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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

749–752

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nagel, Titus

Titel/Untertitel:

Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2.Jahrhundert. Studien zur vorirenäischen Aneignung und Auslegung des vierten Evangeliums in christlicher und christlich-gnostischer Literatur.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. 549 S. gr.8 = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 2. Geb. Euro 58,00. ISBN 3-374-01821-1.

Rezensent:

Christoph Markschies

Vor allem Schuld des Rezensenten ist es, dass diese wichtige Arbeit erst jetzt angezeigt werden kann, und nur zum Teil die Folge ihrer ebenso gründlichen wie kleinteiligen Argumentationsweise, die auf eine recht stattliche Zahl nicht immer einfach zu lesender Seiten führt, obwohl doch nur ein Teil der Texte des 2.Jh.s in den Blick genommen wird (nämlich die Literatur, die vor dem großen antihäretischen Werk des Irenaeus von Lyon entstand). Das Gespräch über N.s Arbeit hat (beispielsweise in der Monographie von Bernhard Mutschler, Irenäus als johanneischer Theologe, STAC 21, Tübingen 2004, 210, Anm. 49) längst begonnen. Dies ist ein Zeichen dafür, dass hier ein Werk vorgelegt wurde, das auch in Zukunft gerade wegen seiner sehr gründlichen Analyse von Texten stets konsultiert werden wird.

Die Gliederung der Arbeit ist leicht nachvollziehbar: Auf eine knappe und instruktive forschungsgeschichtliche Einleitung (17-34) folgen methodische Überlegungen zur "formalen Beschreibung von Rezeption als Textaufnahme", die in Auseinandersetzung und Weiterführung voraufgehender auslegungsgeschichtlicher Arbeiten (vor allem Köhler und Noormann) entwickelt werden (35-40), sowie zur "inhaltlichen Beschreibung von Rezeption" (41-45).

Niemand wird bestreiten, dass hier umsichtig und sorgfältig argumentiert wird, aber historische Tiefenschärfe hat die Argumentation kaum: So wird beispielsweise für die relativ freie Textübernahme (im Unterschied zum wörtlichen Zitat) bei einigen behandelten Schriften mit Kurt Aland ein mangelndes "Textbewußtsein" ihrer Autoren verantwortlich gemacht und dies wiederum mit dem frühen Stadium der Kanonbildung erklärt (38). Vorausgesetzt ist also, dass der kanonisierte Text anders zitiert wird als ein nichtkanonisierter Text. Müsste man aber nicht zuerst einmal darüber nachdenken, welche Kriterien in der kaiserzeitlichen Antike für ein Zitat galten und wie - jeweils abhängig vom literarischen Genre und dem Bildungsniveau - damals pagane und jüdische Autoren ihre Autoritäten zitierten, paraphrasierten und variierten? N. ist nicht der einzige, der sich in der letzten Zeit an den 1987 von Wolf-Dietrich Köhler für die vorirenäische Rezeption des Matthäusevangeliums entwickelten Kategorien abarbeitet und sie zu präzisieren sucht - ob für eine wirkliche Präzisierung nicht die Ergänzung durch eine vergleichende Analyse antiker Texte und die Rekonstruktion der damaligen Normen für die Autorisierung von Argumentationen durch autoritative Texte hilfreich wären? Nur ein Beispiel für die Relevanz solcher Fragestellungen: Kann man angesichts antiker Maßstäbe wirklich ein "modifiziertes Mischzitat" (397) einfach als "Manipulation am Text" rubrizieren (407, vorsichtiger 478)? Immerhin finden sich in der Zusammenfassung Ansätze, wenn beispielsweise Zitationsformeln untersucht werden (477 f.).

