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Ausgabe:

September/2005

Spalte:

971–973

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kremer, Klaus

Titel/Untertitel:

Praegustatio naturalis sapientiae. Gott suchen mit Nikolaus von Kues.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2004. XIV, 605 S. gr.8 = Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, Sonderband. Geb. Euro 69,00. ISBN 3-402-03499-9.

Rezensent:

Klaus Kienzler

Die vorliegende Monographie ist ein Sammelband aller bisher erschienen Aufsätze von Klaus Kremer zu Nikolaus von Kues. Es sind 15 Studien zu Cusanus aus den Jahren 1977-2003.

Der Titel des Sammelbandes versteht sich zugleich als Programm des Cusanusforschers. Er gesteht zu Anfang, dass ihn seine 25-jährigen Cusanusstudien immer mehr erkennen ließen, dass Gott, nicht die Welt, der Schöpfer, nicht die Geschöpfe, das eigentliche Problem sei, mit dem Cusanus ringt (XII). Dementsprechend zeugt der Band von dem eindringlichen Bemühen, "Gott mit Nikolaus von Kues (in allen Erkenntniskräften) zu suchen". Das Ergebnis dieser Suche des Cusaners mündet in die bekannten negativen (nicht aporetischen) erkenntnistheoretischen Formeln: "Du siehst dann, dass einander Widersprechendes von Ihm verneint wird, so dass Er weder ist noch nicht ist, noch ist und nicht ist, noch ist oder nicht ist; sondern all diese Aussagen berühren Ihn nicht, der allen Aussagen vorangeht" (XIII). Wenn Erkenntnis derart widersprechend formuliert werden muss, wie dann einen Anhalt finden, Gott zu suchen? Die Antwort des Titels: "praegustatio naturalis sapientiae". Der Geist ist vor allem Weisheit und hat einen Vorgeschmack von den göttlichen Dingen: "Da die Weisheit das geistige Leben des Intellektes ist, der in sich einen gewissen naturhaften Vorgeschmack von ihr hat, durch welchen er mit großem Eifer nach der Quelle seines Lebens forscht, die er ohne Vorgeschmack nicht suchte, noch, wenn er sie fände, wüsste, dass er sie gefunden hätte, so bewegt er sich zu ihr hin als zu seinem eigentlichen Leben" (XIII). Der Geist hat sein Leben aus der Weisheit (sapientia); er ist eine "sapida scientia", ein schmackhaftes Wissen von den göttlichen Quellen des Lebens. - Ein Großteil der Beiträge spürt diesen Quellen des geistigen Lebens nach.

Die Ordnung des Sammelbandes sei durch eine genaue Auflistung der Beiträge wiedergegeben. Sie lässt bereits eine Übersicht der Themenvielfalt und auch der Schwerpunkte der Forschungen des Vf.s zu. Die Datierung der Originalartikel mag für eine weitere Einordnung hilfreich sein. Zwei recht umfangreiche Teile widmen sich dem Erkenntnisbegriff des Cusaners (I. Teil) und dem Thema Gott (II. Teil); einen weiteren Schwerpunkt stellt die umfangreiche Studie zu den cusanischen Begriffen der "Konkordanz und Koinzidenz" (III. Teil) dar. Drei weitere Teile enthalten die Themen von Unsterblichkeit, lex naturalis und der Rezeption des Cusaners durch Leibniz.

Teil I: "Zum Erkenntnisbegriff des Nikolaus von Kues. Apriorismus - Zusammenspiel von intellectus und affectus" (1-224). 1. "Erkennen bei Nikolaus von Kues. Apriorismus - Assimilation - Abstraktion (1978)" (3-50). 2. "Weisheit als Voraussetzung und Erfüllung der Sehnsucht des menschlichen Geistes (1992)" (51-92). 3. "Vernunft im abendländischen Denken: Wandel und Konstanz: Platon - Plotin - Boethius - Cusanus - Leibniz (1994)" (93-102). 4. "Das kognitive und affektive Apriori bei der Erfassung des Sittlichen (2000)" (103-146). 5. "Nikolaus Cusanus: Jede Frage nach Gott setzt das Gefragte voraus (Omnis quaestio de deo praesupponit quaesitum) (1993)" (147-178). 6. "Größe und Grenzen der menschlichen Vernunft (intellectus) nach Cusanus (2002)" (179-224).

Den schwerpunktmäßigen Ort seiner Forschungen skizziert der Vf. selbst im dritten Beitrag über die "Vernunft im abendländischen Denken" von Plato bis Leibniz. Der Vf. referiert kurz, aber prägnant die Probleme, Vernunft in diesem Rahmen begriffsgeschichtlich zu fassen und damit die Probleme, mit ihr die geistigen Vermögen des Menschen zu bestimmen. Bei Cusanus werden allgemein fünf Erkenntnisvermögen genannt: Sinnestätigkeit, Vorstellungsbegriff, Verstand, Vernunft, einsichtiges Geistigsein (intellectibilitas) (94). Sie werden oft mit den Vermögen Immanuel Kants in Verbindung gebracht. Der Vf. verweist dagegen auf die noch grundsätzlich andere Geistausrichtung (gegen Kant). Der Cusaner spricht noch im Sinne des Thomas von Aquin von unserem Geist als einem, der zwar apriorisch ist, aber von zwei Grenzen überstiegen wird; er wird vom Geist Gottes gemessen und das Sein der Dinge geht ihm voraus.

