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Ausgabe:

Oktober/2005

Spalte:

1063–1065

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Peres, Imre

Titel/Untertitel:

Griechische Grabinschriften und neutestamentliche Eschatologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XX, 336 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 157. Lw. Euro 79,00. ISBN 3-16-148072-4.

Rezensent:

Udo Schnelle

Die Untersuchung ist eine Habilitationsschrift, die während eines mehrjährigen Forschungsaufenthaltes in Bern entstand (Betreuung: H.-G. Nesselrath und U. Luz) und an der Reformierten Károli Gáspár Universität in Budapest eingereicht wurde. Ihr forschungsgeschichtlicher Ausgangspunkt ist die Frage nach hellenistischer Eschatologie im Neuen Testament. Der Vf. betont, dass sich vor allem bei Lukas, Johannes und Paulus eine hellenistische Eschatologie finden lässt. Aber auch der Hebräerbrief, die Pastoralbriefe oder der 1. Petrusbrief sind von hellenistischer Eschatologie beeinflusst. "Dabei sind die neutestamentlichen Autoren mit zwei Grundtendenzen der griechischen Jenseitsvorstellungen konfrontiert: Die eine nennen wir negative oder nach unten orientierte Eschatologie, weil das menschliche Leben mit seiner dunklen Hoffnungslosigkeit im unterirdischen Hades oder im Nichts endet. Die andere nennen wir positive oder nach oben orientierte Eschatologie, weil die Seelen nach oben ins Elysium oder zu den Inseln der Seligen gehen werden, oder nach oben in den Äther, zu den Sternen, in den Himmel oder zum Olymp" (2).

Als Quellen zur Erforschung der hellenistischen Eschatologie dienen ca. 1000 griechische Grabinschriften aus der Zeit zwischen 300 v. Chr. bis 200 n. Chr. Die Inschriften stammen vor allem aus Griechenland, Kleinasien, Syrien, Ägypten und Italien. Nach einer kurzen forschungsgeschichtlichen Einleitung bietet der Vf. zunächst eine Übersicht zu Jenseitsvorstellungen in den Grabinschriften (20-105: Hauptlinien der griechischen Jenseitsvorstellung). Die Griechen mussten sich wie alle Menschen zu allen Zeiten mit der harten Realität des Todes auseinander setzen. Als erste mögliche Reaktion auf den Tod werden Inschriften mit einem pessimistischen Grundton vorgestellt.

Aufschlussreich sind dabei vor allen jene Inschriften, die den Hades als ein Kindermärchen bezeichnen und zumeist in einen ironischen Pessimismus münden (vgl. 30 f.). Daneben mischen sich Unsicherheit und Zweifel über die individuelle Existenz nach dem Tod. Große Bedeutung kommt den Schicksalsgöttern zu, die Leben und Tod, Glück und Unglück der Menschen bestimmen. Die Welt des Hades wird in vielerlei Weise beschrieben, bestimmend ist die Vorstellung, dass nach dem Abstieg in den Hades alle Menschen zum Gericht gelangen, wobei die einen den Weg nach rechts zur Rettung und die anderen den Weg der Verdammnis nach links gehen werden. Der Weg der Gerechten führt zum Ort der Frommen oder zu den Inseln der Seligen, der Weg der Verbrecher hingegen in den Tartaros. Hier widerfährt ihnen, was sie durch ihre Lebensführung verdienen. Nicht nur Skepsis, sondern auch Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod wird von den Inschriften immer wieder bezeugt. Zu nennen sind hier vor allem: die Vorstellungen vom süßen Schlaf und von der Insel der Seligen; die Erwartung eines Lebens in der Sphäre des Äthers als erste Stufe auf dem Weg zum Himmel und zum Olymp; damit häufig verbunden die Vorstellung einer Verstirnung (die Seele wird im Bereich des Himmels zu einem Stern) und schließlich die Heroisierung, die versucht, dem Verstorbenen den Status eines Halbgottes zuzusichern. Vor allem der Tod in der Schlacht sicherte Verehrung und Heroisierung. Erwähnenswert ist die Vermutung des Vf.s zu 1Kor 15,29, wonach die stellvertretende Taufe für die Toten vielleicht "in Analogie zu einer paganen Heroisierung verstanden werden kann" (96). Innerhalb der verschiedenen Orte des Jenseits kommt dem Olymp eine herausgehobene Bedeutung zu. Insbesondere beim Tod junger Menschen tröstet man sich mit der Erklärung, dass der Wunsch der Götter die Menschen sterben ließ und sich so im Tod die Liebe der Götter zeigt. Das Leben auf dem Olymp wird als ein Leben ohne Ende, in Sorglosigkeit und ohne Schmerzen verstanden.

