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Ausgabe:

Januar/2006

Spalte:

3–14

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Jeremias, Jörg

Titel/Untertitel:

Das Wesen der alttestamentlichen Prophetie*

Am Beginn meines Studiums wurde ich von einem renommierten Alttestamentler belehrt, dass die alttestamentliche Prophetie eine Größe sui generis sei, nur aus sich zu erklären, ohne jede wirkliche Analogie. Diese Aussage war schon in den 50er Jahren
des gerade vergangenen Jahrhunderts nachweislich falsch, auch wenn man damals nur einen kleinen Teil der altorientalischen
Prophetentexte zur Verfügung hatte, die wir heute kennen. Die Aussage war aber auch im Blick auf das Alte Testament selbst
falsch. Denn das Alte Testament macht keinen Hehl daraus, dass Prophetie ein gemein-altorientalisches Phänomen ist. Um nur
zwei geläufige Texte zu nennen:
a) Elia steht auf dem Karmel einer großen Menge an Baalspropheten gegenüber, die ausdrücklich als Angestellte am Königshof
bezeichnet werden (1Kön 18,19), und
b) die Könige der Nachbarn Judas, die nach Jer 27 zu einer Konferenz nach Jerusalem gekommen waren, um die Möglichkeit
eines Aufstandes gegen die Babylonier auszuloten, habenganz selbstverständlich neben ihren anderen Zukunftsfachleuten
wie Traumdeutern und Orakelspezialisten auch ihre Propheten mitgebracht, um sicher zu sein, dass ihr Planen im Einklang mit
dem Willen der Götter stehe (V. 9).
Diese Texte kannte natürlich auch der eingangs genannte Dozent. Wenn ich nachträglich versuche, mir seine These
der Analogielosigkeit alttestamentlicher Prophetie verständlich zu machen, so kann ich sie am ehesten begreifen als einen späten Reflex auf den erregten Babel-Bibel-Streit zu Beginn des 20. Jh.s. Damals waren die Gemeinden aufgeschreckt worden
durch die Erkenntnis, dass so gut wie alle Institutionen des Alten Testaments (Königtum, Priestertum, Recht, Weisheit etc.) auch
im Alten Orient, besonders in Mesopotamien, belegt waren und die Rechtstexte, Psalmen, Rituale, Königsannalen und Weisheitssprüche hier sehr ähnlich klangen wie im Alten Testament selbst. In diesem Zusammenhang konnte man es als eine gewisse Beruhigung verstehen, dass wenigstens die alttestamentliche
Prophetie insofern eine Sonderstellung zu erhalten schien, als zwar zahlreiche altorientalische Texte gefunden wurden, die verschiedene Unter-Arten von Prophetie belegten, aber keinerlei (genauer: nur ganz wenige) Texte mit Worten dieser Propheten.
Es sollte noch drei Jahrzehnte dauern, bis in Gestalt des Archivs des Königs von Mari auch diese Lücke geschlossen wurde.
Nein, das Phänomen der Prophetie im Alten Testament ist gewisskein analogieloses; es ist breit belegt.1 Wohl aber gilt – und
das ist das Korn Wahrheit an der eingangs genannten Ansicht –, dass die alttestamentliche Prophetie im Lauf ihrer Geschichte
immer analogieloser geworden ist, und dies weit mehr als alle anderen alttestamentlichen Institutionen. Um diesen Prozess
soll es in den folgenden Ausführungen an exemplarischen Stadien gehen, nicht um eine Gesamtwürdigung des Phänomens
Prophetie, die auf wenigen Seiten kaum zu leisten wäre. Vielmehr möchte ich ins Bewusstsein rücken, was es heißt, dass wir
in Gestalt der Prophetie eine mehr als acht Jahrhunderte umfassende Geschichte einer sich wandelnden Institution in den Blick
nehmen (von Saul bis zum Beginn der Seleukidenherrschaft in Palästina). Im Zuge dieser acht Jahrhunderte bedeutete Prophetie höchst Verschiedenes. Ich werde mich im Folgenden auf vier Stadien beschränken, die nach meinem Urteil die gewichtigsten Einschnitte in dieser langen Geschichte der alttestamentlichen Prophetie markieren.

I.

Die Eigenart der frühen Propheten im Alten Testament, die wir die vorklassischen zu nennen pflegen (d. h. die Prophetie bis zur
Mitte des 8. Jh.s v. Chr.), bekommt der phänomenologisch fragende Forscher nie in den Blick. Phänomenologisch herrscht die
gleiche bunte Vielfalt wie im Alten Orient: Gruppenpropheten stehen neben einzelnen Gestalten, Männer neben Frauen, Berufspropheten neben punktuell inspirierten Laien etc.2 Angesichts dieser Vielfalt an prophetischen Erscheinungen ist es höchst erstaunlich, dass die tradierten Worte dieser Propheten einen insgesamt eher einheitlichen Eindruck hinterlassen. Sieht man einmal von der in mancherlei Hinsicht eigenartigen Elisa-Überlieferung ab, so sehen wir die frühen Propheten überwiegend im Konflikt mit den Königen stehen: Samuel im Konflikt mit Saul, Nathan und Gad mit David, Ahia von Silo mit Jerobeam
I., Elia mit Ahab etc. Diese programmatischen Streitgespräche kreisen vornehmlich um drei Konfliktfelder, die allesamt ursächlich mit den notwendigen Neuerungen des jungen Staates zusammenhängen:
a) Um das Problemfeld des Krieges, auf dem der frühe Jahweglaube der vorstaatlichen Zeit zu allererst die menschliche Möglichkeiten übersteigende Hilfe Gottes erfahren hatte, wenn das Gottesvolk von übermächtigen Feinden – wie programmatisch von den Ägyptern am Schilfmeer – bedroht war: Sollte das Feld des Krieges nun ganz in das Machtkalkül des jungen Königtums übergehen (vgl. etwa 1Sam 15; 2Sam 24)?
b) Um das Problem des Rechts: Sollte der König, der natürlich nicht vor die lokale Rechtsgemeinde im Tor zitiert werden
konnte, völlig außerhalb des Rechts stehen, d. h. rechtlich nicht belangbar sein (vgl. etwa 2Sam 12; 1Kön 21)?
c) Um das Problem der staatlichen Legitimation: Hier beanspruchte die Prophetie – zumindest im Nordreich –, Könige im
Namen Jahwes einzusetzen, sie aber im Fall des Ungehorsams auch im Namen Jahwes abzusetzen (vgl. etwa Samuel und Saul in 1Sam 9–10 und 15 oder Ahia von Silo und Jerobeam I. in 1Kön 11 und 14).
Auf allen drei Konfliktfeldern zwischen Königtum und Prophetie vertreten die Propheten die Seite der religiösen Tradition
gegenüber den geschichtlich notwendigen Neuerungen, die die Entstehung des jungen Staates mit sich brachte.3

