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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

646–650

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hurtado, Larry W.

Titel/Untertitel:

Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2003. XXII, 746 S. gr.8. Geb. US$ 55,00. ISBN 0-8028-6070-2.

Rezensent:

Hermut Löhr

Das Versprechen, das Larry Hurtado 1988 mit seiner kleinen, aber gewichtigen Studie "One God, One Lord. Early Christian Devotion and Ancient Jewish Monotheism" gab, hat er mit der Vorlage der anzuzeigenden Arbeit eingelöst. Die früher gewonnenen Einsichten in die Entstehung der frühen Christus-Verehrung aus dem Kontext des jüdischen Monotheismus werden nun aufgenommen und in ein Gesamtbild frühchristlicher Christus-Verehrung bis weit in das 2. Jh. eingefügt. H. misst zu Recht sein Werk "in focus, scope, and depth" (XIII) an Wilhelm Boussets 1913 unter dem Titel "Kyrios Christos" erstmals erschienener "Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus"; und der Vergleich beider Werke macht deutlich, welche Entwicklung die Erforschung des frühen Christentums und seiner religions- und traditionsgeschichtlichen Hintergründe seit den Zeiten der Religionsgeschichtlichen Schule genommen hat. H. beschreibt zwar keinen vollständigen Forschungskonsens, aber er fasst doch die Ergebnisse zahlreicher wichtiger Einzeluntersuchungen der letzten Jahrzehnte zusammen, denen die ältere Unterscheidung von palästinisch-judenchristlicher und hellenistisch-heidenchristlicher frühchristlicher Theologie auf Grund des Quellenbefundes - und damit auch Boussets These von der Entstehung der Kyrios-Verehrung in der heidenchristlichen Urgemeinde - nicht mehr haltbar erschien und die zum Verständnis der frühesten Christologie einschließlich des Kyrios-Glaubens vornehmlich die jüdische Literatur der hebräischen Bibel und des Zweiten Tempels heranzogen. Weder bezeichnet H.s Buch daher einen Neuaufbruch noch den Abschluss einer Forschungsepoche, wohl aber eine gewichtige Zwischenbilanz, welche die Diskussion auf Jahrzehnte hinaus mit lenken wird.

Allerdings ist zu fragen, ob die Tatsache, dass das Judentum zur Zeit der Entstehung des Christusglaubens bereits auf einen mehr als zwei Jahrhunderte dauernden Hellenisierungsprozess zurückschaut, dass also, zugespitzt formuliert, das Judentum des Zweiten Tempels eine hellenistische Religion neben anderen ist, genügend zum Tragen kommt. Jedenfalls vermittels des Judentums hat die pagane Antike massiven Einfluss auf frühchristliches Denken und Tun genommen. Und ohne Zweifel stellte auch das pagane Denken zumindest Wahrnehmungskategorien zur Verfügung, welche die Rezeption frühchristlicher (wie frühjüdischer) Theologie ermöglichten (H. redet, z. B. S. 144 in Bezug auf die Taufe, lieber von "phenomenological similarities").

H. spricht im Untertitel bewusst nicht von Christologie, sondern von "devotion to Jesus". Damit ist die grundlegende Orientierung der Studie bezeichnet und - trotz aller sachlichen Divergenzen - eine methodologische Brücke zur Untersuchung des "Christus-Kultes" durch Bousset geschlagen. Während "Christology" eine Konzentration auf christliche Überzeugungen, Lehren und Konzepte zu Jesus bedeute, greife der Begriff der "devotion" weiter; er betreffe nämlich das religiöse Leben und Denken des frühen Christentums bezüglich Jesus. Schon in "One God, One Lord" (s. o.) hatte H. gezeigt, in welcher Weise die frühe Christus-Verehrung den jüdischen Monotheismus in Richtung auf einen "binitarian shape" modifiziert habe: durch Christus-Hymnen, Gebet zu Jesus, die Verehrung des Namens Christi, das Herrenmahl, das Bekenntnis sowie von dem Erhöhten abgeleitete Prophetie. Diese Einsichten werden im vorliegenden Band aufgenommen. Damit scheint das Untersuchungsinteresse sehr viel weiter gespannt als in einer rein dogmengeschichtlichen Betrachtung. Und gewiss führt die skizzierte Ausrichtung sehr viel näher an die "Religion" der ersten Christen heran, als dies etwa bei einer allein von christologischen Hoheitstiteln ihren Ausgangspunkt nehmenden Untersuchung der Fall sein könnte. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Konzentration auf die "Christ devotion" nicht der Untersuchung von philosophisch-religiösen Konzepten (etwa in Bezug auf die Präexistenz der Weisheit; vgl. 125 f.) zum Verständnis der frühchristlichen Christologien zu wenig Raum lässt.

