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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1103–1106

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Staats, Reinhart

Titel/Untertitel:

Protestanten in der deutschen Geschichte. Geschichtstheologische Rücksichten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 322 S. m. Abb. gr.8. Kart. Euro 38,00. ISBN 3-374-02175-1.

Rezensent:

Gert Haendler

Der Kieler Emeritus Reinhart Staats, primär Fachmann für die Alte Kirche und das Mittelalter, hat sich stets auch "für die neuere und neueste deutsche Geschichte interessiert" (Vorwort). Der Band ordnet 14 Beiträge nach "rücksichtsvoller" Methode: "Ein bewußtes Orientieren an der Gegenwart und eine sich daraus ergebende Untersuchung der Vergangenheit von hier und heute aus kann uns die Wahrheit in der Geschichte näher bringen. Gleichwohl kann es sich bei dieser die chronologische Verlaufsgeschichte umkehrenden Sicht der Geschichte nur um eine methodische Ergänzung handeln" (17). Er nennt vier Maximen: Kirchengeschichtswissenschaft lehrt 1. "ein praktisches Verstehen der Rechtfertigung des Menschen durch Gott". Urteile sind mit größter Vorsicht zu fällen und moralisierenden Wertungen ist zu widerstehen. 2. lehrt sie, "wie lebenswichtig die Erinnerung ist". Maxime 3 fordert, die Kirchengeschichte als Wirkungsgeschichte der Bibel zu sehen. 4. ist Kirchengeschichte als Universalgeschichte zu lehren. Eine universal begriffene Kirchengeschichte kann "auch Heilsgeschichte wahrnehmen" (26).

Untersuchung I, "Weltgeschichtliche Betrachtungen bei Harnack und Bonhoeffer", bringt neue Details zu jener Beziehung (28-51). Harnack hatte viele bedeutende Schüler, die ihre eigenen Wege gingen, aber alle verbindet die "Tatsache, daß sie nach 1933 ausnahmslos gegen die unmenschliche Hitler-Diktatur Haltung bewahrten und Widerstand leisteten" (51). Beitrag II, "Elisabeth Schmitz und die Nächstenliebe im Kampf gegen Rassismus", gilt einer Studienrätin, die bei Harnack studiert hatte und bei Friedrich Meinecke promoviert wurde. Sie half nach 1933 bedrängten Kollegen und nahm nach den Judenpogromen 1938 ihren Abschied aus dem Schuldienst. Für die Bekennende Kirche schrieb sie eine Denkschrift "Zur Lage der deutschen Nichtarier", die später "einer anderen Frau, der in der BK ebenso aktiven Marga Meusel, zugeschrieben" wurde (61). Aufsatz III, "Hans Asmussen und der deutsche Antisemitismus", tritt dem Gerücht antisemitischer Äußerungen Asmussens entgegen. Recherchen führten auf Hetzartikel eines Antisemiten Peter Asmussen, der manchmal den Vornamen wegließ. Hans Asmussen wehrte sich schon 1928 dagegen, "Juden aus Deutschland zu weisen" (71). Er war "persönlich in die Berliner Wohnblocks gegangen, wo Juden zum Abtransport nach Theresienstadt zusammengetrieben waren" (72).

Beitrag IV, "Freiheit und Neue Zeit: Die Ästhetik deutscher Revolution", geht auf zwei Lieder ein. Das Niedersachsen-Lied des SPD-nahen Musiklehrers Hermann Grote entstand 1924 und wurde "nach 1933 der herrschenden Ideologie integriert" (79). Hermann Claudius dichtete 1916 das Lied mit dem Refrain "Mit uns zieht die neue Zeit". Es wurde auch in der DDR gesungen - noch zum Abschluss des letzten SED-Parteitages 1989 (88). Weitere Lieder wurden sowohl im Dritten Reich wie in der DDR gesungen, z. B.: "Der kleine Trompeter", "Brüder zur Sonne zur Freiheit", "Argonnerwald um Mitternacht" (91-97). Überschrift V stellt die Frage: "Ernst Moritz Arndt - ein neuprotestantischer Heiliger?" Arndts Einsatz für freie Bauern benutzte die Propaganda der Nazis für "ein wehrhaft-germanisches Bauerntum und für das den bäuerlichen Stand sichernde Erbhofgesetz" (109). Theodor Heckel sprach 1939 über "Ernst Moritz Arndt. Ein Mannesleben für Glaube und Volkstum" (116). In der DDR berief man sich auf Arndt, der zuerst das Wort "Junker" als Schimpfwort gebraucht hatte (119). Arndts "Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten" - Petersburger Fassung von 1812 - kam "in deutscher sozialistischer Tradition fast zu kanonischer Geltung". Seine christliche Grundlage wurde übersehen (119). Der Moskauer Sender "Freies Deutschland" wählte zum Pausenzeichen Arndts Lied "Der Gott, der Eisen wachsen ließ". In H. Gollwitzers Kriegsgefangenenlager wurde 1945 zur Feier der Oktoberrevolution das Lied "Der Gott, der Eisen wachsen ließ" gesungen (130).

