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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

982–984

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Albert, Gert, Bienfait, Agathe, Sigmund, Steffen, u. Claus Wendt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XII, 406 S. m. Abb. gr.8. Lw. Euro 84,00. ISBN 3-16-148182-8.

Rezensent:

Hubertus Niedermaier

Im April 2003 wurde zum dreitägigen Kolloquium "Das Weber-Paradigma" nach Heidelberg geladen. Daraus entstand der gleichnamige Sammelband, dem von den Herausgebern die Frage vorangestellt wird, ob es möglich ist, "das Webersche Denken als Paradigma herauszuarbeiten" (2). Dass ein solches Forschungsprogramm heute gute Chancen hat, in der deutschen Soziologie eine zentrale Stellung einzunehmen, wird mit der Einschätzung begründet, dass die "während der vergangenen Jahrzehnte etablierte Dominanz der kommunikativen Handlungstheorie, der Theorie autopoietischer Systeme und der Theorien der rationalen Wahl ... zunehmend ihre Selbstverständlichkeit" (1) verliert. Um nun in der gebotenen Kürze einen Einblick in den Sammelband geben zu können, der neben der Einleitung 17 Beiträge umfasst, sollen diese ganz im Sinne Webers anhand einer Typologie geordnet werden.

Der erste Typus umfasst diejenigen Texte, die versuchen, einen Beitrag zu einem Weber-Paradigma zu leisten. Hier sind zunächst die Aufsätze "Eigenart und Potenzial des Weber-Paradigmas" von M. Rainer Lepsius, "Person und Institution" von Karl-Siegbert Rehberg und "Handlung, Ordnung und Kultur" von Wolfgang Schluchter zu nennen, in denen Überlegungen zu einem spezifisch weberianischen Forschungsprogramm angestellt werden.

Die beiden Ersteren rücken dabei besonders die Analyse von Institutionen in den Vordergrund, wobei Lepsius hervorhebt, dass die Begriffsbildung Webers "auf die Erfassung von Prozessen gerichtet" (33) ist, wogegen Rehberg den Akzent auf "institutionelle Verstetigungsleistungen" (382) setzt. Schluchter geht in seiner programmatischen Skizze über die Fokussierung auf Institutionen hinaus, indem er anhand von zehn Stichworten darlegt, was für ihn den Kern eines weberianischen Forschungsprogramms ausmacht. Er diskutiert begrifflich präzise unter anderem, wie die Lehre vom Idealtypus, erklärendes Verstehen, methodologischer Individualismus oder Fragen der Wertdiskussion aufzufassen sind. Schluchter bezeichnet zwar Webers Ansatz als kritischen Rationalismus, arbeitet allerdings die Unterschiede zur Rational-Choice-Theorie deutlich heraus. Unter dem Titel "Max Webers Parteisoziologie und das Problem des Faschismus" spürt Stefan Breuer anders als die drei oben genannten Autoren nicht dem Kern von Webers Soziologie nach, vielmehr wendet er diese paradigmatisch an: Er macht sich daran, einen Idealtypus der faschistischen Partei zu konstruieren, und gelangt zu einer Definition, wonach es sich dabei um "charismatische Patronageparteien mit paramilitärischem Charakter" (367) handelt.

Die Aufsätze "Weltauffassung, Wissenschaft und Praxis" von Hans Albert, "Die situationsbezogene und die prozedurale Sicht von Handlungsrationalität in Max Webers Begriffsbildung" von Zenonas Norkus und "Die Rationalität der Werte" von Hartmut Esser gehören dem zweiten Typus an, weil sie alle Max Weber aus der Perspektive des Rational-Choice-Ansatzes betrachten. Diese nehmen die beiden letztgenannten Autoren als Grundlage für eine Rekonstruktion von Begrifflichkeiten Webers.

Norkus unternimmt eine differenzierte Betrachtung des Begriffs rationalen Handelns und vermag dadurch zu zeigen, dass Rationalisierung zwar einen Zuwachs an formaler, nicht notwendig aber auch an subjektiver oder materialer Rationalität bedeutet. Eine eingehende Betrachtung des wertrationalen Handlungstyps führt Esser zu der Feststellung, dass letztlich die Unbedingtheit rational begründeter Werte "auf änderungsfähigen und nie gänzlich begründbaren kognitiven Erwartungen" (185) beruht. Der Beitrag von Albert besteht aus zwei nicht unmittelbar zusammenhängenden Teilen: Im ersten rekurriert er bei seiner Argumentation fast ausschließlich auf das Buch "Max Weber und Rational Choice" von Norkus, um darauf hinzuweisen, dass die verstehende Soziologie den Anforderungen an kausale Erklärungen mittels nomologischer Aussagen nicht gerecht wird, während er im zweiten Teil die von Weber behauptete Kritikimmunität letzter Werte bestreitet. In den Aufsätzen dieses zweiten Typus wird also weniger das Weber-Paradigma diskutiert als vielmehr der Rational-Choice-Ansatz paradigmatisch vorausgesetzt.