Im vierten Kapitel vergleicht der Vf. klassisch-griechische und neutestamentliche Vorstellungen, wobei insbesondere mit Lukas (Lk 16,22-26) und Paulus (Phil 3,20) Übereinstimmungen bestehen. Es muss offen bleiben, ob Lukas und Paulus griechische Grabinschriften bekannt waren, ihre Leser kannten sie mit Sicherheit. Weit verbreitet in Grabinschriften ist die Vorstellung der himmlischen Wohnungen, die sich auch in Joh 14, 2 f. findet. Schon immer spielte 2Kor 5,1-10 als Beleg für den Einfluss hellenistischen Denkens auf Paulus eine herausgehobene Rolle.

Der Vf. arbeitet die Parallelen zwischen diesem Text und Grabinschriften heraus, speziell die Dualismen, das Nackt-Sein und die Frage eines Zwischenzustandes lassen auf eine hellenistische Beeinflussung schließen. Ein Vergleich der Auferstehungsvorstellungen bei Paulus und in Grabinschriften zeigt, dass nach griechischem Denken die Trennung des Leibes von der Seele im Tod definitiv erfolgt und die Zukunft der Toten ohne Leib stattfindet, während für Paulus die Leibvorstellung unaufgebbar ist. Bei der Entrückung steht vor allem Lukas einer hellenistischen Eschatologie sehr nahe. Er spricht von einer Entrückung in den Hades und in eine himmlische Sphäre, den Schoß Abrahams (Lk 16,22 f.). Jesus stellt am Kreuz den Mitgekreuzigten und damit auch den Lesern des Evangeliums als Hoffung vor Augen, nach dem Tod im Paradies zu sein (Lk 23, 43). Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in Grabinschriften, sehr häufig wird dort das Bild vom Elysium oder den Inseln der Seligen verwendet. Auch die Himmelfahrt Jesu ist als Entrückung in hellenistisches Denken eingebettet. Die in Grabinschriften häufig anzutreffende Hoffnung auf Vergöttlichung nach dem Tod hat dagegen im Neuen Testament nur indirekte Parallelen (vgl. 2Petr 1,4; 1Joh 3,2).

Hingegen lassen sich bei dem Motiv des Lebens mit den Göttern beachtliche Parallelen aufzeigen. Im Volksglauben wurde das Zusammensein mit Göttern und das Leben in ihrem Bereich in vielfältiger Weise ausgemalt. Im Neuen Testament kommen Texte wie Lk 22,33 (Sitzen auf den Thronen und Mahlzeit im Gottesreich) und das Motiv der Gemeinschaft mit Christus als Parallelen in Frage. Zwar sind die neutestamentlichen Texte christologisch orientiert, aber auch sie dokumentieren das Motiv einer Heils-, Mahl- und Throngemeinschaft mit Christus bzw. Gott. Aufschlussreich sind schließlich die unterschiedlichen Dimensionen der Hoffnungsbegriffe in den Grabinschriften und im Neuen Testament. Die Grabtexte verbinden mit der Wortgruppe Hoffnung/hoffen keine eschatologischen Vorstellungen; die griechische Hoffnung dauert nur bis zum Grab und kennt nur irdisches Glück. Demgegenüber verbindet sich in einer christologischen Konzentration der frühchristliche Hoffnungsbegriff mit einem eschatologischen Horizont auch für das persönliche Heil.

In einem abschließenden Kapitel nimmt der Vf. eine Bündelung seiner Ergebnisse vor. Gemeinsam ist den Jenseitsvorstellungen der Grabinschriften, dass sie durchweg eine räumliche Eschatologie vertreten und keine zukünftige Weltenwende kennen, die auch für die Toten bedeutsam sein könnte. Die Jenseitshoffnungen sind in der Regel individuell formuliert und schließen allenfalls Verwandte mit ein. Auch wenn die neutestamentliche Eschatologie durch ihre christologische Fundierung anders strukturiert ist, zeigen sich beachtliche wort- und motivgeschichtliche Übereinstimmungen mit den Grabinschriften.

Die Studie ist in mehrfacher Hinsicht als vorbildlich anzusehen: 1) Die Grabinschriften sind Zeugnisse tief verwurzelten Volksglaubens, dessen Kenntnis auch bei zahlreichen neutestamentlichen Autoren und vor allem den Mitgliedern der frühen christlichen Gemeinden vorauszusetzen ist. 2) Die Edition, Erstübersetzung und/oder Übersetzung zahlreicher griechischer Grabinschriften ins Deutsche stellt eine großartige philologische Leistung dar. Die für neutestamentliche Eschatologie zentralen religionsgeschichtlichen Texte sind nun leicht zugänglich und können für die Interpretation fruchtbar gemacht werden. 3) Die exegetischen und religionsgeschichtlichen Urteile des Vf.s sind abgewogen und stets gut begründet. 4) Auch in der Eschatologie zeigt sich, wie stark die neutestamentlichen Autoren und ihre Rezipienten in hellenistischen Vorstellungen lebten, ohne dass daraus eine Alternative zu jüdischen Vorstellungen aufgebaut werden muss, die natürlich die neutestamentliche Eschatologie ebenfalls stark beeinflusst haben.