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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

682–684

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gärtner, Christel, Pollack, Detlef, u. Monika Wohlrab-Sahr [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Atheismus und religiöse Indifferenz.

Verlag:

Opladen: Leske + Budrich 2003. 405 S. m. Abb. u. Tab. 8 = Veröffentlichungen der Sektion "Religionssoziologie" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 10. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-8100-3639-0.

Rezensent:

Sigrid Mühlberger

Publikationen zum Thema Atheismus bzw. religiöser Indifferentismus sind derzeit rar gesät, obwohl die Zeitsituation dringend danach ruft. Umso mehr ist der vorliegende Sammelband zu begrüßen, der Atheismus und religiöse Indifferenz unter soziologischen, historischen und philosophischen Bedingungen untersucht. Wie in der Einleitung angegeben wird, gehen mehrere Beiträge auf Vorträge bei der Jahrestagung 2001 der Sektion "Religionssoziologie" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zurück. Schwerpunkt der religionssoziologischen Analysen in diesem Buch sind Untersuchungen der Ursachen der Entstehung und Verbreitung von Atheismus und Indifferentismus sowie die Befassung mit sozialen Auswirkungen und Konsequenzen atheistischer und religiös indifferenter Einstellungen.

Der erste Teil des Bandes umfasst Beiträge, die sich mit den "Ursprünge(n) des Atheismus: Positionen, Milieus, Bedingungen" befassen. Winfried Schröder (Berlin), der sich bereits mit seiner Publikation "Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts" (1998) als Fachmann der Thematik erwies, eröffnet unter dem Titel "Der Tod Gottes und die Neuzeit: Philosophiehistorische Anmerkungen zum Zusammenhang von Atheismus und Moderne" (9-39) die Analyse der Entstehung des Atheismus auf differenzierte Weise. In seinen Ausführungen weist er nach, dass der oft vertretene Standpunkt, einen entwicklungslogischen Zusammenhang zwischen Atheismus und Moderne zu sehen, einer kritischen Prüfung nicht standhält und weiter zu differenzieren ist. Magnus Schlette (zu diesem Autor fehlen Angaben zur Person) widmet sich dem Thema "Vollendung der Religion? Überlegungen zum religiösen Atheismus im 19. Jahrhundert" (41-73). Nach einer Darlegung zum Verständnis eines "religiösen Atheismus" beschreibt er die Religionskritik in der Aufklärung in ihren verschiedenen Gestalten und Vertretern. Der Hauptteil seines Beitrages ist der Darlegung der "Motive aufklärerischer Religionskritik bei Feuerbach und Nietzsche" gewidmet. Dabei zeigt Schlette auf, wie die "Selbstaufhebung der Religion" im Werk Feuerbachs und Nietzsches bestimmend ist. Im folgenden Beitrag befasst sich Gerald Hartung (Leipzig) mit der philosophischen Anthropologie Max Schelers (75-97), mit der dieser zu Beginn des 20. Jh.s eine Antwort auf die voranschreitende Säkularisierung der Weltbilder zu geben versuchte. Eingehend werden die theologische Weiterführung und die Kritik an Schelers Anthropologie durch Kurt Leese und Theodor Haecker dargelegt und deren Positionen kritisch gewürdigt.

Ein für die philosophiegeschichtliche Forschung sehr interessanter Beitrag von Jochen-Christoph Kaiser (Marburg) setzt sich mit dem "organisierte(n) Atheismus im 19. Jahrhundert" (99-127) auseinander. Kaiser geht auf die drei bedeutendsten Gruppierungen des organisierten Atheismus des 19. Jh.s in Deutschland ein: die Freireligiöse Bewegung, das bürgerliche Freidenkertum und das Arbeiterfreidenkertum (die organisierte Religionskritik sozialistischer Provenienz). Die Vereine blieben großenteils Splittergruppen mit lokaler Bedeutung. Erst in der Weimarer Republik erlebte das freigeistige Verbandswesen mit bis zu 700.000 Mitgliedern einen unerwarteten Aufschwung. Die nationalsozialistische Machtergreifung bereitete der Freidenkerbewegung das Ende. Im Blick auf die Gegenwart stellt Kaiser fest, dass organisierter Atheismus gesellschaftlich funktionslos geworden ist und höchstens ein Nischendasein führt. Im Mittelpunkt des nächsten Beitrages steht die Philosophie Hans Blumenbergs und dessen Bezug zur Gottesfrage. In einer detaillierten Studie legt Philipp Stoellger (Zürich) unter dem Titel "Deus non datur? Hypothetischer Atheismus und religiöse Nicht-Indifferenz am Beispiel Hans Blumenbergs" (129-167) Blumenbergs Auseinandersetzung mit dem Atheismus der Neuzeit dar. Stoellger zeichnet kritisch unterschiedliche Lesarten von Blumenbergs Texten nach. Gegenüber manchen anderen Deutungen (vor allem von Seiten Odo Marquards) ist es Anliegen des Beitrags, im Durchgang durch das Werk von Hans Blumenberg nachzuweisen, dass Blumenberg "die Gottesfrage direkt oder indirekt offen (hält)" (131). Dabei wird die Spätschrift "Matthäuspassion" (1988) als Schlüsselwerk angesehen.