Nun musste jedem verständigen Bibelleser auch vor der Entdeckung der altorientalischen Paralleltexte deutlich sein, dass
mit dieser relativ einheitlichen und überschaubaren Thematik der Texte nicht einfach die Alltagswirklichkeit prophetischen
Wirkens abgebildet war. Wie zahlreichen Zufallsnachrichten deutlich zu entnehmen ist, waren Propheten keineswegs vornehmlich oder gar ausschließlich mit Streitgesprächen mit Königen
beschäftigt. Aber erst seit der Entdeckung der Prophetie in Mari am mittleren Euphrat (aus dem 18. Jh. v. Chr.) in den 30er
Jahren des letzten Jahrhunderts4 ist uns das Maß vor Augen geführt worden, in dem die Überlieferung prophetischer Texte
im Alten Testament eine bewusste Auswahl getroffen hat. Denn in den Maribriefen, die prophetische Texte enthalten, sind wir
ein erstes Mal einem Phänomen begegnet, das man im Alten Testament vergeblich sucht: Alltagsprophetie.

Wenn Propheten hier vom Königshof die Ausbesserung eines Tempeltores fordern oder die Abgabe eines Stückes Land an den
Tempel oder aber bessere Information, oder wenn sie den König vor der akuten Gefahr eines bestimmten Tages warnen, dann
liegt die evidente Differenz zu den zuvor genannten Konflikten der alttestamentlichen Propheten mit dem König nicht (wie
man anfangs dachte) an der überlegenen Gottesvorstellung des Alten Testaments oder an dem überlegenen Bewusstsein seiner Propheten für ethische Fragen, sondern an der Weise, wie wir Kenntnis von den jeweiligen prophetischen Texten erhalten
haben: In Mari hat der Spaten der Archäologen eine rein zufällige Auswahl aus der Bibliothek des Königs Zimrilim ans
Tageslicht gefördert, die vom Zeitpunkt des Einsturzes der Gebäudedecke bestimmt war. Wäre die Decke einen Monat später
zusammengebrochen, wären andere Texte gefunden worden, weil der König (schon um notwendiger Stellflächen willen) erledigte Briefe vernichten musste. Möglicherweise hing die Schriftlichkeit der meisten prophetischen Worte ohnehin mit der höfischen Etikette in Mari zusammen, die den Propheten eine unmittelbare
Konfrontation mit dem König nicht erlaubte. In den Prophetenerzählungen des Alten Testaments dagegen begegnet
ein entschiedener Wille zur Auswahl ganz bestimmter prophetischer Worte im Blick auf spätere Generationen. Diejenigen
Worte wurden als überlieferungswürdig erachtet, die Maßstäbe des Handelns nicht nur für eine bestimmte Situation nannten,
auch nicht nur für eine einzelne Generation, sondern an denen sich auch kommende Generationen orientieren sollten. Allein
daher entsteht bei unreflektiertem Bibellesen der Eindruck, die Propheten hätten vornehmlich das Gespräch mit den Königen
geführt. Die genannten Auseinandersetzungen zwischen König und Prophet boten – um der Grundsätzlichkeit der anstehenden
Fragen willen – natürlich mehr Anlass zur Überlieferung als Tagesfragen wie in Mari, die es selbstverständlich auch im biblischen Israel im Gespräch der Propheten mit Gliedern ihres Volkes, aber eben auch mit den Königen gegeben hat.

II.

Ein wesentlicher Einschnitt in der Entwicklung der biblischen Prophetie auf ihrem Weg zur Analogielosigkeit bildete das Aufkommen der sog. »Schriftprophetie« im 8. Jh. v. Chr., d. h. die Entstehung von Büchern, die unter dem Namen eines Propheten herausgegeben wurden. Die jüdische Tradition sieht in diesem Erscheinen von Prophetenschriften den entscheidenden Einschnitt in der Geschichte der Prophetie und nennt die vorauslaufende
Prophetie »frühere Propheten« (ubj`jm r`snjm), die Prophetie ab Amos dagegen »spätere Propheten« (nbj`jm `hrwnjm).
In der Tat ist die systematische Verschriftung von Prophetenworten alles andere als ein nahe liegender oder gar selbstverständlicher Vorgang. Gemeinhin sind Propheten Vermittler
einer aktuellen göttlichen Botschaft
. Ob sie ein Wort der Gottheit erbeten haben oder aber es unerfragt erhalten: Sie richten es
an einzelne Menschen oder an eine bestimmte Berufsgruppe und haben damit ihren Auftrag erfüllt. Für den Gehorsam der
Adressaten sind sie nicht zuständig. Warum dann sollte man solche aktuellen Anreden schriftlich tradieren (es sei denn, sie beträfen Grundsatzprobleme des Staates wie in der frühen Prophetie)?
So ist es schwerlich Zufall, dass Archäologen zwar in Assyrien Sammlungen von schriftlich niedergelegten Prophetenworten,
die das Königtum legitimierten, fanden,5 nie aber außerhalb Israels systematische Sammlungen unterschiedlichster
Prophetenworte wie bei Amos und Hosea. Derartige Funde sind auch in der Zukunft nicht zu erwarten; Prophetenbücher
im genannten Sinn sind etwas spezifisch Israelitisches. Wo immer nämlich in den Büchern der klassischen Propheten Motivationen für die Sammlung von Prophetenworten geboten werden – häufig ist das nicht –, spielt die entscheidende Rolle, dass Prophetenworte darum anfangs verschriftlicht wurden, weil sie
von ihren Hörern abgelehnt und abgewiesen wurden. Der allererste Sinn der Schriftlichkeit dieser Prophetenworte war offensichtlich, die von den Hörern abgelehnte Wahrheit der göttlichen Forderungen und Urteile gegen die Ablehnenden dokumentarisch um ihrer Wahrheit willen festzuhalten (vgl. etwa Jes 8,16–18; 30,8).

