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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1194–1197

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wischmeyer, Oda [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft.

Verlag:

Tübingen-Basel: Francke 2003. VIII, 284 S. gr.8° = Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 6. Kart. Euro 48,00. ISBN 3-7720-8016-2.

Rezensent:

Christoph Stenschke

Der vorliegende Sammelband geht auf das zweite Erlanger Neutestamentliche Kolloquium zurück, das im Januar 2002 an der Friedrich-Alexander-Universität anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Otto Merk stattfand. Dieses Ereignis regte den Rückblick auf ein langes und vielseitiges Gelehrtenleben eines »der letzten Vertreter der Marburger Theologie« (VII) und dessen Fragestellungen an und zugleich den Blick auf die gegenwärtige Situation und die Zukunft neutestamentlicher Wissenschaft. Ziel des Kolloquiums war es, drei Aspekte zueinander in Beziehung zu setzen: »[d]ie spezifisch bleibenden historischen und theologischen Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft im Rahmen der protestantischen Theologie, aber durchaus in ihrer deutschen Ausprägung seit dem 18. Jh., neue Herausforderungen an die neutestamentliche Wissenschaft in einer sich rasch verändernden Wissenschafts- und Kirchenlandschaft und die individuellen Antworten auf diese Herausforderungen durch jüngere Exegetinnen und Exegeten« (VIII).

Der erste Teil will fragen: »Welche Grundfragestellungen standen am Beginn der modernen neutestamentlichen Wissenschaft?« (VII). A. Lindemann zeichnet »Grundzüge und Erträge der kritischen neutestamentlichen Wissenschaft im 19. und 20. Jh.: Von der Tübinger Schule bis zu R. Bultmann« nach (1­34) und M. Meiser fragt nach den »Gegenwärtige[n] Herausforderungen und bleibende[n] Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft« (35­ 62, mit einem knappen Überblick über die Selbstverständnisdebatte neutestamentlicher Wissenschaft). Meiser plädiert dafür, historisch-kritische und moderne linguistische Textbetrachtung in ein plurales, textbezogen nuanciertes Methodenkonzept zu integrieren, das die Textualität, die Referentialität und die Intertextualität neutestamentlicher Texte ernst nimmt.

Im zweiten, umfangreicheren Teil geht es »um Programme und Desiderate neutestamentlicher Wissenschaft aus der Sicht verschiedener neutestamentlicher Kollegen, die in jüngster Zeit mit ausgeprägten eigenen Ansätzen und Vorstellungen hervorgetreten sind« (VII). S. E. Porter gibt in »New Perspectives on the Exegesis of the NT: Anglo-American Insights« (62­84) einen Überblick über neuere Ergebnisse und Ansätze in griechischer Linguistik. P. Pilhofer reflektiert, wie das Neue Testament in einer Zeit zu vermitteln ist, in der immer weniger Sprachkenntnisse und allgemeine Kenntnisse der griechisch-römischen Antike vorausgesetzt werden können (85­96). Die Wichtigkeit sprachlicher Kenntnisse wird an den Berichten von Träumen (kat onar) in der matthäischen Kindheitsgeschichte (1,20; 2,12 f., 19,22) verdeutlicht, die Pilhofer durch diese und ähnliche Wendungen in Weihinschriften illustriert. F. Avemarie beleuchtet gekonnt »Das antike Judentum als wachsende Herausforderung für die neutestamentliche Wissenschaft« (97­118). Er unterstreicht die Notwendigkeit, jüdische Quellen zu kennen (mit instruktiven Beobachtungen zu Apg 8,27), beschreibt das Hineinwachsen der neutestamentlichen Wissenschaft in die Judaistik sowie das Studium des antiken Judentums als neutestamentliche Heuristik und als Schule des Respekts vor dem Judentum und anderen Religionen. D. Trobisch zeigt, dass bei einer Betrachtung des Neuen Testaments im Rahmen des 2. Jh.s sowohl der literarische Charakter als Sammlung als auch die historische Situation der sich formenden katholischen Kirche, die Konkurrenz durch alternative Veröffentlichungen und die sozialgeschichtliche Funktion innerhalb der unterschiedlichen christlichen Strömungen zu berücksichtigen sind (119­129).