Als Grundlage für den empirischen Abschnitt des Sammelbandes gibt Olaf Müller (Frankfurt a. d. Oder) in seinem Beitrag "Glaube versus Atheismus? Individuelle religiöse Orientierungen in Mittel- und Osteuropa" (171-196) einen Überblick über Bedeutung und Entwicklung von Kirchlichkeit und Religiosität in den Transformationsländern Mittel- und Osteuropas. Der Vf. geht bei seiner Analyse von der kirchlich-religiösen Situation in Europa in den 1990er Jahren aus, wobei verschiedene Ausprägungen des Glaubens unterschieden werden. In einem weiteren Schritt werden im Blick auf "Glaube - Indifferenz - Skepsis - Atheismus" individuelle religiöse Orientierungen in Mittel- und Osteuropa differenziert durchleuchtet. In einem nächsten Abschnitt geht Müller auf die spezifische Situation in Ostdeutschland, der Tschechischen Republik und der Slowakei ein. Die Analyse des reichen und eingehend dargestellten Datenmaterials mündet in die offene Frage, welche Bedeutung und Orientierungshilfe Religion für die Menschen inmitten der tiefgreifenden gesellschaftlichen Umstellungen haben kann (wird). Es schließen sich mit empirischem Material arbeitende und historische Entwicklungen aufzeigende Beiträge über Länder an, die eine besonders hohe Konfessionslosigkeit aufweisen: Sipco Vellenga (Amsterdam): "Wie Gott in den Niederlanden verblasst: ein kultureller Trend in einem säkularen Staat" (197- 214); Liina Kilemit (Tartu)/Urmas Nömmik (Tartu und Marburg): "Konfessionslosigkeit in Estland. Die gegenwärtige Situation: Ein Kreuzungspunkt der Geschichte" (215- 227).

Gesondert wird in einem umfangreichen Abschnitt des Buches von Kersten Storch (Genf), Gert Pickel (Frankfurt a. d. Oder), Heiner Meulemann (Köln), Christel Gärtner (Essen), Kornelia Sammet (Berlin) und Thomas Schmidt (Leipzig) die religiös-kirchliche bzw. von starker Konfessionslosigkeit geprägte Situation in Ostdeutschland behandelt (231-336). Unter Einbeziehung von reichem Datenmaterial werden verschiedene Deutungsmodelle vorgestellt. Besonders interessant erscheinen jene Ausführungen, die darlegen, wie Menschen ihrem Leben ohne religiösen Bezug Sinn zu geben versuchen.

In einem theoretischen Anhang werden Thesen zum Thema "Religionslosigkeit oder strukturelle Religiosität" (337-399) von Ulrich Oevermann (Frankfurt a. Main) entfaltet und von Monika Wohlrab-Sahr (Leipzig) kritisch hinterfragt.

Besonders zu erwähnen sind die jedem Beitrag angefügten wertvollen Literaturhinweise, die für Weiterarbeit und Vertiefung von besonderem Nutzen sind. Wünschenswert wäre für die Arbeit mit dem Buch ein Personen- und Sachregister, das in dieser ersten Auflage leider nicht vorhanden ist.

Der Sammelband ist auf Grund der zu Diskussion und Dialog anregenden Positionen und Perspektiven und seiner differenzierten Analysen sowie des umfangreichen Datenmaterials für alle in Forschung und Pastoral mit dem Zeitphänomen Atheismus bzw. religiöser Indifferentismus befassten Personen sehr zu empfehlen.