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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

700–702

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schwöbel, Marlene

Titel/Untertitel:

Kirche auf dem Prüfstand. Eine Untersuchung zu den theologischen Orientierungen kirchlicher Strukturplanung.

Verlag:

Marburg: Elwert 2003. X, 285 S. gr.8 = Marburger Theologische Studien, 78. Kart. Euro 29,00. ISBN 3-7708-1240-9.

Rezensent:

Jan Hermelink

In den deutschen evangelischen Landeskirchen vollziehen sich, ausgelöst vor allem durch finanzielle Probleme, seit etwa zehn Jahren erhebliche Veränderungen in Selbstsicht und Arbeitsorganisation. Nur ganz gelegentlich sind diese Veränderungen bislang zum Gegenstand einer Reflexion geworden, die sich nicht gleich zu Handlungsempfehlungen gedrängt sieht. Insofern ist die rasche Publikation der systematisch-theologischen Dissertation (Heidelberg 2003) von M. Schwöbel erfreulich, denn sie fragt ausdrücklich und ausführlich, "welche theologischen Orientierungen, die sich auf den Grund, die Gestalt und den Auftrag der Kirche beziehen, und welche Bilder von der zukünftigen Gestalt der Kirche in den Strukturüberlegungen wirksam sind" (2). Die Arbeit nimmt ihren Ausgang immer wieder bei ekklesiologischen, gelegentlich auch fundamentaltheologischen Überlegungen und nimmt sich vor, von daher "z. T. sehr konkrete praktisch-theologische Fragen" zu bearbeiten (ebd.).

Ihr - exemplarisches - Material sind die einschlägigen offiziellen und offiziösen Papiere, die die badische, die pfälzische, die pommersche und die mecklenburgische Landeskirche zwischen 1993 und 2001 vorgelegt haben. Mit dieser geschickten Auswahl hat die Vfn. (je benachbarte) westliche wie östliche, unierte wie lutherische Kirchen in den Blick bekommen. Die Bändigung des Materials ist ihr mit einer bei aller Differenzierung gut lesbaren, dabei konsequent inklusiv formulierenden, Sprache und mit klaren Strukturierungen gelungen.

Das erste von insgesamt sechs Kapiteln gibt eine ekklesiologische Grundlegung (5-25), die sich - abgesehen von Bemerkungen zum Verhältnis von Theologie und Kirche und zur neueren Missionsdebatte - auf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft sowie die Frage nach dem "Priestertum aller Gläubigen" konzentriert. In engem Anschluss an E. Herms, Ch. Schwöbel und vor allem W. Härle und R. Preul wird die Kirche als creatura verbi bestimmt, die sich u. a. als Kommunikations-, Bildungs- und Handlungs-Gemeinschaft und daher programmatisch als "Volkskirche" darstellt. Zu dieser Struktur gehört ein ordiniertes Amt, das das allgemeine Priestertum nicht einschränkt, sondern schützt (18 f.) und das sich im vollberuflich auszuübenden, "professionell geführten" (I. Karle) Pfarramt realisiert (18-23).

Mit diesen kirchentheoretischen Akzenten werden in vier Kapiteln die ausgewählten Landeskirchen dargestellt. Dabei findet ein engmaschiges Frageraster Verwendung, das zwar (kaum vollzogene) zwischenkirchliche Vergleiche erlaubt, spezifische Argumentationsweisen und Schwerpunkte der jeweiligen Debatten aber nur indirekt erkennbar macht. Auf eine - u. a. politische und religiöse - Situationsbeschreibung folgen jeweils Skizzen zur "Kirche in der Krise", deren Unterpunkte - z. B. "Mitglieder-", "Finanz-", "Personal-" oder "Orientierungskrise"- sich faktisch an W. Hubers Auflistung (Kirche in der Krise, 1998, 223 ff.) anlehnen, dabei aber "Erwartungs-" und "Kommunikationskrise" eigens zum Thema machen. Darauf folgen jeweils - parallel gegliederte - Referate zu den "Wege[n] aus der Krise".

Durch die filigrane Gliederung ergeben sich einige Wiederholungen. Der zentrale Begriff "Kommunikation" wird mitunter fast äquivok gebraucht und erscheint zunehmend unscharf.

Alle diese Abschnitte halten sich eng an die einschlägigen kirchlichen Strukturpapiere und geben auf diese Weise einen höchst informativen Einblick in die Dramatik der gegenwärtigen Strukturkrise wie in die Radikalität der organisatorischen Umstellungen, die innerhalb weniger Jahre vollzogen wurden (und werden). Die spezifischen historischen und kirchenpolitischen Voraussetzungen, aus denen viele der skizzierten (Selbst-) Wahrnehmungen allererst erklärlich sind, kommen bei diesem Vorgehen jedoch kaum in den Blick.

