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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

172–175

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Petracca, Vincenzo

Titel/Untertitel:

Gott oder das Geld. Die Besitzethik des Lukas.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2003. XIV, 410 S. 8° = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 39. Kart. € 64,00. ISBN 3-7720-2831-4.

Rezensent:

Reinhard von Bendemann

Der Titel dieses Buches schärft den Arbeitstitel der zu Grunde liegenden Dissertation weiter an, mit der der Vf. 2001 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal promoviert worden ist. In der überarbeiteten Fassung heißt es nun nicht mehr: »Gott und das Geld«, sondern: »Gott oder das Geld« (Kursivierung R. B.). Der Vf. klagt in der Sache ein, dass in der Erforschung der lukanischen Ethik literarische Interpretation (zu) lange einer Verharmlosung und Bagatellisierung derjenigen konkreten Impulse Vorschub geleistet hat, die unter vorrangig eschatologischen Vorzeichen auf eine radikale Distanzierung von der Mächtigkeit irdischer Habe zielen. Das Doppelwerk spiegele vielmehr eine fundamentale Perspektive, die die ältere einfache Alternative »Lukas als Evangelist der Armen« versus »Lukas als Evangelist der Reichen« bzw. eines apokalyptisch-ebionitischen und eines paränetischen Beschreibungsschemas transzendiere.
Die Arbeit gliedert sich in vier Hauptteile und 20 Unterabschnitte. Auf die Einleitung, die über bisherige Forschung orientiert, den eigenen Ansatz benennt und einen sozialgeschichtlichen Horizont umreißt (1–21; Unterabschnitte 1 und 2), folgt ein »erster Hauptteil« (23–283; Unterabschnitte 3–12), der zentrale Texte zur lukanischen »Besitzethik« exegetisch aufarbeitet. Behandelt sind in unterschiedlichem Umfang besonders Lk 1, 46–55; 4,16–30; 5,1–11.27–32; 6,20–26.27–38; 7,18–35; 8,1–3.4–15; 9,1–6; 10,1–16.25–37; 12,13–34; 14,7–35; 16,1–31; 18,18–30; 19,1–10; 21,1–4 und 22,35–38 (ein Stellenregister fehlt). Überraschend angesichts der diesbezüglichen Kritik des Vf.s an der älteren Forschung ist die geraffte Behandlung der einschlägigen Texte der Apg (253–283). Allerdings kommt die Apg in der Untersuchung auch vom dritten Evangelium her verschiedentlich in den Blick. Beispielsweise trägt der Vf. bedenkenswerte Beobachtungen und Argumente vor (109 f.282 f.), nach denen man Lk 22,35–38 nicht in herkömmlicher Lesart als Zäsur zwischen Jesuszeit und besitzethischem Verhalten in der Zeit der Kirche verstehen dürfe.
Der zweite Hauptteil der Arbeit widmet sich der Integration der Einzelexegesen. Zunächst wird eine sozialreligiöse Verortung der Lukasleserschaft angestrebt (285–292). Erhebliches Gewicht für die Methodik der gesamten Untersuchung trägt sodann die kompositionsgeschichtliche Analyse. Der Vf. rechnet nämlich mit einem eigenständigen Kompositionsprinzip der besitzethischen Texte im dritten Evangelium (293–313). Sodann werden die einzelnen konkreten Desiderate der Besitzethik ausdifferenziert (315–348) und in ein Koordinatensystem der lukanischen Theologie, Christologie und Pneumatologie eingebettet (349–355). Es schließen sich zwei Abschnitte an, die die lukanischen Befunde im traditionsgeschichtlichen Vergleich weiter profilieren sollen (synoptische Tradition und ältere apokryphe Apostelakten [357–376]). Am Ende der Arbeit stehen ein Resümee sowie Ansatzpunkte zur Aktualisierung des Themas (375–385).
Der Vf. vermeidet im Ansatz die einfache Alternative einer härteren und einer milderen, auf Ausgleich zielenden Linie lukanischer Aussagen zur Besitzproblematik. Er rechnet vielmehr mit einem »Pluralismus« der Positionen (8). Dieser Ausgangspunkt soll die Vorordnung älterer Wahrnehmungsraster zunächst ausschließen und führt zur Frage nach den Ursachen und Motiven für entsprechende Differenzen in der Bewertung der Habe bei Lukas einerseits wie zu der nach der erzählerischen Kohärenz andererseits. Der Vf. bestimmt seinen Ansatz als »kompositionskritisch-textpragmatisch« (10; vgl. 12). Textpragmatisch differenziere sich die lukanische Erzählstrategie nach verschiedenen Adressatenkreisen. Kompositorisch habe der auctor ad Theophilum die verschiedenen Linien jedoch in einem kompakten Er zählplan aufgefangen und erfolgreich zusammengeführt. Lk 1–7 biete – vor allem mit der Aktivierung des »reversal«-Schemas – die narrativ-programmatische Grundlegung. In Lk 10–21 folge hie rauf die Konkretisierung, die sich vor allem in der Gleichnisrede Jesu unter den Vorzeichen des Doppelgebotes der Liebe entfalte (vgl. 13.293 ff.; die Zuordnung von Lk 8 durch den Vf. changiert).

