Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1095–1098

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kuhn, Thomas K.

Titel/Untertitel:

Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XIV, 440 S. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 122. Lw. Euro 94,00. ISBN 3-16-148169-0.

Rezensent:

Martin Ohst

Nicht weniger als 73 Seiten umfasst das Quellen- und Literaturverzeichnis dieser im Wintersemester 2000/01 in Basel angenommenen kirchengeschichtlichen Habilitationsschrift: Kapitel 1 analysiert unter dem Leitgesichtspunkt "Karitative Religion" die "Gepredigte und verordnete Armenfürsorge bei August Hermann Francke" (9-77); "Praktische Religion. Der vernünftige Pfarrer als Volksaufklärer" (79-223) ist Gegenstand von Kapitel 2; dem Thema "Pädagogische Religion" ist das dritte Kapitel gewidmet; es stellt "Konzeptionalisierung und Institutionalisierung erweckter Erziehung bei Christian Heinrich Zeller" dar (225-338). Die drei Gegenstandsgebiete stehen also in einem zeitlichen Abfolgeverhältnis, weisen aber thematisch keine zwingende Kontinuität auf. Mit welchem Leitinteresse hat also der Vf. eben diese Gegenstandsbereiche ausgewählt? - Sehen wir zu: Zu Beginn der Einleitung gibt er an, die Untersuchung verdanke sich dem Interesse an der "Frage nach Divergenzen und Konvergenzen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegungen" (1). Aber sogleich eröffnet er einen weiteren Horizont, indem er das Thema "in die größeren Themenbereiche Religion und Neuzeit sowie Religion und Modernisierung" (1) einordnet. Damit nicht genug. Ohne sich mit der Klärung der von ihm beanspruchten Großbegriffe aufzuhalten, lokalisiert er die Fragestellung sogleich auch noch als "Aspekt in der Debatte über Säkularisierung, Dechristianisierung und Rechristianisierung" (1). Und er führt dann auch noch ein weiteres Deutungsparadigma ins Feld: Die von ihm zu traktierenden Phänomenbestände seien "Ausdrucksformen eines Modernisierungsprozesses" (2).

Eine gewisse Klärung erhält dann der Religionsbegriff: Der Vf. übernimmt seinen rein funktionalen und formalen Leitbegriff von Religion ("ein kulturelles Phänomen", 3) - etwas nonchalant verwendet er auch die Begriffe "Frömmigkeit" und "Religiosität" - von Th. Luckmann und K. v. Greyerz. Unvermittelt nähert er sich dann den Gegenständen seiner Untersuchung: "Die drei folgenden christentumsgeschichtlichen Studien thematisieren Aspekte des sozialen und diakonischen Handelns im neuzeitlichen Christentum" (4). Nach den üblichen forschungsgeschichtlichen Rück- und Seitenblicken folgt eine Präzisierung des Arbeitsprogramms: "Die hier vereinigten Studien untersuchen vor allem Prämissen und historische Voraussetzungen respektive Entwicklungen der diakonischen Theologie, ihre gesellschaftlichen Bezüge sowie ihre theologischen Konsequenzen. Die Fragen nach Praxis und Realisierungen treten hingegen zurück" (7). - Hinsichtlich der Marschrichtung und des Ziels der Untersuchung ist der Leser nach der Lektüre der Einleitung also nicht viel klüger als zuvor.