Alle materialen Kapitel schließen mit einer "theologischen Würdigung", in der (nochmals) die jeweils leitenden Basistexte befragt werden - das sind neben Kirchenordnungen etwa Leitbildprozesse (Baden), Handreichungen (Pfalz) oder Kirchenleitungsberichte mit programmatischem Anspruch. Diese Grundlagen und die daraus gefolgerten Prioritäten kommentiert die Vfn. eingehend: Sie moniert trinitätstheologische Ungleichgewichte (68 f.121.165 f. u. ö.), fragt nach Diakonie, Missions- und Gesellschaftsbegriff und widmet sich - stets besonders ausführlich - dem jeweiligen Verständnis von Amt und Mitarbeit (72 ff.79 f.125 f.221 ff.227 ff. u. ö.) sowie der Bedeutung (orts-) gemeindlicher Gemeinschaft. Selten spricht sie auch Empfehlungen aus, welche "theologischen Inhalte" zu bearbeiten seien (etwa 129 f.169 f.220 f.).

Ein abschließendes Kapitel zur "theologischen Orientierung ... der kirchlichen Strukturplanung" (231-272) nimmt - bis ins Detail - Gliederung und Argumente der Eingangsskizze auf und kommentiert von daher die referierten Debatten. Auf diese Weise kann die Vfn. plausibel machen, dass die kirchliche Selbstverständigung - neben der hier neu, jedoch kurz thematisierten Diakonie (269-271) und der Mission - vor allem durch zwei ekklesiologische Grundthemen geprägt ist: Zum einen ist die gesellschaftliche Positionierung der Kirchen durch das theologische Programm der Volkskirche zu beschreiben. Zu dessen (gegenwärtig gefährdeter) Realisierung gehört u. a. die Beachtung der differenzierten Erwartungen von Mitgliedern und gesellschaftlicher Öffentlichkeit sowie ein konsequent durchgehaltenes Parochialprinzip, weswegen die Vfn. immer wieder für "überschaubare Gemeinden" plädiert (78.225.264 f. u. ö.). Zum Anderen leiden viele Debatten in der Tat an einem ungeklärten Verständnis des ordinierten, pastoralen Amtes, dessen spezifischen, nicht delegierbaren Berufsaufgaben und seinem Verhältnis zu sonstiger haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeit (251-265). Hier wendet sich die Vfn. immer wieder gegen Teilzeitdienst, eine Ermäßigung der akademischen Ausbildung und gegen die "unierte" Nivellierung der Ordination (254).

Die energisch-systematische Fokussierung der vorliegenden Arbeit impliziert freilich einige empfindliche Schwächen. So werden die einschlägigen praktisch-theologischen Diskurse zu den hier berührten Themen nur ganz ausschnitthaft wahrgenommen. Zum "Gemeindeaufbau" etwa hat nicht nur M. Herbst publiziert; zum Verhältnis Parochie - "übergemeindliche" oder funktionale Arbeit existieren zahlreiche differenzierte Beiträge; die Bedingungen pastoraler und nichtpastoraler Berufe werden seit langem, nicht zuletzt in der Gemeindepädagogik bedacht. Viele dieser Einsichten und Argumente sind in den hier betrachteten kirchlichen Papieren durchaus, in dieser Untersuchung aber überhaupt nicht präsent. Das gilt - besonders bedauerlich - auch für die aktuelle Literatur zur Mission und zur Konfessionslosigkeit (nicht nur) in Ostdeutschland.

Manche einschlägigen Themen bleiben randständig, etwa die Frage nach dem spezifisch kirchlichen Beitrag zur elementaren und schulischen Bildung. Anderes wird gar nicht verfolgt - etwa die breiten Diskussionen zur kirchlichen Personalentwicklung, zum (geistlichen) Leitungshandeln, oder zur veränderten Bedeutung der "mittleren Ebene".

Mögen diese Einsprüche eher extern, eben praktisch-theologisch motiviert erscheinen, so bezieht sich ein letztes Monitum auf den eingangs zitierten Anspruch der Vfn. selbst, nach der faktischen Wirksamkeit theologisch-ekklesiologischer Orientierungen und Leitbilder in der aktuellen Strukturplanung zu fragen. Diesem Anspruch wird die Arbeit schon dort nicht ganz gerecht, wo sie zwar die theologischen Programme der einzelnen Kirchen referiert (und kritisiert), aber nicht konsequent fragt, ob es denn tatsächlich (nur) diese explizit formulierte Ekklesiologie ist, nach deren Ratio sich die jeweiligen Organisationsreformen vollziehen.

Inhaltlich problematisch erscheint mir erst die methodische Grundentscheidung, die kirchlichen Papiere - vor allem in den Rahmenkapiteln - nach der Maßgabe einer vorab feststehenden Kirchentheorie zu beurteilen. Die implizite Theologie jener Debatten, die sich - etwa hinsichtlich der jeweiligen Begriffe von "Gemeinde", "Mitgliedschaft" oder auch "Kommunikation" - durchaus ekklesiologisch rekonstruieren lässt, kommt auf diese Weise als faktisch orientierende Instanz noch nicht in den Blick. - Für eine hier weiter fragende, empirische wie theoretische Untersuchung hat die vorliegende Arbeit in ihrer materialen Dichte wie in ihrer analytischen Konzentration allerdings hohe Maßstäbe gesetzt.