Nach einer "Introduction" (1-26) gliedert sich das Werk in zehn große Kapitel. Eine abschließende Reflexion ("Thereafter"; 649-653), deren Schlussabschnitt die Stimme Albert Schweitzers vernehmen lässt, eine reiche Bibliographie (655-702) sowie drei Register beschließen das Buch.

Das erste Kapitel ("Forces and Factors"; 27-78) etabliert die Basis, auf der sich nach H. die frühe Christologie entwickeln konnte: jüdischer Monotheismus, das Auftreten Jesu, frühchristliche Offenbarungserfahrungen und die Auseinandersetzung mit dem jüdischen und paganen religiösen Umfeld.

H. sieht den "monotheistischen" Charakter der jüdischen Religion durch die exklusive Gottesverehrung etabliert (den Begriff der Monolatrie verwendet H. nicht zur Beschreibung). Die Analyse der (nur?) theoretischen Modifikationen der Gottesvorstellung etwa durch "Weisheit", "Namen", "Wort" oder "Engel" Gottes tritt dagegen zurück.

Die Weichen für alles Folgende sind gestellt; und bei aller Verwurzelung der frühchristlichen Christologie im antiken jüdischen Denken bleibt doch die tiefe Differenz in der Religionspraxis: Die Christen erweisen Jesus Christus als dem Erhöhten kultische Verehrung; dies ist nach H. im nicht-christlichen Judentum der Zeit ohne Vorbild oder Analogie.

Das zweite Kapitel ("Early Pauline Christianity"; 79-153) beginnt mit den frühesten sicheren Quellen zur Christologie. Dabei geht es nicht allein um das Profil paulinischer Christologie, sondern um die Christus-Verehrung, die in den Gemeinden, mit welchen der Apostel in der Mitte des ersten Jahrhunderts interagiert, noch greifbar ist. Dabei kommen christologische Hoheitstitel ("Christus", "Sohn Gottes", "Kyrios"), christologische Vorstellungen wie die der - m. E. zu Recht von H. für Paulus sicher vorausgesetzten - Präexistenz, soteriologische Aussagen und die religiöse Praxis in den Blick. Hier werden die Fruchtbarkeit und die Horizonterweiterung von H.s Ansatz besonders deutlich.

Kapitel 3 ("Judean Jewish Christianity"; 155-216) fragt von den paulinischen Texten und dem Befund der ältesten erhaltenen Kirchengeschichte, der Apg (nicht dem der Synoptiker) zurück nach dem christologischen Profil der frühesten Jesus-Anhänger in Jerusalem und Judäa.

Die christologische Rezeption von Gottesaussagen des Alten Testaments wie die Verehrung Jesu als des Kyrios werden in dieser Zeit und Region bereits begreifbar; auch Letztere ist nicht das Produkt einer frühen Hellenisierung des Christentums. Die fundamentale Differenz zu Boussets Aufstellungen erscheint wie im Vergrößerungsglas; zugleich benennt H. einen sich immerhin abzeichnenden Konsens der neueren Exegese. H. nimmt an, dass bereits der vorösterliche Jesus von seinen Anhängern als "Herr" (aramäisch: mar) angeredet wurde: "That is, the usage of the term likely has its origin in the circle of Jesus' followers and in the period of his ministry. But what happened among the Jesus movement after Jesus' crucifixion was a marked (and quite rapid) escalation in the connotation of the term as applied to Jesus" (181), eine Entwicklung, die durch Erfahrungen des Erhöhten befördert worden sei.