Erinnert sei nur an die in Jer 36 geschilderte berühmte Szene. Im Winter am wärmenden Kohlenbecken sitzend lässt sich der König Jojakim die vom Propheten Jeremia zuvor diktierten und von Baruch niedergeschriebenen sowie im Tempelbezirk öffentlich verlesenen Worte vortragen. Kolumne nach Kolumne der Buchrolle schneidet er nach der Verlesung ab und wirft sie ins Feuer. Da ergeht das göttliche Wort an Jeremia, die Worte erneut von Baruch aufschreiben zu lassen. Nicht der hörunwillige König, sondern Jahwe bestimmt, wie mit seinen Jeremia übermittelten Worten umgegangen wird. Auch wenn hier die anfängliche Schriftlichkeit mit der spezifischen Biographie Jeremias zusammenhängt – Jeremia, möglicherweise wieder im Gefängnis, ist verhindert, selbst auf dem Tempelplatz aufzutreten (V. 5) –, dokumentiert der göttliche Auftrag zur erneuten Niederschrift die beglaubigende und die ablehnenden Hörer anklagende Funktion der schriftlich niedergelegten Worte des Propheten.



Aus dieser Erkenntnis des Ursprungs prophetischer Bücher ergibt sich eine Reihe von Folgerungen. Ich beschränke mich auf
die beiden mir am wichtigsten erscheinenden:
1) Wie den Einsprüchen der Hörer in den überlieferten Prophetentexten selbst zu entnehmen ist, waren die so genannten
»klassischen« Propheten zu ihrer eigenen Zeit Außenseiter der Gesellschaft, die nur von einem relativ kleinen Kreis an Vertrauten akzeptiert wurden, die ihre Worte tradierten. Die Ablehnung ihrer harten Unheilsankündigungen im Namen Gottes hing
offensichtlich mit dem hohen theologischen und ethischen Maßstab zusammen, an dem die Propheten das Verhalten ihrer Zeitgenossen maßen und der dem Normalbürger ihrer Zeit unerreichbar
war und unverständlich blieb. Propheten wie Amos und Hosea, Jesaja und Micha wussten sich nämlich nicht nur an Einzelne
bzw. Gruppen gewiesen, sondern beanspruchten, mit ihrem Gotteswort über Leben und Tod ganz Israels zu entscheiden.
Ein Amos hört in seiner 4. Vision als Ergebnis der Ankündigung des Endes der göttlichen Geduld das göttliche Urteil: »Das Ende
ist gekommen zu meinem Volk Israel« (8,2). Ein Hosea muss seinem jüngsten Kind den grauenhaften Namen »Nicht (mehr)
mein Volk« geben mit der Begründung: »denn ich bin nicht (mehr) der ›Ich bin‹ (eine Deutung des Gottesnamens) für euch«
(1,9). Ein Micha, der in vielen Worten die Partei der geschundenen Kleinbauern ergreift, muss als Erster dem Tempel in
Jerusalem den Untergang ansagen (3,12).
Alle diese Propheten waren der Überzeugung, dass die Schuld Israels ein Maß erreicht hatte, das die tradierten Kategorien von
»unschuldig« (sedjk) und »schuldig« (rs`) außer Kraft setzen musste. Für sie war die Zeit endgültig vorüber, in der die Erwartung
bestehen konnte, dass Gott einige wenige Hauptschuldige bestrafen würde, um aus den übrigen Gliedern des Volks wieder
ein intaktes Gottesvolk entstehen zu lassen. In einem Israel, das nicht nur die Unterdrückung, sondern auch die Rechtlosigkeit
seiner schwächsten Glieder duldete (Amos, Micha), das lieber ausgiebige Opfergottesdienste feierte, statt nach Jahwes Willen
zu fragen (Hosea), das sich durch Gott in seiner Eigenmächtigkeit im politischen Handeln gestört fühlte (Jesaja), waren die
Grundlagen zerstört, auf denen das Gottesverhältnis beruhte.
Für diese Propheten war die Geschichte Gottes mit seinem Volk auf Grund der übermäßigen Schuld ganz Israels an ein
Ende gekommen.6 Am deutlichsten sagt es ein Hosea: »Sie müssen zurück nach Ägypten« (Hos 8,13; vgl. 9,3; 11,5), d. h.
zurück in jene Unfreiheit und Unterdrückung, aus der ihr Gott sie einst befreit hatte. (Nur am Rande erwähnt sei, dass das Konzept eines Endes der Geschichte hier und da – möglicherweise behutsam schon bei Hosea selbst [11,11], deutlicher aber nach dem Untergang des Nordreichs bei seinen Tradenten [2,18 ff.; 14] – den Gedanken des Neuanfangs einer zweiten Geschichte, eines erneuten Auszugs aus Ägypten und eines erneuten Aufenthaltes in der Wüste, wachrief, der aber dort, wo er zu denken gewagt wurde, ganz und gar theozentrisch begründet wurde, um ein erneutes Scheitern der Geschichte definitiv auszuschließen; vgl. besonders 2,16 f. und 11,8 f.)
