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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

1006–1008

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Oertel, Holger

Titel/Untertitel:

"Gesucht wird: Gott?". Jugend, Identität und Religion in der Spätmoderne.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2004. 447 S. m. Abb. 8 = Praktische Theologie und Kultur, 14. Kart. Euro 49,95. ISBN 3-579-03493-6.

Rezensent:

Bernd Schröder

Der Titel des Buches ist ein Zitat aus dem Aufsatz eines jungen ostdeutschen Erwachsenen zum Thema "Religion". Die Wahl dieses Diktums weist bereits auf Charakteristika der vorliegenden Studie hin: Es handelt sich um eine qualitative empirische Untersuchung; ihr Gegenstand ist die Bedeutung von "Religion" für das Selbstverständnis bzw. die Identitätsbildung insbesondere ostdeutscher Jugendlicher. Der Vf. wurde auf Grund dieser Studie im Jahr 2002 zum Dr. theol. promoviert; betreut wurde er von Michael Meyer-Blanck, Universität Bonn.

Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Die "Einleitung" (I., 15-117) klärt die zentralen Begriffe: "Spätmoderne", "Identität", "Religion" u. a. m., dazu die Methode der Untersuchung, hier also die so genannte objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann für die Auswertung der biographisch-themenzentrierten Interviews (105.108 ff.) sowie die so genannte qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring für die Auswertung der "freien Aufsätze" zu zwei vorgegebenen Themen (106.114 ff.). Der erste Hauptteil stellt anschließend sieben von insgesamt 20 "Fallanalysen" vor (II., 119-290): Geboten wird in ausführlicher Form die Interpretation der Gespräche mit vier ost- sowie einer westdeutschen Jugendlichen; hinzu kommen zwei jeweils sehr knappe "Fallbeschreibungen".

Der zweite Hauptteil rundet das Bild durch "Aufsatzanalysen" ab (III., 291-397). 174 Jugendliche - wie die interviewten Probanden durchschnittlich 18 Jahre alt -, die fünf Gymnasien in vier Bundesländern besuchen (102.430), waren gebeten worden, ihr Verständnis von "Religion" bzw. von deren Bedeutung für die Gesellschaft in je einem Aufsatz zu entfalten; kursweise waren die Probanden zudem zu einem Nachgespräch eingeladen. "Die Daten wurden von Frühjahr 1999 bis Herbst 2000 erhoben." (102) Der Vf. stellt den Ertrag der Aufsätze, geordnet nach den Themen, die von den Schülern und Schülerinnen aufgegriffen wurden, vor. - Der vierte Teil bietet "Ergebnisse und Diskussion" (IV., 399- 426); angefügt sind technische Hinweise und ein Literaturverzeichnis.

Die Arbeit versteht sich als religionspädagogische. Ein entsprechender Bezug wird jedoch in Vorwort und Einleitung mehr angedeutet als expliziert (13.26-33) und klingt im Corpus der Arbeit nur gelegentlich an (z. B. 102). Die eingangs aufgeworfene Frage, "welchen Beitrag religiöse Bildung im Prozeß des Heranwachsens vor dem Hintergrund ... der modernen Parzivalsituation ... leisten kann" (18), wird erst in den abschließenden Thesen etwa zum "Bildungsdilemma der Religionspädagogik" (422; vgl. 422-426) wieder ausdrücklich thematisch. Weder Interviews noch Aufsätze stoßen die Probanden explizit auf die Frage nach der bildenden Funktion von Religion - bemerkenswerterweise, aber eben folgerichtig galt dem Vf. eine Klärung des Begriffs "Bildung" auch nicht als notwendiger Teil seiner Einleitung. - Im Folgenden greife ich lediglich einige wenige Festlegungen und Ergebnisse der Arbeit heraus, die ich als anregend wahrgenommen habe.

Unter den Begriffsklärungen, die sich aus solidem Referieren der jeweiligen Diskussionslage ergeben, weckt insbesondere der Religionsbegriff des Vf.s Interesse. Er skizziert ein dreifach gegliedertes Verständnis von Religion: "Religion A" bezeichnet - im Anschluss an Tillich und Luhmann - die jedem Menschen aufgegebene "Suche nach Antworten auf Probleme der Kontingenz" (96), "Religion B" steht für individuelle "Lösungen" solcher Kontingenzprobleme und "Religion C" für die traditionellen Sozialgestalten der Religion (96 f.). Mit Hilfe dieser Konstruktion vermag der Vf. sich - seiner Intention entsprechend - offen und beschreibend den Aussagen seiner Probanden zu nähern.