Wie schon der Titel sagt, analysiert N. sowohl christliches (meint: mehrheitschristliches) als auch christlich-gnostisches Schrifttum; seine Auswahl aus dem Material von Nag Hammadi begründet er einleuchtend (47-54). Dabei geht er (einem Vorschlag von Martin Hengel folgend) in umgekehrter chronologischer Reihenfolge vor, beginnt also für die christliche Literatur mit Theophilus von Antiochien bzw. für die christlich-gnostische Literatur bei den Acta Iohannis und endet bei Ignatius von Antiochien bzw. beim Evangelium nach Maria aus BG 8502. Die Abschnitte enthalten jeweils eine Einführung und dann vergleichende Textanalysen.

Auch wenn hier - wie gesagt - umsichtig und sorgfältig argumentiert wird, hätte gelegentlich noch tiefer geschürft werden können und vor allem die Funktion des vierten Evangeliums für die theologische Argumentation des jeweiligen Autors stärker herauspräpariert werden können: So fehlt beispielsweise bei der Behandlung der Schrift an Autolycus des Theophilus von Antiochien (55-65) die Berücksichtigung zweier wichtiger Aufsätze von Heinrich Dörrie (Der Prolog zum Evangelium nach Johannes im Verständnis der älteren Apologeten, in: Kerygma und Logos. FS Carl Andresen, hrsg. von A. M. Ritter, Göttingen 1979, 136-152) sowie von Luise Abramowski (Der Logos in der altchristlichen Theologie, in: Spätantike und Christentum. Beiträge zur Religions- und Geistesgeschichte der griechisch-römischen Kultur und Zivilisation der Kaiserzeit, hrsg. von C. Colpe, L. Honnefelder u. M. Lutz-Bachmann, Berlin 1992, 189-201). Vielleicht liegt es an diesem Defizit, dass N. nicht deutlich war, dass in Autol. II 22 die (in der Stoa nur anthropologisch verwendete) Vorstellung von logos endiathetos natürlich weniger zur Abgrenzung von "der Gottessohnvorstellung der griechischen Mythologie" dient (58), sondern dazu, über das Johannesevangelium hinaus etwas über die Entstehung des Logos zu sagen. Dabei wird der Logos mit der Weisheit identifiziert, die in Prov 8,22 als arche bezeichnet wird, und das Hervorbringen des Logos durch den Vater mit Bezug auf Ps 44,2 LXX exereuxato ... logon sprachlich sehr hart formuliert. Wenn N. aber dieses Netz von biblischen Stellen präziser wahrgenommen hätte, in das das Johannesevangelium gleichberechtigt aufgenommen ist, wäre sein Urteil über die kanonische Geltung dieses Textes für Theophilus vielleicht weniger zurückhaltend als in der Zusammenfassung S. 61 ausgefallen.

Die Abschnitte bringen für die Frage der Bezeugung des vierten Evangeliums in den verschiedenen Regionen des Reiches zwar keine umwerfenden Neuigkeiten, aber doch solide Ergebnisse, auf die man sich verlassen kann. So zeigt N. z. B. durch seine Analyse der Passa-Homilie des Melito von Sardes eindrücklich, dass "die ersten Zeugnisse der kirchlichen Rezeption des JohEv" nicht erst "aus dem Ende des zweiten Jh." stammen (so aber Zumstein in ThLZ 122, 1997, 419). Für nahezu alle geographischen Regionen kann N. auch Belege der Rezeption aus der Jahrhundertmitte beibringen. Von besonderem Interesse ist dabei natürlich der stadtrömische Apologet Justin: Hier äußert sich N. allerdings sehr vorsichtig und konstatiert, dass "von einer intensiven Benutzung des JohEv" trotz "der terminologischen Nähe der justinianischen Logos- und Inkarnationschristologie zu Joh 1,14" "... keine Rede sein" könne (113/114), ja eine "literarische Abhängigkeit Justins im Sinne der exakten Übernahme von Wendungen des JohEv" nicht nachzuweisen sei (113). Ein langer Abschnitt ist drei Apokryphen gewidmet, nämlich der EpAp (120-156), der AscJes (156-158; N. ist die kommentierte Textausgabe von Enrico Norelli u. a. [CChr.SA 7/8, 1995] unbekannt; er bezieht sich auf Dillmann) und den OdSal (158-194; eine hilfreiche Textsynopse auf 163-190). Während die EpAp in vielfacher Weise auf das vierte Evangelium bezogen ist, lassen sich in den beiden anderen Schriften keine eindeutigen Bezugnahmen ausmachen (OdSal 8,22b "bleibt in der Liebe des Herrn" bleibt ein Solitär in der sorgfältigen Analyse des Materials und vermag die These von literarischen Bezügen kaum zu tragen, anders N.: 190-192). Dagegen hätte es gelohnt, die vielen Hinweise auf das Johannesevangelium im Register der kritischen Ausgabe der AscJes zu überprüfen (a. a. O., 613 f.).