Der Francke-Teil hat folgende Leitgesichtspunkte: Er markiert den Stellenwert der karitativen Aktivität in Franckes Christentumsverständnis und untersucht dessen Strategie bei seinem Eintreten für diese in seiner Publizistik und in seinen Predigten; darüber hinaus fragt er nach dem Zusammenspiel von Franckes Initiativen mit den landesherrlich verfügten karitativ-sozialen Maßnahmen (11). Zunächst werden die Anfänge von Franckes Arbeit in Glaucha rekapituliert und je eine Hallische Armen- und Almosenordnung vorgestellt. Sodann zeigt der Vf. Franckes theologisch-sozialethische Grundgedanken auf und führt illustrierend thematisch einschlägige Predigten vor. Gelegentlich fallen die Schlagworte Säkularisierung, Dechristianisierung und Rechristianisierung, aber ansonsten bleiben die in der Einleitung vorgezeigten Begriffswerkzeuge ungenutzt. Der Vf. beobachtet allerlei an seinen Quellen, aber seine Beobachtungen fügen sich nirgends zum Gesamtbild. Dabei finden sich in dem von ihm ausgebreiteten Material dafür genügend Anhaltspunkte: Francke will möglichst vielen Gewohnheitschristen zur Wiedergeburt, zu einer lebendigen, bewusst verantworteten christlichen Existenz zu verhelfen, und die soll eben auch äußerlich erkennbar sein - was der Vf. als "soziale Marginalisierung" (32; leider nicht die einzige Stelle, an der er in Modejargon verfällt!) bezeichnet, ist also durchaus beabsichtigt als Merkmal einer religiösen Elite. Die große Volkskirche kommt als Missionsfeld und zugleich als Ensemble von Missionsmitteln in Betracht, zu den Letzteren gehört an herausragender Stelle die Armenpflege bzw. Diakonie. Die Wiedergeborenen können und sollen sich auf diesem Felde bestätigen und betätigen, und die Armen sollen auch zu Wiedergeborenen werden - daher "seine [Franckes; M. O.] verschärfte Form der christlichen Unterweisung bei der Verteilung von Almosen" (27).

Die karitative Arbeit Franckes ist also an einem Kirchenreformprogramm orientiert, das sich offenkundig als Fortschreibung des von Ph. J. Spener ausgearbeiteten erweist: Die nominell mit der Gesellschaft koinzidierende empirische Kirche soll ihrem theologischen Normbegriff möglichst angenähert werden. Und damit ist auch derjenige Deutebegriff benannt, der in der Einleitung zu Gunsten des blassen und kaum geklärten Allgemeinbegriffs von "Religion" ausgespart wird: Die Kirche als derjenige historisch greifbare und soziologisch wie theologisch reflektierbare Ort, an dem die großen Abstracta "Religion" und "Gesellschaft" immer schon beieinander sind, wo die christliche Religion ihre unmittelbaren Sozialideale und -wirkungen ausbildet und von wo aus diese sich weiter ausgreifend geltend zu machen versuchen. Es wird hier schon deutlich: Der von ihm am Ende seiner Arbeit beiläufig konstatierte Ausfall des Kirchenbegriffs in seinen Quellen (345) ist kein Argument gegen diesen Einwand, denn es gibt doch auch so etwas wie eine implizite Ekklesiologie: Ekklesiologische Normvorstellungen sind doch vielfach auch dort wirksam, wo nicht explizit der Kirchenbegriff traktiert wird!

Das zweite Kapitel ist der Spätaufklärung gewidmet; hier schlägt der Vf. Schneisen in ein Gebiet, das von der kirchen- und theologiegeschichtlichen Forschung bislang kaum berührt worden ist. Er lässt eine große Schar von weitestgehend vergessenen schriftstellernden Pfarrern und Theologen aufmarschieren, die sich dem Projekt der Volksaufklärung (höchst wichtige begriffs- und forschungsgeschichtliche Notizen, 82-86) verschrieben. In einem ersten Durchgang lässt der Vf. "Profile und Programme" (93 ff.) Revue passieren, d. h. er führt programmatische Äußerungen mehrerer Autoren vor - gleichsam als serielle Quellen. Stetig kehrt in den referierten Appellen und Argumentationsreihen der Grundgedanke der im göttlichen Schöpfungsplan gesetzten und vernünftig erkennbaren Perfektibilität wieder; er integriert Religion und vernünftigen Weltumgang, Ökonomie und Politik, ständisches und individuelles Ethos (vgl. z. B. 104.106.115.125 f.141.146.148-150). Unter dem Titel "Angegriffene Geistliche" (153 ff.) gibt der Vf. sodann Einblicke in Debatten, in welchen die Frage diskutiert wurde, ob und inwiefern gerade das Christentum in seiner gewachsenen kirchlichen Form geeignet sei, die Realisation der Perfektibilität religiös zu deuten und zu begleiten. Vor dem Hintergrund dieser Debatten erörtert er die gleichzeitigen pastoraltheologischen Diskurse über das Selbstbild und Selbstverständnis des Pfarramts. Der dritte Unterabschnitt des Kapitels ist unter dem Titel "Eingreifende Geistliche" (193 ff.) solchen Phänomenen gewidmet, die als Ant- worten auf diese Herausforderungen verstanden werden können: Pfarrer verfassten utopische Dorfromane, in denen ihr eigener Stand als Beförderer der allgemeinen Wohlfahrt ins rechte Licht gesetzt wurde; in dieselbe Linie ordnet der Vf. die Debatten um die Aufgaben des Pfarrers als Helfer und Vorbild in Fragen der landwirtschaftlichen Innovation sowie als hygienisch-medizinischer Ratgeber ein. Auch hier wird das leitende Verständnis von Kirche nicht erörtert; damit wird eine wichtige Möglichkeit der Bestimmung von Kontinuitäten mit bzw. Neuerungen gegenüber Francke nicht genutzt.