2) Jedoch ist der Übergang vom gesprochenen Wort der Propheten zum lesbaren Text ein einschneidender7. Sichtbar wird
das schon daran, dass die Mehrzahl der überlieferten Texte der Propheten poetisch gestaltet ist, d. h. im Parallelismus membrorum.
Diese Texte krallen sich im Gedächtnis fest, können und sollen gelernt werden.
Die Vorstellung, dass die redenden Propheten auf den Plätzen, im Tor und vor dem Tempel in Gedichtform
gesprochen hätten, ist abwegig. Vielmehr ist die Verschriftung offensichtlich ein höchst bewusster Auswahlprozess, in
dem die Tradenten lange Reden der Propheten auf ihren wesentlichen Gehalt reduzieren und zugleich verschiedene Reden und
Themen miteinander verbinden und aufeinander beziehen.
Darüber hinaus gewinnt das Wort des Propheten als schriftlicher Text notwendig ein Doppelgesicht. Für einen Leser war
der Text beides: einerseits Wort einer unverwechselbaren historischen Stunde und an bestimmte Adressaten gerichtet, zugleich
aber Wort, das nicht in dieser historischen Stunde aufging, sondern den Anspruch auf Geltung für die den Text lesenden nachgeborenen Generationen erhob. Dieses Doppelgesicht der prophetischen Worte als Text macht m. E. eines ihrer Geheimnisse aus: Einerseits liegt auf der historischen Stunde starkes Gewicht; Prophetenworte boten nie zeitlose Wahrheit wie der Rat von Weisen. Die Texte beharren darauf, dass Jesaja im Todesjahr Usijas berufen wurde (Jes 6,1), dass Amos »zwei Jahre vor dem Erdbeben « auftrat, das jeder kannte (Am 1,1). In manchen Texten Ezechiels und Sacharjas werden nicht nur das Jahr, sondern Monat und Tag festgehalten, an denen ein Wort oder eine Vision Jahwes den Propheten erreichten. Propheten werden von Gott mit einem bestimmten Auftrag an bestimmte Menschen zu einer unverwechselbar einmaligen Stunde gesandt.
Andererseits reicht das Wort der Propheten als schriftlicher Text weit über die Stunde hinaus, in der es ausgesprochen wurde.
Mit dieser zeitlichen Erweiterung wächst auch sein Gültigkeitsanspruch erheblich. War das mündliche Wort an einzelne Berufsgruppen wie Richter, Priester oder Bauern gerichtet, so wird es als Text auch von Menschen mit anderen Berufen gelesen. Nannte das mündliche Wort eine bestimmte Schuld der angeklagten Berufsgruppen, so nötigt der schriftliche Text seine Leser, sich selbst mit einem analogen Vergehen betroffen zu fühlen. Hatte das mündliche Wort Gottes Hilfe für eine bestimmte Not zugesagt, so ermutigt der schriftliche Text seine Leser, die Zusage auf andersartige eigene Nöte zu beziehen. Das verschriftete Prophetenwort mutet seinen Lesern zu, es zu aktualisieren und auf neue Situationen zu übertragen. Daher werden im schriftlichen Text die spezifischen Umstände der Ursprungssituation eher zurückgedrängt und verallgemeinert. Manche jüngere Erweiterungen des Textes dienen den Nachgeborenen zur Präzisierung der – inzwischen
veränderten – Situation.
Kurzum: Bei der Verschriftung der Texte und bei zahlreichen jüngeren Explikationen geschieht dem mündlichen Prophetenwort prinzipiell das Gleiche wie in heutigen Aktualisierungen bei der Predigt und im Unterricht.
Hinzu kommt, dass die schriftlichen Texte anders als die mündlichen Worte nicht mehr primär in einen situativen, sondern
in einen literarischen Kontext eingebunden sind. Sie gewinnen ihren je spezifischen Sinn aus dem Bezug auf Nachbartexte,
mit denen sie von den Tradenten bewusst kombiniert worden sind. »Die Texte, wie sie uns überliefert sind, auch die
ältesten, sind von Anfang an Texte für einen literarischen Zusammenhang « (R. G. Kratz, TRE 28, 1997, 375). Es versteht
sich von selbst, dass sich mit dieser Tatsache eine weitere Bedeutungsaufweitung der Texte verbindet.8