Die Ergebnisse für Texte aus den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts sind noch dürftiger, wobei die Verantwortung für diesen trüben Befund die Überlieferungslage trägt und nicht der Autor der Monographie:

Im Blick auf die Briefe des Ignatius von Antiochien erwägt N. für die Formulierungen ho artos tu theu (IgnEph 5,2/IgnRöm 7,3 = Joh 6,33) und en sarki genomenos (IgnEph 7,2) sowie für einige weitere Stellen von vergleichbarer Struktur (Magn 7,1; Phld 7,1 und 9,1) eine Übernahme aus johanneischer Tradition. Dagegen wird für den bekannten Ausdruck logos apo siges proelthon theos (IgnMagn 8,2) ein jüdisch-weisheitlicher Hintergrund angenommen (ähnlich für IgnRöm 7,2). Zusammenfassend formuliert N., dass "sich eine Kenntnis des JohEv" bei Ignatius nicht ausschließen lasse (250). Um schließlich eine indirekte Bezeugung bei Papias von Hierapolis wahrscheinlich zu machen, kombiniert N. ein Detail aus einem Referat über Papias (bei Eus., h.e. III 39,15) - die Kritik an mangelnder taxis bei Markus - mit den Hinweisen im so genannten Kanon Muratori (Zz. 32-34) und in Theodor von Mopsuestias Johanneskommentar (p. 8,6-18 Vosté), die beide die taxis des vierten Evangeliums rühmen.

Wirkliches Neuland betritt die Arbeit bei ihrer Behandlung der christlich-gnostischen Literatur: Dabei werden zuerst die Kirchenväterreferate und Textzitate bei Irenäus, Epiphanius und Hippolyt behandelt (281-315), darauf die Fragmente Herakleons und die Exzerpte des Clemens aus Theodot (315-357) und abschließend verschiedene Nag-Hammadi-Schriften sowie das erwähnte Berliner Marienevangelium (357-469). Leider arbeitet N. hier mit etwas groben Kategorien, wenn er (im Blick auf Herakleon) schreibt, dass "durch die allegorische Methode ... die Grenzen zwischen Exegese und Eisegese fließend" waren (320) und dieser Valentinianer "sein Vorverständnis an den Text des JohEv" herangetragen habe - er sei darin nicht "der einzige Johannesinterpret geblieben" (340). Gerade im Vergleich mit der oben schon behandelten Johannesinterpretation des Theophilus hätte man Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der mehrheitskirchlichen wie gnostischen Verwendung des vierten Evangeliums deutlicher beschreiben können - auch etwas grob schematisiert: Theophilus erweitert die johanneische Protologie mit Hilfe biblischer und nachbiblischer Weisheitstheologie und einer umgedeuteten philosophischen Kategorie, die Valentinianer hingegen mit Hilfe einer metaphysischen Spekulation, die biblisches Material mit philosophischen Motiven frei kombiniert. Ansätze zu einer solchen vergleichenden Beschreibung bietet die nach Perikopen des vierten Evangeliums geordnete Zusammenfassung am Schluss des Buches (479-486). Man kann aber durch die Lektüre der gründlichen Auslegungen N.s lernen, vorsichtiger mit dem ebenso alten wie selbstverständlichen Urteil zu werden, dass das vierte Evangelium das Evangelium der Gnostiker sei; nicht wenige Nag Hammadi-Schriften lassen (wie andere Autoren der Zeit) auch Kritik am Evangelium (EpJac) erkennen, wurden sekundär "johannisiert" (so einsichtig 392-394 über das ApocrJoh), sind überhaupt nicht besonders vom JohEv beeinflusst (EvVer oder EvMar) oder bieten nur sehr vage Anklänge (SJC). Im Blick auf die im Verhältnis zum JohEv besonders umstrittene "Dreigestaltige Protennoia" (NHC XIII,1) wird in einem präzise differenzierenden Abschnitt (448-464) gezeigt, dass sich in der Prot "deutliche Spuren joh. Einflusses" finden. Wieso hier allerdings im Unterschied zu allen anderen Nag Hammadi-Schriften offen bleiben soll, "ob sie vom Text des JohEv in dessen Endgestalt herrühren" (462), ist dem Rezensenten verborgen geblieben - die wörtlichen Entsprechungen sind auch nicht zahlreicher als in anderen Schriften. Hier liegt wohl eine Konzession an eine einflussreiche Forschungsposition vor, deren (zu ihrer Entstehungszeit verständliche) historische Basisannahme - die einer späten Endredaktion des vierten Evangeliums - aber doch eben durch N.s gründliche Untersuchungen im ersten Teil und im papyrologischen Exkurs (469-471) widerlegt ist, sofern man die Prot nicht gegen den allgemeinen Konsens vor die Mitte des 2. Jh.s datieren will!