Der dritte Teil der Arbeit schildert das von Basel aus gegründete und wesentlich von Christian Heinrich Zeller (1779- 1860) geprägte Rettungshaus in Beuggen/Baden. Der Vf. bettet hier seine Analyse religiös-pädagogischer Programme in einen weit ausgreifenden Erzählzusammenhang ein. Er setzt ein, indem er die "Debatte über die Erziehung" als "Kontinuum zwischen Volksaufklärung und der frühen Erweckungsbewegung" (225) namhaft macht. Zellers eigener Lebensgang bezeugt selbst eindrücklich diese, freilich durch eine "Bekehrung" gebrochene, Kontinuität (239-241). In seiner weit ausgreifenden Analyse von Zellers Pädagogik (302-338) macht der Vf. deutlich, dass dieser zwar auf Erkenntnisse der Aufklärungspädagogik zurückgreift, sie jedoch in eine erweckungstheologische Rahmentheorie einstellt; besondere Bedeutung hat dabei für Zeller der Rückbezug auf Francke (308-310). Beachtlich ist weiterhin Zellers Bewertung der spezifisch erweckungstheologisch-neupietistisch verstandenen Kirche ("geistig freie Gemeinschaft von Menschen ..., die nicht mehr Gäste und Fremdlinge sind, sondern Bürger mit den Heiligen" [307]) als Erziehungsinstitution neben, wenn nicht über Staat und Elternhaus. Sie wurzelt in dessen chiliastisch-eschatologisch bestimmter Geschichtstheologie und Gegenwartsdeutung (zusammenfassend 331.314). Zellers Verachtung des römischen Katholizismus registriert der Vf. in diesem Zusammenhang zwar ebenso wie sein distanziert-unterkühltes Verhältnis zu den evangelischen Landeskirchen, aber er unterlässt es, von hier aus durch vergleichende Rückblicke das Verhältnis zum Pietismus und zur Spätaufklärung zu profilieren - weil er hier das Thema "Kirche" ausgeblendet hat.

Die Zusammenfassung der Arbeit (339-346) konstatiert, dass zwischen der neuzeitlichen Ausdifferenzierung der Religion und der neuzeitlichen Ausdifferenzierung der Gesellschaft ein Verhältnis der Interdependenz zu beobachten sei. Das ist sicher unbestreitbar, war aber auch schon zuvor nicht gänzlich unbekannt. So hinterlässt die Arbeit einen zwiespältigen Gesamteindruck: Einerseits präsentiert der Vf. eine beeindruckende Fülle von Erkenntnissen und Einsichten zu weithin unbekannten Debatten und Ereignisreihen, andererseits wird man ihm kaum bescheinigen können, dass er die Verhältnisbestimmung von Pietismus, Aufklärung und Erweckung wirklich vorangebracht hat.