III.

Ich überspringe in meiner Darstellung das Jahrhundert der josianischen Reform und der großen Propheten Jeremia und Ezechiel.
Die für die kritische Wissenschaft einschneidendste Veränderung im Verständnis der Prophetie erfolgte mit dem Ende des Staates Juda, der Zerstörung des Tempels und dem Exil. Dabei verdient es, darauf hingewiesen zu werden, dass die großen Religionen des Alten Orients mit dem Ende des sie tragenden Staates selbst dem Ende entgegengingen. Für die einfache Bevölkerung in Juda war das nicht anders. Insbesondere aus den Worten Deuterojesajas ist die Meinung der Zeitgenossen deutlich zu entnehmen, Marduk habe sich in der Zerstörung Jerusalems stärker als Jahwe erwiesen
bzw. Jahwe habe sein Volk aufgegeben.
In dieser Situation wurden eben die prophetischen Gestalten, die zu eigenen Lebzeiten eher Außenseiter der Gesellschaft gewesen waren, nun in Gestalt ihrer Texte zur wichtigsten Deutungshilfe für das Erlebte. Die Katastrophe Jerusalems und das babylonische Exil wurden als Erfüllung ihrer Worte gedeutet und diese Worte damit in einen kanonischen Rang erhoben, während die Worte ihrer Gegner, die Gottes bleibende Güte und die Bewahrung Israels vor den Babyloniern gepredigt hatten, dem Vergessen überlassen wurden. Nun begann auf breiter Basis jene Aktualisierung prophetischer Worte, von der zuvor die Rede war: Von Boten des göttlichen Gerichts wurden die Propheten zu Predigern der Umkehr, die durch Wandel der Gesinnung zum Gewinn des Lebens locken wollten, zugleich aber mit allem Ernst den Überlebenden der Katastrophe zu verdeutlichen hatten, dass noch nicht das Überleben selbst Rettung bedeutete.
Gleichzeitig aber malten sie den Überlebenden den Gott vor Augen, der seiner Gemeinde Heil und nicht Gericht bringen
wollte und nur durch die Schuld der Menschen am Heilshandeln gehindert wurde.9 Auf Grund dieser umfassenden und
komplexen Botschaft, mit der sie einerseits den Ernst der Gerichtsbotschaft der klassischen Propheten wach hielten, andererseits zu neuem Leben durch Wandel des Verhaltens einluden und beides im Wissen um die Letztbegründung allen Heils allein in Gott taten, wurde die Bedeutung der Prophetie in einer zuvor unvorstellbaren und nun wirklich analogielosen Weise gesteigert.
Die Prophetie wurde jetzt zu der Institution schlechthin, durch die Gott den Menschen seinen orientierenden Willen
kundgab. Ja, sie wurde konstitutiv für den Glauben des Gottesvolkes.
Diese schlechterdings unüberbietbare Wertschätzung der Prophetie möchte ich an zwei Texten aus zwei völlig verschiedenen
literarischen Bereichen näher erläutern.
1) Der erste Text entstammt dem so genannten Verfassungsentwurf des Deuteronomiums, und zwar in seiner erweiterten
exilischen Gestalt. Es ist ja ein Unikum des vorexilischen Deuteronomiums, dass es nicht nur die Rechtsmaterialien des älteren
Bundesbuches grundlegend überarbeitet und erweitert, sondern zusätzlich auch die Installation und Funktion der wichtigsten
Ämter regelt: der Richter, Priester, Könige und Propheten. Bereits in dieser älteren spätvorexilischen Fassung zeigt allein
schon die Schlussstellung, dass mit der Prophetie das wichtigste Amt erreicht ist. Hinzu kommt, dass Richter vom Volk bestellt
werden, Könige vom Volk eingesetzt werden, einzig Propheten aber unmittelbar von Gott gegeben werden. Der Sinn dieser
Hervorhebung der Prophetie im älteren Deuteronomium ist, dass der unüberschaubaren Vielzahl an Zukunftsfachleuten in
Israels Umgebung (Wahrsager, Orakelspezialisten, Zeichendeuter, Totenbeschwörer etc.) die Klarheit und Eindeutigkeit des von
Gott gegebenen prophetischen Orientierungswortes entgegengestellt werden soll, das in seiner Zurückführung bis auf Mose als
Israels Privileg gilt. Diese so hervorgehobene Position des Propheten schon in der älteren Fassung wird in der exilischen Fortschreibung des Deuteronomiums noch erheblich gesteigert.10
Der erstmals bei Hosea belegte Anspruch der Prophetie, die Mosetradition fortzuführen und zu aktualisieren, wird jetzt so gedeutet, dass die Propheten die gleiche Funktion in der Entfaltung der göttlichen
Offenbarung innehaben wie Mose.
Das klingt dann so:

16. Am Horeb hast du von Jahwe, deinem Gott, am Versammlungstag Folgendes gefordert: Nicht will ich mehr die Stimme Jahwes, meines Gottes,
vernehmen und dieses gewaltige Feuer nicht mehr sehen, damit ich nicht sterbe!
17. Da sprach Jahwe zu mir (Mose): Recht haben sie mit ihrem Verlangen.
18. Einen Propheten gleich dir will ich ihnen aus der Mitte ihrer Brüder entstehen lassen; meine Worte will ich in seinen Mund legen, und er soll ihnen alles sagen, was ich ihm auftrage.



Hier wird die Prophetie unter Rekurs auf die Sinaioffenbarung definiert, und es wird ihr die genau gleiche Funktion zuerteilt
wie Mose am Sinai (Dtn 5 und Ex 20). Im Kern heißt das nichts anderes, als dass die Prophetie für Gottes grundlegende Offenbarung ebenso konstitutiv ist wie das dolmetschende Wort des Mose. Wie man nicht ohne Mose an Jahwe glauben kann, so nach ihm nicht ohne die Propheten. Mose hat den Glauben der alttestamentlichen Gemeinde grundgelegt; die Propheten halten ihn am Leben. Mose hat dem Leben die nötige Orientierung gegeben; die Propheten zeigen in der Gegenwart der Leser, wie sie konkret aussieht.
2) Sind die Propheten über Mose sozusagen in den alttestamentlichen Offenbarungsbegriff hineingewachsen, so bei Deuterojesaja geradezu in den alttestamentlichen Gottesbegriff. Man hat diesen Propheten nicht ohne Grund einen »theologischen Denker« (O. H. Steck) genannt, weil er mehr als alle Propheten vor ihm seine Verkündigung mit Argumenten untermauern musste. Es reichte ja nicht aus, dass er im Exil seinen verzweifelten oder in der Lethargie versinkenden Zeitgenossen ein künftiges Heil Gottes vor Augen stellte, das sie gar nicht fassen konnten.
Er musste ihnen vielmehr plausibel machen, dass die Zerstörung Jerusalems und das Exil Jahwes und nicht Marduks
Werk waren und dass dieses Werk als Strafe für Schuld zu deuten war und nicht auf Verwerfung Israels abzielte. So ist es kein
Zufall, dass unter den wenigen – immer neu variierten – Gattungen, die Deuterojesaja aufgreift, etwa die Hälfte argumentierender
bzw. diskutierender Art ist.
In der kühnsten Verwendung solcher vorgeprägter Gattungen wagt sich der Prophet behutsam an nicht weniger als an eine Art
Gottesbeweis heran. In einem himmlischen Gerichtsverfahren, dessen fiktionaler Charakter auch für damalige Zeitgenossen
deutlich erkennbar war, lässt er Jahwe und die Götter einen juristischen Streit um die Gottheit Gottes ausführen (Jes 41,21–
29 mit Parallelen).11