H. gelingt nicht nur eine die wenigen Indizien sorgsam auswertende Skizze frühester Gemeinde-Christologie und -praxis, sondern zugleich eine historisch plausible Erklärung des Übergangs von der Nachfolge Jesu zur Christus-Verehrung.

Die Kapitel 4 bis 7 widmen sich der Evangelien-Tradition, zunächst der Quelle Q ("Q and Early Devotion to Jesus"; 217- 257), deren angebliche Sonderstellung in der frühchristlichen Tradition H. einer treffenden Kritik unterzieht (239-244: "The Argument from Silence"), dann den synoptischen Evangelien ("Jesus Books", 259-347), wobei der Menschensohn-Titulatur in Mk besondere Aufmerksamkeit zukommt, dem johanneischen Schrifttum mit Ausnahme der Offb ("Crises and Christology in Johannine Christianity"; 349-426) und zuletzt außerkanonischen frühen Evangelien und Evangelienfragmenten ("Other Early Jesus Books"; 427-485). Notwendig ist hier die Ausbeute zur Frage der religiösen Praxis geringer, aber dies verführt H. in der Regel nicht dazu, die Quellen hinsichtlich der Frage nach dem in ihnen vorausgesetzten Gemeindeleben zu überfordern.

Ob allerdings Mt 14,22-33; 28,9 und 17 von den intendierten Lesern "as paradigmatic anticipations of the reverence for Jesus that they offered in their worship gatherings" aufgenommen werden sollten, wie H. meint (338), unterliegt doch erheblichen Zweifeln. Zwischen der gottesdienstlichen Praxis, die den Modus der anwesenden Abwesenheit Christi zu gestalten sucht, worüber wir aber für diese frühe Zeit in Wahrheit ganz wenig wissen, und der literarischen Gestaltung der Begegnung mit dem leibhaftigen Herrn ist fundamental zu unterscheiden.

War mit der Betrachtung der Evangelien-Tradition schon der Übergang in das 2. Jh. vollzogen, so wird dieser Überschritt nunmehr, im achten Kapitel ("The Second Century - Importance and Tributaries"; 487-518) eigens zum Thema. H. begründet die Kategorien von "radical diversity" und "proto-orthodoxy", die seine Sicht der Entwicklungslinien der frühen Kirchen- und Theologiegeschichte benennt. Der von Bart D. Ehrman entlehnte Begriff der "proto-orthodoxy" ("or proto-catholic"!, 494) versucht die Tendenz zur Vereinheitlichung von Glaubensinhalten und -praktiken zu fassen, die für das spätere "klassische" oder "orthodoxe" Christentum prägend sein werden, während "radical diversity" solche religiösen Äußerungen kennzeichnet, die im "proto-orthodoxen" Christentum des 2. Jh.s als heterodox oder häretisch angesehen wurden. Beide so unterschiedenen Entwicklungsrichtungen sind aus dem Christentum des 1. Jh.s entstanden. Nachgetragen werden zum Beleg zunächst wichtige Schriften und Schriftengruppen, die noch keine Berücksichtigung fanden, nämlich Hebr, Kol und Eph sowie Past (1 und 2Petr, Jud und Offb finden in Kapitel 10 Berücksichtigung, während 2Thess anmerkungsweise zur Darstellung der "Pauline Christianity" herangezogen wird). Das Bestreben einer historisch-chronologischen Ordnung und das Bedürfnis, zumindest die - im Einzelnen ja schwer datierbaren - neutestamentlichen Quellen vollständig darzustellen, geraten hier in eine offensichtliche, aber kaum zu vermeidende Spannung.