Was den für die Fragestellung der Arbeit ebenso konstitutiven Identitätsbegriff angeht, so adaptiert der Vf. hier das "Konzept alltäglicher Identitätsarbeit" von H. Keupp (s. Schaubild, 69); merkwürdig mutet an, dass er dem dezidiert ein theologisches Identitätsverständnis gegenüberstellt, ohne beide "in Einklang" zu bringen oder auch nur bringen zu wollen (82). Der Vf. postuliert vielmehr: "In actu nimmt praktisch-theologische Empirieforschung die ihr eigene theologische Perspektive ... zurück"; sie begründet sich lediglich von ihr her (83).

Aus den Fallanalysen und ihrer Auswertung nenne ich folgende Beispiele für Beobachtungen, die zu weiterer Reflexion anregen. Religionskritik sei eine "den Entwicklungsprozessen der Adoleszenz entsprechende Form der Auseinandersetzung" mit dem Thema Religion insgesamt, "da sie den Bedürfnissen differentieller Identitätsarbeit ... entgegenkommt" (403). An den Interviews mit ostdeutschen Jugendlichen zeige sich - anders als in Westdeutschland - "die Tendenz, daß ein sehr hoher Wissensstand im Bereich religiöser Bildung gerade nicht von der Kirche entfremdet" (405). "Vom Standpunkt jugendlicher Identitätsarbeit stellt sich Kirche ... als forcierter, projektiv besetzter Gegenpol zur aktuellen Selbst- und Umweltkonzeption dar." (411)

So bedenkenswert diese und etliche andere Beobachtungen auf den knapp 300 Seiten Deskription und Analyse sind, so sehr misstraue ich der Validität der Schlussfolgerungen: Zum einen wird nicht transparent, nach welchen Kriterien die Probanden im Allgemeinen und die fünf ausführlich besprochenen Fallanalysen im Besonderen ausgewählt wurden (vgl. etwa 106). Zum zweiten lassen die auswertenden Bemerkungen (zu) häufig ein generalisierendes Gefälle erkennen (z. B. 162.409) - strukturelle Muster der Verarbeitung von "Religion" im Prozess der Identitätsbildung (wie sie etwa 1994 von Fischer/Schöll destilliert wurden) werden hingegen kaum erkennbar. Zum dritten sind die Thesen, die der Vf. am Ende formuliert, sehr weitreichender Art und als solche nach meinem Eindruck schwerlich aus den Befunden begründbar.

Eine dieser Thesen besagt, dass "Religion in dieser subjektivierten Form ... als grundlegender Bestandteil von Identitätsarbeit zu verstehen sei und ... selbst in einem Umfeld [begegne], in dem religiöse Semantiken unvertraut sind" (415; vgl. aber 388 ff.); eine weitere, dass das "Individualisierungstheorem" kritisch revidiert gehöre, weil Individuen angesichts des wachsenden - und sie überfordernden - Entscheidungszwangs auf "Standardisierungen" ausweichen (419). Eine (vom Vf. betonte) dritte These zielt - schon sprachlich kaum nachvollziehbar- auf "eine bildungstheoretische Neubegründung des Religionsunterrichts", die nur gelinge, "wenn in ihm die genannten Strukturbedingungen des Aufwachsens eine andere Qualität erlangen, die ... ersatzlos durch die Auseinandersetzung mit Religion zu erzielen ist" (422). Eine vierte These zieht gerade aus Gesprächen mit nicht-religiösen Jugendlichen den Schluss, dass religiöse Bildungsprozesse zwingend "religiöse Positionalität" der Lehrenden erfordern (424) und eben deshalb LER abzulehnen sei.

Nicht auf der Sachebene ist diesen Thesen hier zu widersprechen; fraglich ist, ob das qualitative Untersuchungsdesign diese Art von Schlussfolgerungen zu tragen vermag. Unbeschadet dieses Einwandes ist die Studie lesenswert, insofern sie ein Sich-Hineindenken in jugendliche Reflexion auf Religion und Identität anmahnt und ermöglicht.