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Ausgabe:

November/2005

Spalte:

1184–1186

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Biser, Eugen

Titel/Untertitel:

Paulus. Zeugnis ­ Begegnung ­ Wirkung.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. 303 S. 8°. Geb. Euro 39,90. ISBN 3-534-17208-6.

Rezensent:

Matthias Rein

»Paulus steht ... für die Überzeugung, dass das Christentum im Unterschied zum Judentum keine moralische, sondern eine mystische Religion ist.« (185) Diese These erschließt sich dem Verfasser des angezeigten Buches an der Person und Theologie des Paulus. Eugen Biser, Jg. 1918, von 1974 bis 1986 Inhaber des Guardini-Lehrstuhls für christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie an der Universität München, veröffentlichte 1981 eine große Untersuchung zu Paulus (»Der Zeuge. Eine Paulus-Befragung«, Graz-Wien-Köln), der weitere folgten (1981, 1984, 1985 ­ vgl. dazu die Rezension von Baudler, G.: Jesus und Paulus für Christen heute, ThLZ 112 [1987], 10­18 und 1992). Das Buch entfaltet B.s Grundansatz erneut, greift neuere Forschungsansätze (Sanders, Lohse, Becker, Schnelle) auf und verschafft Einblick in B.s Paulus-Sicht in einzelnen thematischen Kapiteln (z. B. Paulus und Jesus/Luther/Buber). Das Buch erschien als Pendant zu B.s Veröffentlichung »Nietzsche ­ Zerstörer oder Erneuerer des Christentums« (Darmstadt 2002), vgl. Petzoldt, M.: Nietzsche unter den Theologen, ThLZ 127 [2002], 867­882, 872 f. Das Kapitel »Paulus und Nietzsche« (269­283) stellt den Bezug zu diesem Lebensthema B.s her. Er sieht sich vor die Aufgabe gestellt, angesichts des Fragmentarischen des paulinischen Lebenswerkes die Dissonanzen, die der Apostel hinterließ, durch fortschreibende Deutung zu überbrücken und aufzulösen und so dem paulinischen Werk zur Vollgestalt zu verhelfen (9 f.298).

Das Zentrum des paulinischen Selbstverständnisses und seiner theologischen Konzeption verortet B. in der Selbstmitteilung des sich offenbarenden Gottes im Rahmen eines genuin mystischen Erlebnisses (29). Dieses Ereignis vor Damaskus war für Paulus eine akustische (Gal 1,15 ff.), optische (2Kor 4,6) und haptische (Phil 3,12) Erfahrung (29 f.). Er erkennt den ihm Offenbarten als Gottessohn, macht dabei eine überwältigende Liebeserfahrung, wird der Heteronomie seines bisherigen Daseins enthoben und in ein Kindesverhältnis zu Gott aufgenommen (Gal 4,6; Röm 8,15). Die mystische Identifikationsformel »Christus in mir« und die Umgreifungsformel »in Christus« fassen das Prinzip der paulinischen Mystik zusammen und konvergieren in dem Satz »Ich lebe, doch nicht ich ­ Christus lebt in mir« (Gal 2,20; 37). Heute, so B., vollziehe sich eine glaubensgeschichtliche Wende vom Gegenstands- zum Identitätsglauben, deshalb sei die Wiederentdeckung der paulinischen Mystik in Aufnahme der älteren Paulus-Forschung (Deissmann, Schweitzer, Wikenhauser) angesagt (37.183). B. greift weiter die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefenschicht im paulinischen Denken durch E. P. Sanders auf, vgl. Becker, J.: Der Völkerapostel Paulus im Spiegel seiner neuesten Interpreten, ThLZ 122 [1997], 981 f. 1Kor 13 gebe Aufschluss über die lebensgeschichtliche Relevanz des Liebesthemas für Paulus. Der Hymnus sei aus der Sicht eines Entbehrenden und sich nach Liebe Sehnenden verfasst, was auf die Zeit vor der Damaskus-Erfahrung hinweist (20 f.). Seine Aggressivität gegen die Christen in dieser Zeit resultiert nicht aus deren Gesetzesbrüchen, sondern aus Neid wegen deren erfolgter Aufnahme in die liebevolle Gottesgemeinschaft (22.223.263, vgl. zur Frage, inwiefern die 1.Person Singular in 1Kor 13 auf autobiographische Bezüge hinweist, Schrage, 1Kor III [EKK3], 283.308). Von diesem Kern her versteht B. Widersprüche in Pauli Biographie (Kapitel I­III) sowie in seinem Wirken als Apostel (Kapitel V­VII) und thematische Spannungen in seiner Theologie (Kapitel IV). Wie Sanders sieht B. in der paulinischen Rechtfertigungslehre eine extrovertierte, kasuistische Außenschicht, die der paulinischen Missionspredigt und nicht dem esoterischen Kern paulinischer Existenz zuzuordnen ist (87.126.226 f.). Das Verständnis der »Gerechtigkeit Gottes« als eines von Gott ausgehenden Beziehungsgeschehens kommt dabei nicht in den Blick. Die quälende Heteronomie des Paulus unter dem Gesetz wird durch die Christusbegegnung aufgehoben und damit die Frage nach dem rechten Gesetzesverständnis beantwortet, so scheint es.

In B.s Untersuchung begegnet einem eine Reihe origineller, mitunter gewagter Zugänge zu Paulus, wie z. B. Paulus als erster Medienkritiker der Christenheit (Gal 4,20; 134­139.179.241), Paulus als Vertreter einer dialogischen Denk- und Sprachform (89. 258­268), der Beitrag des Paulus zur Gestaltung religiöser Subjektivität und persönlicher Individualität (2Kor 4,13; 181). B.s Paulus-Sicht greift auf den schon länger zurückliegenden Versuch zurück, mystische Kategorien für die Beschreibung seiner Christus-Erfahrung und ihrer Weitergabe an die Gemeinden zu erschließen. Ob dies heute neu überzeugt, bleibt fraglich. Es fällt auf, dass B. dem expliziten Nachdenken über den Glauben als von Gott gewirkte Antwort des Menschen auf Gottes Zuwendung und genuine Existenzform des Menschen in der Gemeinschaft mit Gott wenig Aufmerksamkeit schenkt. Auf Glauben, der von einem mystischen Vereinigungsgeschehen zu unterscheiden ist, zielen aber die Predigt und das Wirken des Paulus (vgl. 2Kor 5,7: »Š denn wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen«, vgl. 2Kor 5,20; Röm 10,4­17; vgl. z. B. auch Gnilka, J.: Paulus von Tarsus, Freiburg i. B.-Darmstadt 1997/ 2004, 244­247). Die von Baudler gestellten Fragen (vgl. a. a. O. [s. o.], 17 f.) bleiben somit weiter offen.

Paulus tritt mit seinen Lesern und Zuhören auch heute in einen Dialog und setzt gegenwärtiger Sprachnot im Glauben seine Evangeliumsverkündigung entgegen. Auch heute geht es für die Glaubenden um Glaubensverständnis, Glaubenserfahrung und Glaubensverantwortung (185), wozu Paulus in entscheidender Weise klärend beiträgt. Soweit ist B. zuzustimmen. Ob aber die Existenz des Paulus im Glauben mit Hilfe mystischer Kategorien angemessen und erhellend wahrgenommen werden kann, bleibt zweifelhaft. Von daher ist die Begründung der anfangs zitierten These fraglich, ebenso, ob diese These dem Selbstverständnis des Judentums und des Christentums gerecht wird.