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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

975–977

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Greschat, Martin, u. Jochen-Christoph Kaiser [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Kirchen im Umfeld des 17. Juni 1953.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 303 S. gr.8 = Konfession und Gesellschaft, 31. Kart. Euro 30,00. ISBN 3-17-018348-6.

Rezensent:

Clemens Vollnhals

Der 17. Juni 1953 war das zentrale Ereignis der DDR-Geschichte, das als Trauma bis zum Untergang der SED-Diktatur fortwirkte. Was am 16. Juni als Protest der Ostberliner Bauarbeiter gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen begann, weitete sich rasch zur einer breiten Volksbewegung für ein demokratisches Deutschland aus. Insgesamt beteiligten sich über 450 000 Arbeiter und Angestellte an den Streiks, an den Demonstrationen, die in 700 Städten und Gemeinden stattfanden, nahmen über eine Million Bürger teil. Im Mittelpunkt der Forderungen standen freie Wahlen, ergänzend wurde vielerorts der Ruf nach Wiedervereinigung laut. Der Volksaufstand, dessen Dimensionen sich heute auf breiter Aktengrundlage sorgfältig nachzeichnen lassen, offenbarte das Scheitern der diktatorischen Staatspartei im Wettstreit der Systeme. Allein der Einsatz sowjetischer Panzer vermochte das Regime zu retten - eine Erfahrung, die die breite Bevölkerung nicht minder traumatisierte und künftighin zum vorsichtigen Umgang mit der Staatsmacht anhielt.

Wie reagierte die evangelischen Kirche auf die dramatische Zuspitzung einer weit verbreiteten politischen und sozialen Unzufriedenheit, die am 17. Juni explosionsartig kulminierte? Die Antwort, die der vorliegende Tagungsband gibt, fällt ernüchternd aus. Denn für den Chronisten gibt es wenig zu berichten: Der spontane Aufstand überraschte auch die Kirchenleitungen, so dass für offizielle Verlautbarungen keine Zeit blieb. In einzelnen Bezirken mahnten Superintendenten oder Pfarrer, Ruhe und Ordnung zu bewahren und sich keinesfalls provozieren zu lassen. "Aber solche Mahnungen waren", so Martin Greschat, "offenbar kaum nötig, denn die meisten Pfarrer und Gemeinden hielten sich ohnehin zurück". Gewiss beteiligten sich einzelne Gemeindeglieder, doch wahrte die Kirche als solche Distanz. Ein sowjetischer Bericht hob denn auch das "loyale Verhalten der evangelischen und katholischen Kirchen in der DDR" ausdrücklich hervor, was in der Sache zutraf, jedoch die Motive verkannte: Die Kirchen hegten keine Sympathie für das atheistische SED-Regime, aber sie verstanden sich auch nicht als aktive politische, gar revolutionäre Kraft. Insofern konnten sie nach der Niederschlagung des Aufstandes nur für eine milde und großzügige Behandlung der Verhafteten eintreten.

Was die Kirche viel stärker beschäftigte, war der kirchenfeindliche Kurs des SED-Regimes, der seit der Proklamation des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 immer schärfere Formen angenommen hatte: von der Beschlagnahmung kirchlich-karitativer Anstalten über die Einstellung der Staatsleistungen bis zur massiven Verfolgung der "Jungen Gemeinde" und der demonstrativen Verhaftung einzelner Pfarrer. Erst ein deutschlandpolitischer Schwenk der sowjetischen Führung, deren Hintergründe Wilfried Loth im internationalen Kontext eingehend nachzeichnet, nötigte die SED-Führung zur Korrektur, zur Verkündung eines "Neuen Kurses" auch in der Kirchenpolitik. Das Kommuniqué vom 10. Juni 1953 versprach die Rücknahme aller staatlichen Zwangsmaßnahmen, während die Kirchenvertreter, was die Deutschlandpolitik anbetraf, die östliche Position bezogen und damit die SED aufwerteten. Das am Vorabend des 17. Juni in Aussicht gestellte Ende des Kirchenkampfes bestimmte den Horizont der kirchlichen Akteure und verstärkte sicherlich die Tendenz, den soeben ausgehandelten Kompromiss nicht zu gefährden.

Folgt man der Darstellung Loths, so lag auch nach der Niederschlagung des 17. Juni die Wiedervereinigung Deutschlands auf neutraler Grundlage im Bereich des Möglichen; erst der Sturz Berijas sicherte das politische Überleben Ulbrichts, dessen Entmachtung bereits beschlossene Sache gewesen war. Auf sowjetischer Seite war man sich bewusst, wie Ministerpräsident Malenkow der SED-Führung bereits Anfang Juni 1953 unverblümt erklärt hatte, "dass ohne die Präsenz der sowjetischen Truppen das existierende Regime in der DDR keinen Bestand hat".

Dem interessanten Beitrag Loths folgt ein längerer Abriss der SED-Kirchenpolitik aus der Feder Joachim Heises, eines ehemals Beteiligten. Die Reaktionen der evangelischen Kirche auf den 17. Juni thematisiert, wie bereits angedeutet, auf breiter Grundlage Martin Greschat, während Ellen Ueberschär sich mit der gängigen Deutung des gesamten Konflikts als einem "neuen Kirchenkampf" kritisch auseinander setzt. Mit welchen Methoden das SED-Regime versuchte, die Kirche aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, verdeutlichen sehr anschaulich die folgenden Fallstudien: Jochen-Christoph Kaiser schildert den staatlichen Zugriff auf die Diakonie, Ingolf Hübinger die Zerschlagung der Bahnhofsmission und Friedemann Stengel den Kampf um die theologischen Fakultäten.

Den einzelnen Beiträgen ist jeweils ein aussagekräftiges Dokument beigefügt, so dass sich der Sammelband auch als Studientext verwenden lässt. Dies gilt auch für die reflektierten Zeitzeugenberichte, die einen plastischen Einblick in das Geschehen vor Ort geben. So berichtet Siegfried Bräuer über seine Erfahrungen in der Jugendarbeit in einer Leipziger Vorstadtgemeinde, während Manfred Buder, damals ebenfalls Mitglied der Jungen Gemeinde, die Vorgänge in Cottbus beschreibt. Sie verdeutlichen das tapfere Widerstehen aus dem Glauben, lassen aber auch die schleichende Auszehrung der Gemeinden erkennen.

Den Abschluss bilden zwei kürzere Aufsätze, die sich mit der Rezeptionsgeschichte befassen. Katharina Kunter skizziert die veränderte Wahrnehmung des ostdeutschen Protestantismus seitens der Ökumene, während Norbert Friedrich die Reden prominenter Protestanten im Bundestag anlässlich des Tags der Deutschen Einheit untersucht.