In seinem Beitrag »Das frühe Christentum als neue religiöse Bewegung: Neutestamentliche Wissenschaft und die Erforschung neuer religiöser Bewegungen im Gespräch« (133­164) macht M. Frenschkowski religionswissenschaftliche und sozialempirische Ergebnisse fruchtbar. In der Erforschung dieser Bewegungen sieht er einen potentiellen Gesprächspartner für die neutestamentliche Exegese und dokumentiert die Anwendbarkeit dieser Fragestellungen anhand von Beispielen (Außenwahrnehmung des Christentums, Entstehung der Christologie, Messiasgeheimnis, Trennungsprozesse von der Mutterreligion, religiöse Rollenangebote für Frauen). M. Pöttner steuert »Formatives Christentum: Erwägungen zu einer historisch-semiotischen Konzeption« bei (165­183). C. Landmesser beschreibt »Neutestamentliche Wissenschaft und Weltbezug« (185­206). E.-M. Becker thematisiert »Die Person des Exegeten: Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema« (207­243). O. Wischmeyer beginnt ihren Beitrag »Die neutestamentliche Wissenschaft am Anfang des 21. Jh. Š« (245­271) mit einem Überblick über das gegenwärtige Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft, zeichnet dann die Außenansichten auf die neutestamentliche Wissenschaft und ihren Gegenstand (Altertumswissenschaft, Religionswissenschaft, Judaistik) nach, umreißt die neutestamentliche Wissenschaft in ihren primären Beziehungsfeldern und Aufgaben (das Neue Testament und die hellenistisch-römische Welt, das Judentum und das Neue Testament und die Alte Kirche als historische Fragestellungen, Neues Testament und Kultur als kulturwissenschaftliche Fragestellung, Neues Testament und christlicher Glaube als theologisch-systematische Fragestellung, Neues Testament und Kirche als theologisch-praktische Fragestellung) und plädiert dafür, sich auf die postmodernen Religions- und Wissenschaftsbedingungen einzustellen.

Eine knappe Antwort von Otto Merk auf die Beiträge (mit dem zu erwartenden beherzten Plädoyer für das theologische Recht historisch-kritischer Exegese[!], 273­275), Mitarbeiterverzeichnis und Namenregister runden den Band ab. Jedem Beitrag sind eine, teils ausführliche, Bibliographie und eine Zusammenfassung beigegeben.

Insgesamt handelt es sich, was die Zukunft betrifft, weitgehend um eine deutsche Binnenperspektive, wenn man von Porters und von Trobischs Beitrag absieht. Die Zusammenfassungen (trotz der englischen Bezeichnung »Abstract«) liegen nur auf Deutsch vor. Neben wichtigen Einsichten und Anregungen, die man dankbar zur Kenntnis nimmt und die man umzusetzen bemüht sein will, bleiben Anfragen grundsätzlicher Art. Wird das Festhalten am Erbe protestantischer deutscher neutestamentlicher Wissenschaft ein Hemmschuh für die Zukunftsfähigkeit dieser neutestamentlichen Wissenschaft? Dabei ist das Problem weniger der Protestantismus an sich, sondern vielmehr seine deutsche universitäre Ausprägung in ihrer konsequenten und teilweise beinahe dogmatischen Verbindung mit der Aufklärung. Die Zukunftsträchtigkeit dieser Orientierung und der Methoden der protestantischen deutschen neutestamentlichen Wissenschaft scheinen mir angesichts der Entwicklung der internationalen Bibelwissenschaft in den letzten 30 Jahren sehr fraglich. Nicht dass ein verspätetes Aufspringen auf längst fahrende Züge die Lösung wäre, zumal manche methodische Neuorientierung im englischsprachigen Raum ­ bewusst oder unbewusst ­ jenseits von Historie und Theologie liegt und die Mängel teilweise mit Händen zu greifen sind. Nötig wäre eine grundlegende hermeneutische Neuorientierung einer unbedingt und bewusst festzuhaltenden sowohl historischen als auch theologischen Exegese jenseits der offensichtlichen weltanschaulichen und methodischen Aporien klassischer historischer Kritik. Dass historische und theologische Arbeit ohne die Prämissen und teils fragwürdigen Arbeitsschritte der historisch-kritischen Methode möglich ist, zeigen verschiedene, durchaus fruchtbare Entwürfe. Darin läge ein Neuansatz, der der jungen Generation deutscher Neutestamentler wieder internationale Anerkennung und Interesse verschaffen könnte. Das Potential dazu zeigen einige Beiträge dieses Bandes. Die Programme und persönlichen Begegnungen bei internationalen Konferenzen und zunehmend auch die internationale Fachliteratur zeigen, dass man zurzeit international von einer als angestaubt empfundenen deutschen neutestamentlichen Wissenschaft wenig Wegweisendes mehr erwartet. Warum und wie dieser Eindruck entstehen kann, ist nachvollziehbar.