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Ausgabe:

Juli/August/2005

Spalte:

742–745

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Löhr, Gebhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Identität der Religionswissenschaft. Beiträge zum Verständnis einer unbekannten Disziplin.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien: Lang 2000. 245 S. 8 = Greifswalder theologische Forschungen, 2. Lw. Euro 46,00. ISBN 3-631-36153-X.

Rezensent:

Kurt Rudolph

Der Sammelband geht ursprünglich auf eine Tagung an der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1998 zurück, die dem Verhältnis des christlichen Wahrheitsanspruches zu den Wahrheitsansprüchen anderer Religionen gewidmet war, aber im Verlaufe der Debatte sich immer mehr auf das Thema des Verhältnisses der Religionswissenschaft zur Theologie verschob, so dass man den Plan fasste, den vorliegenden Band zu publizieren (so G. Löhr, 7). Diesen Hintergrund merkt man dem Buch an, wie schon der nachträglich gewählte Titel, besonders der Untertitel, verrät. Denn weder ist - zumindest in Europa - die Religionswissenschaft seit über 100 Jahren eine unbekannte Fachrichtung ("hidden discipline" nach R. E. Wentz, USA) noch ist das Thema ihrer Identität neu (vgl. meine Ausführungen von 1973 in der NThT 27, 105-131, über Autonomie und Integrität der Religionswissenschaft; abgedruckt in Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft, 1992, 37-66). Trotzdem enthält der Band eine Reihe lesenswerter Beiträge zu dem immer wieder hochgespielten Thema von Religionswissenschaft und (christlicher) Theologie, aber auch zu einigen anderen relevanten Problemen, die damit irgendwie zusammenhängen und recht deutlich machen, auf welche Weise man damit umgehen kann. Es sind fünf Abschnitte, die das Buch gliedern: Religionswissenschaft und Antike (ein Beitrag), Religionswissenschaft und Theologie (fünf Beiträge), Religionswissenschaft und Philosophie (ein Beitrag), Christentum und Islam als Gegenstand und Bezugspunkt von Religionswissenschaft (zwei Beiträge), Religionswissenschaft und der Begriff der Sekte (zwei Beiträge). Ein Sachregister und ein Verzeichnis der Autoren und Autorinnen bilden den Abschluss. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf dem zweiten Abschnitt, aber die anderen Teile haben alle einen immer wieder schnell erkennbaren Bezug zum Hauptthema. Insofern bildet das Buch doch eine gewisse Einheit, was auf den ersten Blick nicht so sichtbar ist, auch wenn - wie nicht anders zu erwarten- die grundlegenden wissenschaftstheoretischen Unterschiede ebenso deutlich werden, besonders im zweiten Abschnitt. Es kann hier nur eine kurzer Einblick gegeben werden.

U. Berner geht das gestellte Thema sehr konkret und überzeugend mit Beispielen an, indem er "Die Religionen der Antike und ihre Relevanz für Religionswissenschaft und Theologie" (13-32) einmal darin sieht, auf welche Weise die christlich-theologische Außenbetrachtung die so genannten "heidnischen" Religionen fehldeutet und damit für die folgende Zeit die religiöse Toleranz aushebelt, d. h. jeden religiösen Pluralismus unmöglich macht (19 f.). Gerade die Beschäftigung mit den antiken Religionen dient nach ihm der Überwindung eines Eurozentrismus (31 f.).

Der anschließende umfangreiche Teil (35-158) über Religionswissenschaft und Theologie ist von der eigentlichen Debatte gezeichnet und zeigt sehr klar, dass es hier zu keiner übereinstimmenden Meinung gekommen ist, was vor allem an der Position von A. Feldtkeller liegt, der die Auffassung seines Lehrers Th. Sundermeier von der Religionswissenschaft innerhalb der Theologie recht entschieden verteidigt, ohne allerdings zu leugnen, dass es auch eine solche außerhalb der Theologie gibt, wofür er den Fall an der Universität Heidelberg anführt (79-96). Den Versuch, die Religionswissenschaft in irgendeinen wissenschaftstheoretischen Kontext mit der Missionswissenschaft zu bringen, halte ich für überholt und trotz aller Argumente für wissenschaftlich unlogisch. Dafür sprechen nicht zuletzt die anderen hier beteiligten Mitarbeiter.

