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Ausgabe:

Mai/1998

Spalte:

502 f

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Maier, Hans [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

,Totalitarismus’ und ,Politische Religionen’. Konzepte des Diktaturvergleichs. A. Referate und Diskussionsbeiträge der internationalen Arbeitstagung des Instituts für Philosophie der Universität München vom 26.-29. September 1994. B. Beiträge der Forschung.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1996. 442 S. gr.8 = Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 16. Kart. DM 48,-. ISBN 3-506-76825-5.

Rezensent:

Martin Greschat

Der Begriff wie auch die Konzeption des "Totalitarismus" werden im wissenschaftlichen Diskurs seit der politischen Wende in Mittel- und Osteuropa in einem beträchtlichen Ausmaß als Kategorien zur Deutung der katastrophalen Vorgänge in unserem Jahrundert herangezogen. Es fiele nicht schwer, zum Beweis dafür eine ansehnliche Liste jüngst erschienener Titel zusammenzustellen. Ein solches Unternehmen würde allerdings auch belegen, daß es sich bei diesem Interpretationsmodell des "Totalitarismus" keineswegs um einen Entwurf erst unserer Tage handelt. Vielmehr dient dieses Konzept vor allem in den dreißiger und vierziger Jahren und darüber hinaus zur Charakterisierung der offenkundigen Gemeinsamkeiten der in ihrem Selbstverständnis sehr unterschiedlich ausgerichteten Diktaturen auf unserem Kontinent.

Hinter diesem Urteil stand eine primär geistesgeschichtliche, betont philosophisch-religiöse Weltsicht. Dem widersprach dann eine nicht weniger ideologische, nun allerdings stark von neomarxistischen Gedanken geprägte Überzeugung, wonach die grundlegenden und mithin entscheidenden Trennlinien nicht zwischen Totalitarismus und demokratischem Liberalismus bzw. Sozialismus verliefen, sondern zwischen Faschismus und Antifaschismus.

So wichtig die Erinnerung an solche politisch-ideologische Positionen ist, die wissenschaftliche historische Forschung hat sich aufs Ganze gesehen nicht auf solche Alternativen festlegen lassen. Allerdings muß man differenzieren. Ging es der Totalitarismusforschung primär um die Herausarbeitung genereller Charakteristika, vor allem im Blick auf die Bedeutung der Ideologie eines Regimes, die Organisation und Funktion von Massenparteien sowie Führungseliten, die Rolle des Terrors wie auch der Beeinflussung von Menschen durch die Medien, setzten die kritischen Einwände gegen dieses Interpretationsmodell sehr konkret bei der Organisations- und Sozialgeschichte an und deckten dann im Blick auf Mentalitäten und Alltagsgeschichte fundamentale Unterschiede z. B. zwischen dem faschistischen Italien, dem nationalsozialistischen Deutschland oder der bolschewistischen Sowjetunion auf. Ob und wie sich eine solche, auf bestimmte Konkretionen bezogene Sicht der Geschichte mit jener generellen, prinzipiell auf Verallgemeinerungen, also Abstraktionen zielenden Schau vereinbaren läßt, steht dahin. Hier geht es nur darum, andeutungsweise den wissenschaftlichen Kontext des zur Diskussion stehenden Buches zu umreißen.

Dieses bietet die Vorträge sowie die Diskussion einer internationalen Arbeitstagung zum Thema, die im September 1994 in München stattfand. Der Ertrag mutet recht heterogen an. Wohl auch deshalb hat der Veranstalter seine Intention bei diesem Projekt vorab in einem Taschenbuch veröffentlicht (Hans Maier, Politische Religionen, Die totalitären Regime und das Christentum, Freiburg i. Br. 1995). Im vorliegenden Band befassen sich sieben Beiträge mit der Thematik des Totalitarismus (15-27) und vier mit Fragen der Politischen Religionen (129-232). Es folgt die von Hans Maier eingeleitete und durch eine Reihe von Statements angereicherte Generaldiskussion (233-332). Fünf "Beiträge zur Forschung" (335-421) beschließen den Band.

Besonders informativ ist im ersten Teil die Darlegung der Geschichte des Totalitarismusbegriffes in Italien durch Jens Petersen (15-35). Hier wurde angesichts des Faschismus erstmals versucht, die Eigenart des neuartigen politischen Phänomens zu erfassen. Die folgenden Beiträge fügen dem wichtige Aspekte aus der italienischen, deutschen, russischen und ungarischen Perspektive hinzu. Prägnanter und klarer im Sinne der wissenschaftlichen Handhabung wird dadurch allerdings die Konzeption des Totalitarismus nicht. Noch unschärfer bleiben die Aussagen im zweiten Teil. Bereits die Überschrift des einleitenden Artikels von Juan J. Linz belegt das: "Der religiöse Gebrauch der Politik und/oder der politische Gebrauch der Religion, Ersatz-Ideologie gegen Ersatz-Religion" (129-154). Ebenso materialreich wie detailliert werden da einerseits die Gesichtspunkte aufgewiesen, die gegen die Verwendung des Begriffes und Konzepts der politischen Religion sprechen; andererseits gehört offenkundig nicht nur die politische Nutzung von Religion und Kirche, sondern ein religiöses Selbstverständnis zum Wesen des Totalitarismus. Aber was impliziert das? So anregend die Ausführungen von Winfried Hover über Romano Guardini (171-181) oder von Dietmar Herz über Eric Voegelin (191-209) auch sind: Sie können natürlich die gebotene Reflexion nicht ersetzen, was denn in diesem Zusammenhang unter "Religion" oder "Kirche" zu verstehen ist. Entsprechend vage bleiben sämtliche Auskünfte. Lübbe schlägt vor, von einer politischen "Anti-Religion" (167 f.) zu sprechen, Repgen zieht den Begriff "Gegenkirche" vor (315), Linz votiert für den Terminus "Ersatzreligionen" (320) und Hans Maier resümiert schließlich, es sei doch sinnvoll, "ein religiös-theologisches Vokabular zu gebrauchen" (332).

In den dankenswerter Weise ausführlich abgedruckten Diskussionen tritt das Suchen und Vorantasten der Teilnehmer des Kolloquiums besonders eindrücklich zutage. Ebenso deutlich werden hier allerdings auch noch einmal die Grenzen des Unternehmens. Mit Hans Mommsens kritischen Überlegungen zur Verwendung des Totalitarismusbegriffs (291-300) setzte sich der Kreis nicht wirklich auseinander. Geistesgeschichtliche Ansätze und Ableitungen dominierten in einem ungewöhnlichen Ausmaß. Bemerkenswert erscheint auch die Konzentration auf den Katholizismus in den meisten Ausführungen. Von der intensiven Beschäftigung z. B. der Ökumene mit dem Problem des "totalen Staates" ist lediglich einmal, im Vorübergehen, die Rede (62). Alles das mindert leider das Gewicht dieses Buches, das insgesamt vielfältige wichtige Anregungen, Einsichten und Anstöße zu vermitteln vermag.