffentlichten Briefwechsel – präzise und konsistent herausgearbeitet. Der Fokus liegt dabei auf der Dialektik, und der ständige Rekurs auf den Lehrer Herrmann wirft ein neues Licht auf diese theologisch höchst spannende Debatte in den 20er Jahren. Doch die Stärke beinhaltet zugleich eine Schwäche, weil C. mit einem (zu) weit gefassten und damit unpräzisen Begriff des Dialektischen operiert. Dialektische Theologie wird als Gegenwart von gelösten oder ungelösten Spannungen zwischen zwei widersprüchlichen theologischen Aspekten wie verborgener und offenbarer Gott, Gesetz und Evangelium, Gericht und Gnade Gottes bestimmt (11). Darin drücke sich Gottes Anderssein und seine Transzendenz im Gegensatz zur liberalen Theologie aus, die die Realität von Gottes Offenbarung in seinem Wort aus dem Auge verloren habe (12). Was jedoch ist bei Herrmann wesentlich anders bzw. dialektischer an den bezeichneten Grundspannungen z. B. zwischen Gesetz und Evangelium im Vergleich zu seinen lutherischen Zeitgenossen? Indem C. sein Hauptaugenmerk im Lehrer-Schüler-Verhältnis auf die Dialektik richtet, geraten m. E. der fast schon existentialistisch anmutende Ausgang (besonders des späten) Herrmanns bei der Selbstwerdung des Menschen und die Rezeption bzw. Transformation dieses Weges zur Religion durch Bultmann und die Umkehrung dieses Ansatzes durch Barth in den Hintergrund. Das Proprium der Theologie Herrmanns tritt durch seine Betrachtung als Dialektiker weniger deutlich zu Tage.

Die Untersuchung regt gerade mit ihrer weitreichenden These neu zur Diskussion um die Wurzeln und den Werdegang der Dialektischen Theologie an.