Besonders profiliert - und damit auch bisweilen zum Widerspruch reizend- ist die Darstellung des Befundes in Hebr, den H. in 1Clem mit der Absicht zitiert findet, die korinthischen Leser des jüngeren Schreibens aufzufordern, "to also be acquainted with Hebrews by that date and to hold it in high regard" (498). Ich bin nicht sicher, ob Hebr in 1Clem überhaupt zitiert wird. In Bezug auf die Christologie sieht H. ganz zu Recht eine markante Differenz zwischen der Funktion Melchisedeks in Hebr und in 11QMelch. Sachgerecht wird insbesondere Hebr 13 auf mögliche liturgische Implikationen befragt, doch könnte ich anders als H. aus 13,20 f. nicht die Gestalt der liturgischen Praktiken ableiten, mit denen der Verfasser vertraut war.

Was im achten Kapitel fundamentiert war, führt das Diptychon der Kapitel 9 und 10 ("Radical Diversity"; 519-561; "Proto-orthodox Devotion"; 563-648) aus.

Dabei berücksichtigt das "Häresie-Kapitel" ausführlich die in Nag Hammadi gefundenen Quellen und legt inhaltlich den Akzent auf die auf Valentin und Markion und ihre jeweiligen Schulen zurückgeführten Ansichten (die Detaildiskussion um Authentizitätsfragen wird angezeigt, aber nicht noch einmal geführt). Neben der notwendigen Differenzierung wird der Versuch unternommen, gemeinsame Züge herauszuarbeiten, welche die Zuordnung der genannten Strömungen zur "radical diversity" als sachgemäß erweisen sollen. In Bezug auf die religiöse Praxis bleiben die Quellen freilich spröde.

Die abschließende Darstellung der "proto-orthodox devotion", die H. in den überraschend weiten zeitlichen Rahmen von 70 bis 170 n. Chr. einspannt, beschäftigt sich mit einer ganzen Anzahl weiterer frühchristlicher Texte, die unter den Themen der christologischen Lektüre des Alten Testaments (besondere Beachtung findet Justin), der Vier-Evangelien-Sammlung (exemplarisch: Tatians Diatessaron), der Visions-und Offenbarungsliteratur (Offb; AscJes; PastHerm), von Hymnus und Gebet (z. B. OdSal; Did) und Martyrium (Offb; Ignatius von Antiochien, MartPol) analysiert werden. Auch die Frage der nomina sacra in den frühesten Handschriften und christologische Motive wie die Hadesfahrt und die Anfänge der Zwei-Naturen-Lehre werden erwähnt. Dass hier nur manches angerissen werden kann, wird man der Darstellung nicht vorwerfen, vielmehr wird man dankbar sein, dass diese Schriften und Themen gleichsam in den "Kanon" der Diskussion um die Entstehung der Christologie aufgenommen sind.

"Lord Jesus Christ" steht in der besten Tradition historisch-kritischer Exegese. Das Buch besticht durch die Klarheit der Formulierung, die Fairness und Umsicht der Diskussion und die Geschlossenheit der Argumentation. Es ist ein großes, bewundernswertes Werk.

Lehrbücher, auch exegetische, weisen sich heutzutage durch "icons", andersfarbige Textfelder, Fragen zur Verständniskontrolle und ausgewählte Literaturhinweise zur Weiterarbeit aus. H.s Buch, das doch eine "wide readership" (vgl. XIV) sucht, hat all das nicht. Taugt es zum Lehr-Buch? Ich hatte Gelegenheit, das Werk in einem Seminar mit fortgeschrittenen Studierenden und Doktoranden zu nutzen. Es wurde als anspruchsvoll empfunden. Aber wir hatten in der Auseinandersetzung mit den Thesen H.s äußerst angeregte exegetische und theologische Diskussionen, und ich meine, wir haben viel gelernt. Den Studierenden des Jenaer Seminars im Wintersemester 2003/04 danke ich für eine fruchtbare gemeinsame Zeit.