Zum Verständnis des Gedankenganges dieses Gerichtsverfahrens bedarf es dabei zweierlei Voraussetzungen: a) Der vor Gericht zu klärende Anspruch beider Parteien war ein je verschiedener.
Die Götter beanspruchten, Gott zu sein, Jahwe erhob den weitergehenden Anspruch, alleiniger Gott zu sein. b) Jahwe
musste die Rollen der juristischen Partei und des urteilenden Gerichtshofs zugleich spielen. Welche neutrale Instanz hätte auch
nach alttestamentlicher Vorstellung über Gott urteilen sollen?
Als Streitgegenstand, an dem der jeweilige Anspruch der beiden Parteien geklärt werden soll, wird in den Texten die
Geschichte gewählt, genauer (in einer alttestamentlich zuvor unbekannten Abstraktion): der Zusammenhang zwischen »Früherem« und »Kommendem«, zwischen Vergangenheit und Zukunft.
An diesem Beweisverfahren sieht Deuterojesaja die Götter scheitern (41,24.28 f.): Er billigt ihnen zwar punktuelle Orakel
zu (die freilich Jahwe als wahrer Gott in ihrer Wirkung zunichte machen wird: 44,25), lässt diese Orakel als Deutung
der (vergangenen und der) zukünftigen Geschichte aber nicht gelten. Damit scheitern die Götter bei dem Versuch, ihre Gottheit
nachzuweisen. Nun tritt Jahwe als der wahre Gott seinen Beweis an, und für dieses Beweisverfahren sind die Propheten
konstitutiv; Jahwes Anspruch, die Geschichte zu lenken, würde ohne sie nicht nachweisbar sein. Mit ihnen aber wohl: Die Logik
der Texte verläuft so, dass die Katastrophe Jerusalems, also das Geschehen, das repräsentativ für die gesamte zurückliegende
Geschichte (»das Frühere«) steht, prophetisch angekündigt war, wobei die prophetischen Ansagen durch das Eintreffen des Vorhergesagten beglaubigt wurden. Die noch ausstehende Zukunft (»das Kommende«) wird eine Zukunft Jahwes sein, weil Jahwe sich in der Vergangenheit durch das von ihm beauftragte Prophetenwort als verlässlich erwiesen hat. Denn auch die noch ausstehende Zukunft (mit der die Gedanken aller Zeitgenossen fesselnden Gestalt des Kyros) ist durch Deuterojesaja prophetisch gedeutet. Sein prophetisches Wort wird verlässlich sein, weil Jahwes prophetische Worte zuvor sich schon als verlässlich erwiesen haben. Zugespitzt formuliert: Bei Deuterojesajas himmlischem Gerichtsverfahren sind die Propheten zu Gottes Gottesbeweis geworden. Behutsamer ausgedrückt: Die Verlässlichkeit des prophetischen Wortes ist hier zu Gottes Gottesbeweis geworden.
Allerdings muss eine derart zugespitzte Formulierung doppelt eingeschränkt werden.
a) Deuterojesaja führt keinen philosophischen Diskurs (und weiß seinen »Gottesbeweis« schon durch die zuvor erwähnte juristische Doppelrolle Jahwes angreifbar), sondern er hat ein durch und durch seelsorgerliches Anliegen. Ihm muss es wesentlich darum gehen, seinen Hörern verständlich zu machen, wie das erfahrene Unheil und das prophetisch gewusste bevorstehende Heil aus der Hand ein und desselben Gottes zusammengehören.
b) Deuterojesaja lässt implizit erkennen, was der zuvor genannte Text des Deuteronomiums offen ausspricht: Mit seinem
Wort an die Propheten gibt Gott sich in die Hände der Menschen. Es gibt die furchtbare Möglichkeit, dass Menschen das
ihnen anvertraute Wort aus Eigennutz, Abhängigkeit etc. verfälschen. Die exilische Fortschreibung des deuteronomischen Verfassungsentwurfs dekretiert (im Anschluss an die oben zitierten Verse), ein solcher Prophet sei sogleich zu töten (Dtn 18,20).
Aber so einfach und evident, wie dieser Satz klingt, ist die Verfälschung eines Gotteswortes oder die Eigenmächtigkeit einer als
Gotteswort ausgegebenen Rede nicht nachweisbar. Die Härte der Tötungsforderung ist mehr ein Zeichen von Verzweiflung
und Hilflosigkeit als von Entschlossenheit. Vielmehr gehört auch für die zitierten Texte, die die Prophetie in den Offenbarungsbegriff einzeichnen und bis zu Gottes Gottesbeweis emporheben, das Wissen um die erschreckende Möglichkeit der Perversion dieser Vollmacht fest hinzu. Nicht umsonst klagen die Threni (2,14):

Deine Propheten haben dir Lug und Trug geschaut.
Deine Schuld haben sie nicht aufgedeckt, um dein Schicksal zu wenden; sie haben dir Worte geschaut, die Trug waren und dich verführten.



Allerdings belegen spätere prophetische Worte die feste Überzeugung, dass die Überlieferung längst – von Gott geleitet – die
rechte Auswahl getroffen und nur die wahren Worte der Propheten tradiert hat.

IV.