Untersuchung VI, "Erich Honeckers Ochs und Esel und die deutsche Weihnachtsfeier", erinnert an dessen Worte vom August 1989: "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf". Dieser Satz richtete sich "ursprünglich gegen die bürgerlich-christliche Weihnachtsfeier" (134). 1890 war diese Inschrift am Müggelturm zu sehen (134). An das Familien-Weihnachtsfest wollte man die Axt anlegen, da es das stärkste Bollwerk der Spießerfamilie und antikommunistisch sei (143). Für die Nazis ging es um die Familie deutschen Blutes und deutscher Rasse. Im Krippenbild war Maria "nur das Bild einer möglichst deutschen Mutter" (147). St. fordert eine Wiederentdeckung der "heiligen christlichen Familie" als Sinnbild der Kirche, zu der auch Nichtblutsverwandte und die "Singles" gehören (148). Die Arbeit VII, "Protestantische Festfrömmigkeit und Entkirchlichung im 19. Jahrhundert", zeigt, dass christliche und kirchliche Mentalität zumal in Norddeutschland auseinander gehen (149). St. nennt u. a. Schleiermacher, Caspar David Friedrichs "Kreuz im Gebirge", Thorvaldsens Christusgestalt. Uhlands Lied "Das ist der Tag des Herrn" war als "Schäfers Sonntagslied" eine Notlösung für Berufstätige, die am Sonntag nicht zur Kirche gehen konnten. Es wurde zur Alternative zum Sonntagsgottesdienst in der Kirche (163). Die Entwicklung führt über Bußtag, Totensonntag, Reformationstag und private Geburtstage zur Heiligabendfeier der bürgerlichen Familie, die St. bei allen Bedenken doch mit Anteilnahme darstellt.

Beitrag VIII, "Tatsache - Lessings Kritik an einem Wort deutscher Aufklärungstheologie", erkennt die Anfänge dieses Wortes bei Johann Joachim Spalding, dem späteren Berliner Propst (179). Lessing bemerkte zwischen 1777 und 1781, das Wort Tatsache sei so verbreitet, "daß man in gewissen Schriften kein Blatt aufschlagen kann, ohne auf eine Thatsache zu stoßen" (184). Lessing fühlte sich herausgefordert durch eine Schrift des Lyzeumsdirektors Johann Daniel Schumann: "Über die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion" (1777), dagegen ließ er seine Arbeit "Über den Beweis des Geistes und der Kraft" ausgehehen. Aufsatz IX, "Klopstock und der Ursprung des deutschen Wortes Bildung", ist die überarbeitete Fassung eines Artikels in ThLZ 127 (2002), 591-608.

Untersuchung X, "Der Universitätsreformer Melanchthon - Zeitbedingtes und Aktuelles", nennt drei Theologen, die am Beginn der Geschichte benachbarter Universitäten stehen: "Calixt an der Universität Helmstedt, gegründet 1578, Musäus an der Universität Kiel, gegründet 1665, und Mosheim an der Universität Göttingen, gegründet 1737". Hinter ihnen steht Philipp Melanchthon, der "die Sache der Universität noch eng mit der Sache des Christentums" verband (213). Erörtert werden Melanchthons Antrittsrede 1518 "De corrigendis adolescentia studiis", seine Vorschläge 1540 zur Reform der Universität Leipzig sowie seine Ratschläge an zwei polnische Studenten 1554 (215-218). Nach Melanchthons Auffassung muss der Staat für das Geld sorgen. Die Universität hat eine Verpflichtung zur Wahrheit, Konsensbildung und Bescheidenheit.

Beitrag XI, "Die politische Wirkung von Luthers Lied Ein feste Burg und ein möglicher Strophentausch", bringt einen erweiterten Artikel in ThLZ 123 (1998), 115-126. Gute Gründe sprechen für die Entstehung des Liedes im Jahre 1527. Ein Austausch der zweiten und dritten Strophe ergibt auch einen Zusammenhang (235-245). Aufsatz XII, "Luthers Turmerlebnis 1518/19 und Luthers effektive Rechtfertigungslehre", erinnert an die forensische Rechtfertigung, die rein passiv erlebt wird, und die effektive Rechtfertigung, die auf aktives Handeln drängt. Die Spätdatierung des Turmerlebnisses auf Januar 1519 bedeutet, "daß weniger Luthers einsamer Kampf um sein persönliches Seelenheil, den es gewiß bei ihm auch gab, sondern sein Wirken als Seelsorger und Lehrer der Kirche in den Blick kommt" (267). Luther vertrat eine effektive Rechtfertigungslehre in der Vorrede zum Römerbrief 1522, die u. a. bei August Hermann Francke und John Wesley weiterhin nachgewirkt hat (260). Beitrag XIII, "Luthers Geburtsjahr 1484" zeigt, wie unsicher das Geburtsjahr 1483 ist. Entscheidend wurde Melanchthons Eintragung ins Dekanatsbuch nach Luthers Tod: "Geboren im Jahr 1483 am 10. November" (276). Damals legte man auf Geburtstage kaum Wert, Luthers Geburtstag wurde erstmals 1883 groß gefeiert auf Befehl Kaiser Wilhelms (280).

Aufsatz XIV mit dem Thema "Orosius und die Anfänge nationaler Geschichtstheologie in Deutschland" erinnert an dessen von Lk 2 ausgehende römisch-christliche Geschichtsschau. Mit Humanismus und Reformation begann in Deutschland ein neues Interesse. "An die Stelle des Kaisers Augustus als Typus Christi konnte fortan der angeblich deutsche Held Arminius ohne Christus treten" (298). St. fragt, wie "die Fahrt des Protestantismus in Deutschland weitergehen" könnte (299). Er schlägt einen Bußtag für den 9. November vor. Die Erinnerung sollte uns gegen eine Verflachung der Karfreitags- und Abendmahlsfrömmigkeit wappnen. Der Protestantismus wird als "evangelische Weltgemeinschaft weiter Zukunft haben, wenn er die Bibel wie einen Schatz hütet" (302). An der Maxime von der Kirchengeschichte als Unversalgeschichte hält er fest auch in Anfechtungen, die uns diese Sicht bereiten kann, aber "auch an ihren wunderbaren Nachrichten von erlösten und im Wortsinn geheilten Menschen" (303).

Das Buch bietet eine Fülle von interessanten Beobachtungen und Hinweisen, die hier nur ganz knapp skizziert werden konnten.