Trotzdem möchte man mit N. auch hier über einige seiner Auslegungen ausführlicher diskutieren: Wenig glücklich ist beispielsweise m. E. die Interpretation des Briefes des stadtrömischen Valentinianers Ptolemäus an die Flora: N. votiert S. 296 dafür, den teleios theos als Subjekt von 3,6 panta di autu gegonenai zu nehmen, und muss S. 297 zugeben, dass dadurch ein expliziter Widerspruch im Text auftritt, der mit einer von Winrich Löhr stammenden Hilfsannahme beseitigt wird; eine andere Interpretation bei Ch. Markschies, New Research on Ptolemaeus Gnosticus, ZAC 4 (2000), 225-254. Für die Analyse des Naassener-Berichtes bei Hippolyt (299-315) legt N. die literarkritischen Überlegungen von Josef Frickel zu Grunde, so dass er die Rezeption des vierten Evangelisten einem "valentinianischen Bearbeiter der ursprünglichen Anthropos-Lehrschrift" zuweist (315). Auch da begibt er sich ohne viel Federlesens in Abhängigkeit von einer Interpretation eines anderen, über deren Angemessenheit man mindestens diskutieren sollte.

Die Arbeit ist auch in den Formalia überaus präzise und gründlich angelegt. Zwei Monita allerdings können trotz dieses positiven Gesamteindrucks nicht verschwiegen werden:

Ein Literaturverzeichnis, in dem die kritischen Textausgaben zum Teil mit ihren antiken Autorennamen, zum Teil mit denen ihrer neuzeitlichen Editoren und zum Teil mit dem Schriftentitel einfach mitten unter die neuzeitliche Sekundärliteratur einsortiert sind, sollte in keinem Fall zur Regel bei Dissertationen werden; schon gar nicht bei guten. Denn wer sucht schon Aristides unter dem Lemma "Die Apologie des Aristides" zwischen den "Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments" und "The Apostolic Fathers"? Schließlich sollte auch bei neutestamentlichen Qualifikationsarbeiten die Verwendung der jeweils besten kritischen Textausgabe einer zwischentestamentlichen oder patristischen Quelle und der einschlägigen Sekundärliteratur selbstverständlich werden, zumal es gute Hilfsmittel gibt, diese zu ermitteln. - Zwischen S. 382 und S. 383 sind im Ausdruck Text und eine Anmerkung entfallen; hier sollten Autor und Verlag künftig einen Zettel beifügen.