Im Methodischen sind Rückfragen angezeigt. In Kürze: Kompositionskritik, wie der Vf. sie vor allem im zweiten Hauptteil systematisierend vornimmt, bietet für sich genommen kaum ein suffizientes Instrument, pragmatischen Intentionen von Teil- oder Makrotexten umfassend auf die Spur zu kommen. Der Vf. ist sich der Problematik bewusst, dass die »implizite Leserschaft«, von der er ausgeht, nicht einfach auf die soziohistorisch präzisierbare Lebenswelt einer »realen« Leserschaft umzurechnen ist. Gleichwohl geht er methodisch immer wieder so vor, dass er die Auditorien der lukanischen Erzählung quasi allegorisierend auf differente (nach dem Vf. dominant heidenchristlich geprägte, aber auch jüdisch bzw. judenchristlich einzuordnende) Gemeinde-Fraktionen, darüber hinaus auf weitere Sympathisantenkreise hin befragt (vgl. 312.346 u. a.). Kriterien, wie derart unter den Adressaten differenziert werden dürfte, sind kaum sicher benennbar, wenn der Vf. beispielsweise selbst sieht, dass die Mahnungen an die Pharisäer als Erzählfiguren bei Lukas auch einer christlichen Leserschaft insgesamt gelten können. Auf ähnliche Schwierigkeiten stößt des Vf.s Unterscheidung prä- und postkonversionaler Mahnungen im lukanischen Werk. Erstere sind doch von Lk 1,1–4 her in der Erzählstrategie kaum motivierbar (vgl. auch 287 zum missionarischen Charakter des lukanischen Doppelwerkes). Bei der Verfasserfrage bleibt die Problematik der »Gottesfürchtigen« ausgeklammert (vgl. 285 f.). Theophilus gilt als reale Figur (291).
Einige Beschwernis bereitet vor allem das inversive Integrationsmodell, das der Vf. im zweiten Hauptteil entfaltet (298 ff.), da es
von den Texten her kaum zu begründen ist. Der Vf. rechnet mit einer inversiv-chiastischen Anordnung der lukanischen Besitzethik (besser: der einschlägigen Texte). Er verzichtet hier aber nahezu gänzlich darauf, sein besonderes erzähl-chiastisches Modell in Beziehung zu den äußerst zahlreichen alternativen inversiven Gliederungsmodellen der so genannten »central section« des Lukasevangeliums zu stellen, die mehrheitlich ihr Strukturepizentrum nicht in Lk 16,13 [im Kontext] finden (siehe hierzu auch: 163–180), sondern vielmehr im 13. Kapitel. So schön das Modell des Vf.s sich auch seiner These fügen würde, wären die beachtlichen Gegenargumente viel stärker in Rechnung zu bringen (vgl. z. B. die postulierte Korrespondenz an den hypothetischen Rändern von Lk 10,25–37 und 21,1–4, die semantisch kaum zu er härten ist). Kritische Rückfragen betreffen dabei sowohl die methodischen Grundprobleme so genannt chiastischer Gliederungen narrativer Texte im Allgemeinen (vgl. z. B. 210 zu Lk 18,18–30; 234 zu Lk 19,1–10) als auch die Spezialprobleme des erzählerischen Corpus des dritten Evangeliums im Besonderen (vgl. hierzu BZNW 101, 2002, 42–44.76–79 u. passim).