Aber mit der kaum überbietbaren Hochschätzung der Prophetie in exilischen Texten ist der Weg zur Eigenart dieser alttestamentlichen Institution noch nicht am Ende. Ich überspringe wieder ein Jahrhundert und wende mich zuletzt kurz späten prophetischen Texten der ausgehenden Perserzeit und des Hellenismus zu. Es ist ein bemerkenswert anderes Bild von Prophetie, das in ihnen gezeichnet wird.
Die wichtigste Veränderung liegt darin, dass sich die Propheten der alttestamentlichen Spätzeit nicht oder kaum mehr wie
ihre Vorgänger auf göttliche Inspiration berufen, sondern sich durch den Rekurs auf schon schriftlich überlieferte und somit
ihnen vorliegende Prophetie legitimieren. Die Epoche ist von der Grundüberzeugung geprägt, dass Gott alles für die Menschen
Wesentliche durch seine Boten bereits gesagt hat
. In zahlreichen Texten – allen voraus Joel 3 und Sach 13,2–6 – kündigt
sich der kurz bevorstehende Abschluss des prophetischen Kanonteiles an.12 Unter diesen veränderten Umständen wird
aktuelle Prophetie jedoch keineswegs bedeutungslos, sondern sie bekommt eine neue Aufgabe zugewiesen. Mit den noch unerfüllten Heils- und Unheilsansagen Gottes im Ohr, wie sie in der überlieferten Prophetie zu finden sind, müssen die späteren Propheten ihre eigene Gegenwart auf Zeichen der anbrechenden Endzeit abhören und auf diese Weise Erfahrung und Überlieferung aufeinander beziehen.
Diese Analyse der Tiefenstruktur der Gegenwart war im Einzelnen ein ebenso schwieriges wie vollmächtiges Unternehmen.
Ich möchte dies kurz am Beispiel des Buches Joel zeigen. In seinen Tagen wurde Juda von einer jener verheerenden Heuschreckenplagen heimgesucht, wie sie in Palästina noch bis zum Beginn
des 20. Jh.s und in Nordafrika noch heute belegt sind. Für den Propheten Joel zeigt sich in dieser Plage, die die Ernte vernichtet
und jegliche Gabe für den Gottesdienst unmöglich macht, dass sie mehr ist als nur eine Naturkatastrophe: Sie ist
transparent für den vielfach prophetisch geweissagten »Tag Jahwes«, den furchtbaren Gerichtstag Gottes, dem niemand entrinnen kann. Freilich ist die Heuschreckenplage nicht selbst schon dieser Gerichtstag, aber sie kann jederzeit nahtlos in diesen Gerichtstag übergehen und wird es mit Gewissheit tun, wenn die gegenwärtige Gemeinde sich nicht in einem umfassenden Bußgottesdienst zu einer Neu-Ausrichtung ihres Lebens entschließt.

Das Überraschende und Verwunderliche an dieser Botschaft ist, dass die breit belegte prophetische Tradition vom kommenden
Gerichtstag des Zornes Jahwes von Joel mit der Aussicht auf die Möglichkeit verbunden wird, dass das Gottesvolk diesem Gerichtstag entgehen könnte. Dafür gibt es scheinbar keine Belege in der vorausgehenden Prophetie. Für Joel gibt es sie doch. Er bezieht sich nicht nur explizit auf das Gottesbild der Sinaioffenbarung, das die überragende Güte Gottes über Generationen hinaus den kurzen Momenten der Erfahrung des göttlichen Zorns weit vorgeordnet hatte (Ex 34,6 f.; Joel 2,13 f.), sondern er bezieht sich auch auf die Visionen des Amos. Es ist immer wieder aufgefallen, dass die von Joel beklagte Heuschreckenplage nahtlos in die Schilderung einer Dürre übergeht. Die naturwissenschaftlichen Erläuterungen, die man zur Erklärung dieser Tatsache bemüht hat, sind hier eher fehl am Platze. Weit wahrscheinlicher spielen Heuschreckenplage und Dürre auf die ersten beiden Visionen des Amos (Am 7,1–6) an13. In ihnen hat Amos – trotz der großen Schuld Israels – durch seine Fürbitte noch einmal die Rücknahme des göttlichen Todesurteils über sein Volk erreicht. (In den folgenden Visionen dagegen hat er lernen müssen, dass es eine Grenze der göttlichen Geduld gibt.) So wagt es Joel, unter
Berufung auf Amos, als erster Prophet, das prophetisch überlieferte Wissen vom endzeitlichen Gericht Jahwes mit der Möglichkeit zu verbinden, dass Gott auch diesen Tag von seinem Volk abwenden kann, weil – um mit Ps 30 zu reden – sein Zorn nur einen Augenblick währt, seine Güte aber lebenslang.
So sehen wir die Propheten der spät-persischen und der hellenistischen Zeit mit der Suche nach einem Gesamtwillen Jahwes
beschäftigt. Zu diesem Zweck beziehen sie die mannigfachen überlieferten Einzelworte bzw. -texte der vorausgehenden Propheten aufeinander, um das eine Wort hinter den vielen Wörtern aufzudecken und insbesondere das Verhältnis von göttlichem Gerichts- und Heilswillen zu klären. Sie machen dabei, wie oben an Joel 2 gezeigt, keineswegs an der Grenze prophetischer Schriften Halt, sondern beziehen die großen Texte des Pentateuchs
mit ein. Die kanonische Funktion der Prophetie ist weit älter als der faktische Abschluss des prophetischen Kanonteils.

V.

»Das Wesen der alttestamentlichen Prophetie« – ein fast hybrider Titel – in wenigen Sätzen zusammenzufassen, erscheint mir
unmöglich. Möglich erschien mir nur, in groben Stadien die Wegstrecke von 800 Jahren für diese Prophetie nachzuzeichnen.
An ihrem Anfang steht in den Erzählungen von Sauls Kontakt mit den Propheten die verwunderte Frage eines Zuschauers, wie
denn ein Sohn aus gutem Hause in eine derart zweifelhafte Gesellschaft gelangt sei (1Sam 10,11). An ihrem Ende steht das
Bemühen, die vielfältigen schriftlichen Zeugnisse von einem Reden Gottes durch Propheten zusammenzufassen, aufeinander
zu beziehen und nach dem einen übergreifenden Willen Gottes zu fragen. Die Disziplin einer »Theologie der Prophetie« ist keine
moderne Erfindung, sondern längst schon in der späten Prophetie selbst angelegt. Die kanonische Funktion der Prophetie
ist weit älter als der faktische Übergang der Prophetie in kanonische Dignität.

Summary
Taken by itself, Old Testament prophecy is a broad-based, generalisedAncient Near Eastern phenomenon.
But through thefocused selection of specific traditions and the emergence of theprophetic books, it has undergone a unique development. It isentirely without parallel in two ways: since the exilic period, ithas been regarded as fundamental to Israel’s relationship to Godlike the mosaic tradition. In addition, even before its conclusionin the post-exilic period, it gained canonical dignity as a validdocumentation of the will of Yahweh.