Und doch ist der menschliche Geist nicht nur in einem mittelalterlichen Sinne reproduktiv, sondern kreativ. Die apriorische Vernunft "erzeugt" die Kenntnis der Dinge (insofern doch Nähe zu Kant). Wir sind "creatores assimilativi"; die mens humana ist assimilativer Natur (189). Diesen Ausdruck aus einem der Sermones bestätigt der Vf. im Durchgang durch das Gesamtwerk des Cusaners.

Zum anderen sind die Geistvermögen stärker zu unterscheiden und weiter zu differenzieren. Dem Vf. ist vor allem daran gelegen, die affektive Seite des Geistes herauszuarbeiten. Sie ergibt sich vor allem aus der Beachtung der überragenden "sapida scientia". Der Vf. führt durch differenzierte Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass der Cusaner durch sein gesamtes Schrifttum hindurch immer wieder diesen beiden Grundkräften des menschlichen Geistes nachspürt: intellectus et affectus, intelligentia et desiderium, cognitio et amor. Sie sind die "dentes spirituales" (die geistigen Spitzen) (XIII).

Die Beachtung des kognitiven und affektiven Aprioris ermöglicht des Weiteren einen Zugang zur Ethik, zur Erkenntnis des Sittlichen des Cusaners (s. auch Teil V zur lex naturalis). Ohne Zweifel eine wichtige Frage an einen (spät)mittelalterlichen Denker, wie sich denn Philosophie und Ethik bei ihm verbinde.

Teil II: "Gott, nicht ohne den Menschen zu denken, nicht ohne die Welt zu erreichen" (225-373). 7. "Die Hinführung (manuductio) von Polytheisten zum Einen, von Juden und Muslimen zum Dreieinen Gott (1984)" (227-272). 8. "Gott - in allem alles, in nichts nichts. Bedeutung und Herkunft dieser Lehre des Nikolaus von Kues (1986)" (273-318). 9. "Gottes Vorsehung und die menschliche Freiheit (Sis tu tuus et ego ero tuus) (1989)" (319-351). 10. "In memoriam Rudolf Haubst (1994)" (353-373).

Hinsichtlich des Gottesgedankens folgt der Vf. den Spuren von Rudolf Haubst, der seine Einführung in Nikolaus von Kues unter das Motto "Denkender Glaube und gläubiges Denken" gestellt hatte (353). Geradezu transzendental angezogen wird der Gottesgedanke durch den Beitrag: "Jede Frage nach Gott setzt das Gefragte voraus" (Omnis quaestio de deo praesupponit quaesitum) (1993)" (147-178).

Teil III: "Der Facettenreichtum der cusanischen Begriffe: Konkordanz und Koinzidenz" (375-412). 11. "Konkordanz und Koinzidenz im Werk des Nikolaus von Kues. Gemeinsamkeiten und Unterschiede (2002)" (377-412).

Eine besondere Stellung im Sammelband nimmt die Untersuchung der für Nikolaus von Kues zentralen Begriffe Konkordanz und Koinzidenz ein. Es handelt sich hierbei um eine textliche Bestandsaufnahme durch das Gesamtwerk des Cusaners, die alle semantischen, philosophischen und theologischen Varianten berücksichtigt und reflektiert. In Bezug auf Gott besteht die bleibende Gefahr, dass wir über ihn bloß mit den Begriffen unseres Verstandes oder unserer Vernunft, aber nicht auf göttliche Weise (divinaliter) sprechen. Es bleibt, dass wir über Gott nicht adäquat sprechen können.

Teil IV: "Einheit und Unsterblichkeit der menschlichen Geistseele" (413- 485). 12. "Die Einheit des menschlichen Geistes (der Seele) und die Vielheit seiner (ihrer) Kräfte bei Nikolaus von Kues (1998)" (415-438). 13. "Philosophische Überlegungen des Cusanus zur Unsterblichkeit der menschlichen Geistseele (1996)" (439-485).

Teil V: 14. "Die lex naturalis in der Sicht des Thomas von Aquin und des Nikolaus von Kues (unveröffentlicht)" (489-511).

Teil VI: "Zur Wirkungsgeschichte des Nikolaus von Kues auf Leibniz" (513-553). 15. "Die Stellung des Nikolaus von Kues in der deutschen Philosophie (2003)" (515-553).

Anhang: Abkürzungs- und Siglenverzeichnis, Quellennachweis, Personenregister, Sachregister (555-605).

Die 15 vorliegenden Studien aus gut 25 Jahren Forschungsarbeit wollen mehr sein als ein bloßer Reprint (IX). Sie sind alle gründlich überarbeitet. Die Zitate wurden überprüft und nach der Heidelberger Standardausgabe aktualisiert. Ebenso wurde die neueste Literatur zu Cusanus in die Beiträge eingearbeitet. Der umfangreiche Band ist damit zugleich ein Dokument der Forschungen über 25 Jahre und über ihren Fortschritt in dieser Zeit des Cusanusfachmannes.