K. Hock zeigt die Enge einer Religionswissenschaft nur für Theologen auf, indem sie dann nur ein recht verkürztes, unkritisches und oft vom eigenen religiösen Wunschdenken begrenztes Bild fremder Religionswelten und ihrer Ausprägungen vermittelt (35-56). Chr. Bochinger illustriert die Verhältnisbestimmung von Religionswissenschaft und Theologie am Beispiel der "Wahrnehmung von Fremdheit" (57-78), indem er dafür den Umgang mit dem Fremden bei Columban d. J., Wilhelm von Rubruek und Joh. Heinrich Callenberg anführt (65 ff.). Der Unterschied zwischen einem religionswissenschaftlichen und einem theologischen Zugriff, besonders bei einem missionarischen Ziel, bleibt immer bestehen, da der "offene" Umgang mit dem "Fremden" in allen Stadien erhalten bleiben muss (42). Wer sich einmal mit Archivmaterial einer Missionsgesellschaft beschäftigt hat, wird den Unterschied schnell begreifen. Verwiesen sei auf die neue Studie von N. J. Girardot, The Victorian Translation of China: James Legge's Oriental Pilgrimage, Berkeley 2002 (cf. RSR 30, 2004, 29-32). Für Deutschland sei an das Schicksal von Richard Wilhelm erinnert.

Dass der Unterschied zwischen Religionswissenschaft und Theologie nicht in der äußeren Wertung liegt, beweist O. Freiberger in seinem Beitrag "Ist Wertung Theologie" anhand von mehreren Beispielen (97-121). Die theologische Betrachtung bleibt letztlich an ihrer religiösen und damit normativen Sicht haften und umgeht die "doppelte" Distanz der Religionswissenschaft zum Gegenstand und zur eigenen Religiosität (118 ff.), was nicht ausschließt, dass in manchen Grundfragen Übereinstimmung herrschen kann (120 f.).

Schließlich hat A. Grünschloß (jetzt in Göttingen) den umfangreichsten Artikel zum Thema "Religionswissenschaft und Theologie - Überschneidungen, Annäherungen und Differenzen" vorgelegt (123-158), der auch einen kritischen historischen Überblick enthält und die neu aufgelebte Debatte für eine Rückkehr in längst überwundene Positionen hält. Mit Recht erinnert er an J. Wach, der bereits 1924 die grundlegenden Einsichten für die Autonomie der Religionswissenschaft gegenüber Theologie und Philosophie vorgelegt hat (149 f.). Die Eigenständigkeit ist gegeben und nicht erneut zu diskutieren (128). Da Grünschloß sowohl Theologe als auch Religionswissenschaftler ist, hat seine Position ein besonderes Gewicht. Eine ausdrückliche Kritik erfolgt daher sowohl an der Auffassung von H. J. Greschat (130 ff.139 f.), der das religiöse Subjekt bzw. Objekt zum Kriterium von wahr und falsch machen möchte, als auch natürlich an Th. Sundermeier, der eine enge Bindung der Religionswissenschaft an die Theologie vertritt (147 f.158). In einer Zusammenfassung gibt Grünschloß eine Übersicht über Aufgaben einer Religionswissenschaft, wenn sie in einer Theologischen Fakultät tätig ist (152 ff.). Eine gegenseitige Herausforderung im Angesicht der Gegenwart ist notwendig und durchaus fruchtbar für beide Seiten.

In Teil 3 wird das Verhältnis der Religionswissenschaft zur Philosophie von G. Löhr unter dem Thema "Metaebene oder Objektebene?" nur kurz besprochen (161-167), wobei auf neuere Zusammenarbeit hingewiesen wird (Buddhismus und Quantentheorie, psychologische Experimente als Mittel der Überprüfung metaphysischer Theorien). Im Bereich von Theorie, Reflexion und Sprache (Terminologie) bleibt Philosophie immer ein Gesprächspartner (z. B. die analytische Religionsphilosophie).

Im 4. Abschnitt behandelt S. Hjelde "Das Christentum als Gegenstand der Religionswissenschaft" (169-189) zunächst in einem kurzen historischen Überblick, der zeigt, dass weit bis ins 20. Jh. Religionswissenschaft in erster Linie die nichtchristlichen Religionen zum Thema hatte und die allgemeinen Darstellungen der Religionsgeschichte von einem versteckten theologischen Hintergrund getragen wurden (178 ff.). Einen Grund außer einem praktisch-institutionellen dafür, dass sich die Religionswissenschaft nicht auch dem Christentum bzw. ihren Kirchen zuwenden sollte, gibt es nicht. Es geschieht auch heute in unterschiedlichem Maße, wobei der Standpunkt des Forschers von ausschlaggebener Bedeutung ist (186 ff.). Hjelde sieht hier eine stärkere Verfremdung und Kritik gegenüber dem Gegenstand. Eine prinzipielle Lösung gibt es wohl nicht, besonders im christlich-theologischen Bereich ist die historisch-kritische und soziologische Betrachtung der eigenen Überlieferung seit ca. 150 Jahren kein Fremdkörper mehr. Der säkulare Religionsunterricht in den Schulen führt beide Fächer zusammen (187f.). Diskussionsgründe bleiben allerdings m. E. bestehen.