Fussnoten:

* Abschiedsvorlesung an der Philipps-Universität Marburg am 12.07.2005.
1) Vgl. etwa die von M. Nissinen herausgegebene Textsammlung »Prophets and Prophecy in the Ancient Near East« (Atlanta 2003) sowie die Beiträge von E. Cancik-Kirschbaum, B. Pongratz-Leisten und M. Nissinen in: M. Köckert/M. Nissinen (Hrsg.), Propheten in Mari, Assyrien und Israel (FRLANT 201), Göttingen 2003.
2) Vgl. zuletzt neben J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie in Israel (übers. von E. Gerstenberger), Stuttgart 1998, Kap. II, sowie B. Uffenheimer, Early Prophecy in Israel, 1999, bes. B. Lehnart, Prophet und König im Nordreich Israel (VT. S 96), Leiden 2003.
3) Allerdings sind die genannten Texte in ihrer gegenwärtigen Gestalt erheblich jünger und behandeln die genannten Probleme im Rückblick und in veränderter (etwa exilischer) Interessenlage.
4) Vgl. immer noch F. Ellermeier, Prophetie in Mari und Israel, Herzberg 1968, sowie etwa E. Noort, Untersuchungen zum Gottesbescheid in Mari (AOAT 202), Neukirchen 1977, und A. Malamat, Mari and the Early Israelite Experience, Oxford 1989.
5) Vgl. etwa M. Weippert, Aspekte israelitischer Prophetie im Lichte verwandter Erscheinungen, FS K. Deller (AOAT 220), Neukirchen 1988, 287–319; ders., NBL IV, 196ff.
6) Dieser theologischen Konsequenz vermochten die gegnerischen Propheten, die sog. »falschen« und in der Überlieferung ausgeschiedenen Propheten, nicht zu folgen. – Vgl. zur näheren Charakterisierung dieser neuenZüge der Prophetie besonders W. H. Schmidt, Zukunftsgewissheit und Gegenwartskritik. Studien zur Eigenart der Prophetie (BThSt 51), 2Neukirchen 2002; ders., Prophetie als Selbst-Kritik des Glaubens, in: »Prophetie und Charisma«, JBTh 14 (1999), 1–18; vgl. auch K. Koch, Die Profeten I.Assyrische Zeit, 3Stuttgart 1995, passim, der von der »metahistorischen«, d. h. qualitativ verdichteten Sinndimension der prophetischen Analyse der Zeit im Blick auf die klassischen Propheten spricht. Allerdings hat in jüngsterZeit vor allem R. G. Kratz, Die Worte des Amos von Tekoa, in: Propheten in Mari … (s. o. Anm. 1), 54–89; ders., Die Propheten Israels (Reihe Beck Wissen), München 2003, bestritten, dass die kollektive Gerichtsansage schon auf die klassischen Propheten zurückgehe, aber schwerlich zu Recht; vgl. die massiven Gegengründe bei A. Scherer, Vom Sinn prophetischer Gerichtsverkündigung bei Amos und Hosea, Bib. 86 (2005), 1–19.
7) Vgl. zum Grundsätzlichen etwa S. Niditch, Oral World and Written Word. Orality and Literacy in Ancient Israel, Louisville/Kentucky 1996, und zur Prophetie J. Jeremias, Prophetenwort und Prophetenbuch, in: »Prophetie und Charisma«, a. a. O. 19–35. H. Gunkel hatte noch die Ansicht vertreten, man müsse sich bei den Texten der klassischen Propheten nur Ort, Situation und Hörer der Rede hinzudenken, um das ursprüngliche Wort der Propheten wieder zu vernehmen (Einleitungen zu H.Schmidt, Die großen Propheten, SAT II, 2, 21923, XXXVI).
8) Diese bis zur Buchentstehung zunehmende Bedeutungsausweitunghat niemand intensiver dargestellt als O. H. Steck, Die Prophetenbücherund ihr theologisches Zeugnis, Tübingen 1996; ders., Gott in der Zeitentdecken. Die Prophetenbücher des AT als Vorbild für Theologie und Kirche (BThSt 42), Neukirchen 2001.
9) Vgl. die Darstellung der exilischen Prophetie in R. Albertz, DieExilszeit (BE 7), Stuttgart u. a. 2001, 163–323.
10) Vgl. zur Unterscheidung des Sinnes der beiden Textfassungenbesonders U. Rüterswörden, Von der politischen Gemeinschaft zur Gemeinde.Studien zu Dtn 16,18–18,22 (BBB 65), Frankfurt 1987, 76–88,und W. H. Schmidt, Das Prophetengesetz in Dtn 18,9–22, in: M. Vervenne(Hrsg.), Deuteronomy and Deuteronomic Literature, FS C. H. Brekelmans,Leuven 1997, 55–69.
11) Vgl. neben W. Zimmerli, Der Wahrheitserweis Jahwes nach der Botschaftder beiden Exilspropheten (1963), in: Ders., Studien zur alttestamentlichenTheologie und Prophetie. Ges. Aufs. II, München 1974, 192–212 auch H. Leene, De vroegere en de nieuwe dingen bij Deuterojesaja, Amsterdam 1987; H.-J. Hermisson, Gibt es Götter bei Deuterojesaja? in:A. Graupner u. a. (Hrsg.), Verbindungslinien. FS W. H. Schmidt, Neukirchen2000, 109–123.
12) Vgl. zu diesem Element der späten Prophetie D. L. Petersen, LateIsraelite Prophecy (SBL.MS 23), Missoula 1977, und zuletzt besonders N.H. F. Tai, Prophetie als Schriftauslegung in Sach 9–14 (CTM.A 17), Stuttgart1996; ders., The End of the Book of the Twelve, in: F. Hartenstein/ J.Krispenz/A. Schart (Hrsg.), Schriftprophetie. FS J. Jeremias, Neukirchen2004, 341–350; J. Jeremias, Gelehrte Prophetie. Beobachtungen zu Joelund Deuterosacharja, in: Chr. Bultmann/W. Dietrich/Chr. Levin (Hrsg.),Vergegenwärtigung des AT. FS R. Smend, Göttingen 2002, 97–111.
13) So schon A. Schart, Die Entstehung des Zwölfprophetenbuchs(BZAW 260), Berlin-New York 1998, 262.