Insgesamt angemessen und weiterführend ist die theologische Verankerung der Besitzproblematik, wie der Vf. sie für Lukas in teils umfänglicher traditionsgeschichtlicher Vertiefung begründet. Dass Lukas eschatologisch motivierte Aussagen ethisch kommunikabel macht, heißt nicht, dass er sie als solche negiert. Der Gott Israels stellt dabei nach dem Vf. die gültige Ordnung von Arm und Reich nicht einfach vom Kopf auf die Füße (das sog. »reversal«-Schema). Und gefordert ist von den Christen auch nicht einfach eine Milderung bestehender Gefällestrukturen durch Almosen (vgl. noch einmal die Verteidigung dieser Sicht durch K. Mineshige, Besitzverzicht und Almosen bei Lukas, WUNT II.13, Tübingen 2003). Vielmehr geht es Lukas mit seinem Werk nach dem Vf. u. a. um einen grundlegenden Widerspruch gegen die These, dass Geld dasjenige Medium sei, welches alles mit allem kompatibel zu machen und menschliche Kommunikation und Gesellschaft angemessen zu strukturieren vermöge (vgl. 168–173.339.350 u. a.). Materieller Besitz und die Gesetzmäßigkeiten seines Erwerbes, seiner Vermehrung und seines Austausches sind lukanisch insuffizent, diejenigen Werte aufzubewahren und diejenige Zukunft abzubilden, die die frühen Christen als kontingentes Geschehen von Gott her erwarten und in ihrer Mitte identifizieren (vgl. 119 f. u. passim). Dem Gott Israels ist ein apothekarischer Wahrheitsbegriff in kommensurabel.
Die Breite der Traditionen und Texte im Lk zielt so nach dem Vf. nicht allein auf eine Kritik der Verwendung des Geldes und eine entsprechende Warnung vor Habgier – so sicher hier ein applikativer Schwerpunkt liegt –, sie steht vielmehr im Ansatz auch kritisch zum Geld als potentiellem »god term«. Kritik am Zins, die schon Aristoteles übt (vgl. 15 f.), oder an den »Almosen« sind zudem nichts Triviales. Sparermentalität ist lukanischem Ansatz von Hause aus fremd. Dem Vf. ist unbedingt Recht zu geben, wenn er von den lukanischen Texten her aus theologischen Gründen nicht allein eine Kritik der Armut, sondern auch eine differenzierte Kritik des Reichtums fordert (vgl. hierzu die bedenkenswerten Ausführungen: 377–385). Dies gilt, auch wenn Lukas mit seiner Position im neutestamentlichen und weiteren frühchristlichen Schrifttum (vgl. nur Jak und Herm) nicht so isoliert steht (vgl. 1), auch wenn der Grad der Monetarisierung der Welt in lukanischer Zeit von heutigen Globalisierungsprozessen deutlich zu differenzieren ist (vgl. 17–21.148 u.a.) und auch wenn schließlich – wie der Vf. durchaus in Rechnung bringt – methodisch literarische Verarbeitung ökonomischer Sachverhalte von den realen Möglichkeitsbedingungen sozioökonomischen Handelns grundsätzlich zu unterscheiden ist.