Den Fall einer betont theologischen bzw. religiösen Darstellung eines religionsgeschichtlichen Sachverhalts führt B. Beinhauer-Köhler aus dem islamischen Bereich, und zwar aus Ägypten vor (191-199). 'Abbas Mahmud al-'Aqqad (1889-1964), ein bekannter Schriftsteller, der sich vom liberalen Muslim zu einem Islamisten entwickelte, hat in seinem Buch über die Prophetentochter Fatima ("Die hell strahlende Fatima und die Fatimiden", Kairo 1990) zwar einige Ansätze historisch-kritischer Methode angewandt, aber mit theologisch-muslimischen Vorgaben vermischt, indem Fatima als Vorbild einer muslimischen Frau von heute dargestellt wird. Islamische Theologen suchen aus ihrer Überlieferung primär spirituellen Gewinn, nicht historische Erkenntnisse (197).

Den Abschluss bildet die Diskussion über den Sektenbegriff, der heute in der Religionswissenschaft kaum noch verwendet wird (vgl. meine Bemerkungen dazu in Kairos 21, 1979, 241-254, bzw. Geschichte und Probleme, 216-234). I. Prohl behandelt die Kommerzialisierung von Religion und der Begriff der "Sekte" (203-217) am Bespiel der japanischen Gruppe "World Mate" auf Grund eigener Forschungen in Tokyo (1995/ 97) und der aus Indien stammenden "Transzendentalen Meditation" im Bereich Berlins. Beiden ist das Streben nach praktischem, diesseitigem Nutzen eigen, für das erhebliche finanzielle Beiträge zu entrichten sind. Da hierbei keine strenge Gemeinschaft entsteht, sondern nur gelegentliche Zusammenkünfte der am "käuflichen Glück" Interessierten erfolgen und der einstige religiöse Boden verloren ist, sei es wenig sinnvoll, hier von "Sekten" zu reden, sondern von "Klientenreligionen" (205). Es bleibt natürlich die Frage, ob der Sektenbegriff nur im Bereich der Religion eine Anwendung findet, was meines Wissens nicht der Fall ist. Wenn es richtig ist, dass es sich hier nicht um religiöse Sachverhalte im herkömmlichen Sinne handelt, sondern um Erscheinungen des globalisierten Marktes und der Befriedigung von aktuellen Bedürfnissen, sollte auch der Begriff "Klientenreligion" fraglich sein. Anders steht es mit der Argumentation von H. Zinser, der den Sektenbegriff mit der Religionsfreiheit von heute konfrontiert (219-231). Die negative Verwendung im kirchlichen Bereich verbietet es, den Terminus in der Religionswissenschaft zu verwenden. Aber auch die moderne Gesetzgebung (Grundgesetz der BRD) und die Menschenrechtsbestimmungen legen das nahe (224 ff.). Da der Staat nicht bestimmen kann, was "Religion" ist, da er sonst die gebotene Religionsfreiheit aufhebt, bleibt es bei dem Tatbestand, dass "Religion" eine soziale und kulturell bestimmte Kategorie ist (230). Jedenfalls ist für Zinser der Sektenbegriff out of date; er ist am "heilsgeschichtlichen" Kirchenbegriff orientiert und nicht an der heute maßgebenden "Rechtsgemeinschaft" der Bürger.

Auch wenn der Band nur einen Aspekt der Diskussion um die moderne Religionswissenschaft, nämlich den um ihr Verhältnis zur (christlichen) Theologie, behandelt - eine gleiche um das Verhältnis zur Soziologie oder zur so genannten Kulturwissenschaft ist heute ebenso nötig wie auch der Blick auf die internationale Situation (vgl. dazu den umfangreichen Band Guide to the Study of Religion, ed. by W. Braun and R. T. McCutcheon, London-New York: Cassell 2000; ferner T. Fitzgerald, The Ideology of Religious Studies, New York: Oxford UP 2000; T. Jensen/M. Rothstein (Eds.), Secular Theories on Religion. Current Perspectives, Copenhagen: Tusculum 2000) -, ist er ein anregender Beitrag für das thematisierte Verhältnis und dokumentiert ein Stück der heutigen Auffassung von Religionswissenschaft. Dafür ist dem Herausgeber und den Mitarbeitern zu danken.