Unter dem dritten Typus fasse ich diejenigen Aufsätze zusammen, die der Frage nachgehen, inwiefern Max Webers Bestimmungen der Moderne heute noch tragfähig sind, wodurch durchaus auch etwas über die Aktualität eines Weber-Paradigmas ausgesagt wird.

Hans-Peter Müller titelt "Kultur und Lebensführung - durch Arbeit?" und konstatiert, dass Rationalisierung sowie Profanisierung der Arbeit weiter fortgeschritten sind und die "Entleerung der Berufsarbeit" zur "Transformation vom Berufsmenschentum zum Projektmenschentum" (293) geführt hat; die Klassengesellschaft, wie Weber sie kannte, habe sich im Zuge der Individualisierung aber aufgelöst. Auch Thomas Schwinn hält Webers Analysen im Kern heute noch für tragfähig, wobei er sich nicht auf Arbeit, sondern auf den "Kulturvergleich in der globalisierten Moderne" - so der Titel seines Aufsatzes - bezieht: Obwohl Webers historische Konstellationsanalysen sich auf den Durchbruch der Moderne konzentrieren, bleiben seine theoretischen Bestimmungen der Moderne und seine Methodologie des Kulturvergleichs auch heute noch anregend. In seinem Beitrag über "Die institutionellen Ordnungen der Moderne" breitet Shmuel N. Eisenstadt seine These von der Vielfalt der Moderne aus; dabei zeigt sich, dass schon Weber im Gegensatz zu anderen Modernisierungstheorikern niemals von einem einheitlichen Weg der gesellschaftlichen Entwicklung ausging.

Bei den Texten des vierten Typus lässt sich ein Zusammenhang mit der Frage nach dem Weber-Paradigma nicht mehr unmittelbar erkennen, vielmehr beschäftigen sie sich mit Einflüssen des unmittelbaren Umfelds Webers oder mit Parallelen zu Überlegungen zeitgenössischer Autoren.

So entdeckt Pietro Rossi in seinem Aufsatz "Universalgeschichte und interkultureller Vergleich" eine Wahlverwandtschaft zwischen Webers und Oswald Spenglers Geschichts- und Kulturverständnis. Harald Wenzel präsentiert einen Vergleich der "Zweckrationalitäten" bei Max Weber und John Dewey unter eben diesem Titel. Außerdem stellt Hans Joas ("Max Weber und die Menschenrechte") fest, dass anders, als von Weber vermutet, die Voraussetzungen für den Glauben an die Menschenrechte nicht verschwunden sind, vielmehr sei im Anschluss an Georg Jellinek von einer "Sakralisierung jedes Individuums" (268) auszugehen. Trotz des Abstands zu Fragen des Weber-Paradigmas ist der Aufsatz "Distanz aus Nähe" von Friedrich Wilhelm Graf hervorzuheben, denn dort wird das Konzept der Konstellationsforschung überzeugend eingesetzt und es zeigt sich, dass das Werk Webers nicht als voluntaristische Leistung eines einzelnen Helden missverstanden werden darf, sondern wesentlich vom Umfeld in Heidelberg und insbesondere von der Beziehung zu Ernst Troeltsch geprägt worden ist.

Die drei übrigen Beiträge des Sammelbandes berühren ebenfalls nicht die Frage nach dem Weber-Paradigma, lassen sich darüber hinaus aber auch nicht zu einem Typus zusammenfassen. Guenther Roth bemerkt unter dem Titel "Heidelberger kosmopolitische Soziologie", dass die Weberrezeption "als ein Prozess von wechselseitigem Export und Import betrachtet werden" (26) kann. Herbert Schnädelbach ist der Auffassung, dass "Die Sprache der Werte", so der Titel seines Aufsatzes, in eine "grammatische Verdinglichung" führt, weil uns Standards und Kriterien der Bewertung als "metaphysische Großobjekte" (101) gegenübertreten. Und schließlich versucht Hans G. Kippenberg unter dem Titel "Religiöse Gemeinschaften" Webers Verständnis religiösen Handelns werkgeschichtlich zu entschlüsseln.

Vor allem die unter dem ersten Typus zusammengefassten Aufsätze werden den von den Herausgebern vorangestellten Ansprüchen gerecht und versuchen ein Weber-Paradigma herauszuarbeiten. Einen Beitrag dazu leisten auch die unter dem dritten Typus zusammengefassten Texte, indem sie die Aktualität von Webers Ansatz diskutieren. Einen kritischen Umgang mit Webers Soziologie pflegen die Beiträge des zweiten Typus und sind insofern ebenfalls aufschlussreich. Jedoch die Aufsätze des vierten Typus sowie die drei, die nicht einzuordnen waren, tragen zu dem ambitionierten, zukunftsweisenden Unterfangen, das Weber-Paradigma zu etablieren, nichts Wesentliches bei; vielmehr befassen sie sich über weite Strecken mit der Geschichte der Soziologie und richten somit ihr Augenmerk auf die Vergangenheit.