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Ausgabe: | Juni/2005 |
Spalte: | 644–646 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Hintermaier, Johann |
Titel/Untertitel: | Die Befreiungswunder in der Apostelgeschichte. Motiv- und formkritische Aspekte sowie literarische Funktion der wunderbaren Befreiungen in Apg 5,17- 42; 12,1-23; 16,11-40. |
Verlag: | Berlin-Wien: Philo 2003. XII, 342 S. gr.8 = Bonner Biblische Beiträge, 143. Geb. Euro 50,00. ISBN 3-8257-0326-6. |
Rezensent: | Bernd Kollmann |
Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um eine von J.-N. Aletti betreute Dissertation, mit der H. im Jahr 2000 an der Pontificia Università Gregoriana in Rom promoviert wurde. Sie widmet sich den drei Befreiungswundern der Apostelgeschichte, die von R. Kratz innerhalb seiner 1979 erschienenen Monographie über biblische Rettungswunder gründlich untersucht und dabei als von hellenistischer Wundertradition inspirierte Missionslegenden betrachtet wurden. Demgegenüber will H. den Traditionshintergrund neu ausleuchten und zudem gezielt die Frage nach der Funktion der Befreiungswunder innerhalb des lukanischen Doppelwerks stellen. Angesichts der lukanischen Konzeption von der Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen in der Zeit der Kirche sei eine Zurückhaltung gegenüber außerbiblischem Vergleichsmaterial geboten. Zudem könne erst eine Analyse der narrativen Einheiten, in die die wunderbaren Befreiungen eingebettet sind, über deren Funktion im Rahmen der lukanischen Theologie Aufschluss geben. Entscheidendes Ergebnis der Studie von H. ist die Einsicht, dass Lukas die wunderbaren Befreiungen im Kontext seines Doppelwerkes in den Bogen von Exodus und Ostern stelle, um so ein faszinierendes Zeugnis für den Großmut und das Vertrauen der urkirchlichen Verkünder zu geben.
Im Einzelnen wendet sich H. zunächst dem antiken Umfeld der lukanischen Befreiungswunder zu (9-73). Im Blick auf die hellenistischen Parallelen kommt er zu dem Ergebnis, dass es sich überwiegend um keine eigentlichen Befreiungswunder handele, sondern lediglich Elemente verarbeitet würden, die zum Motivgerüst eines Befreiungswunders gehörten. Im Kontrast zu den Dionysos- und Apollonius-Traditionen trete in apokryphen jüdischen Erzählungen von einer wunderbaren Befreiung Abrahams (Pseudo-Philo) oder Moses (Artapanos) die auch von der Apostelgeschichte geteilte Auffassung klar hervor, dass die Gefangenen nicht selbst zu ihrer Befreiung in der Lage sind, sondern in ihrer Hilflosigkeit auf das Eingreifen Gottes oder seiner Engel vertrauen müssen. Noch deutlicher werde in alttestamentlichen Traditionen wie Jes 45,1-2 oder Ps 107,10- 16 betont, dass allein Gott der Urheber von Befreiung sein könne. Aus diesem Grund seien die Parallelen aus dem Alten Testament und dem antiken Judentum ungleich eher als die hellenistischen Traditionen dazu geeignet, das theologische Ver- ständnis der wunderbaren Befreiungen in der Apostelgeschichte zu erhellen.
Im zweiten Kapitel seiner Arbeit (75-142) bemüht sich H. durch umfassende, eher zu breit angelegte narrative Analysen um den Nachweis, dass die Befreiungswunder der Apostelgeschichte innerhalb des lukanischen Doppelwerks nicht isoliert dastehen. Aus seiner ausführlichen Untersuchung des Lukasevangeliums auf Situationen, die durch Konflikt, Verfolgung oder Gefangenschaft geprägt sind, zieht H. den Schluss, dass die Befreiungswunder der Apostelgeschichte zu einem gewissen Grad Illustrationen von Verheißungen sind, die bereits im Evangelium ausgesprochen werden. Auch die narrative Struktur der Apostelgeschichte zeige, dass die wunderbaren Befreiungen in ein umfassenderes lukanisches Konzept von Verkündigung und Ausbreitung des Evangeliums eingebettet sind.
Das Herzstück der Arbeit ist die eingehende Untersuchung der Befreiungswunder selbst (143-297). Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob Lukas sich stärker von der hellenistischen Literatur oder von biblischen Texten und Themen leiten lässt. Die Antwort fällt eindeutig aus. Für das Befreiungswunder Apg 5,17-42 müsse von einer Rückführung auf hellenistische Parallelen Abstand genommen werden. Lukas stehe in der Tradition von Deuterojesaja und interpretiere die Befreiung der Apostel im heilsgeschichtlichen Horizont des Exodusgeschehens als Grundtypus biblischer Befreiungserfahrung. Auch in Apg 12,1- 23 folge Lukas nicht hellenistischen Beispielen, sondern biblischen Vorbildern. Dabei wird die Passanotiz Apg 12,3-4 von H. als Referenzrahmen der wunderbaren Befreiung überbewertet. Zudem interpretiert er die gottesdienstliche Zusammenkunft im Haus der Maria als christliche Passafeier zur Erinnerung an die Auferstehung Jesu, um aus dieser hypothetischen Konstruktion weitreichende Folgerungen für das Verständnis des vorangehenden Befreiungswunders zu ziehen, in dem das gesamte Heilswirken Gottes brennpunktartig zusammengefasst sei: "Auf dem Hintergrund des Paschafestes, das einerseits auf das alttestamentliche Exodusgeschehen anspielt, andererseits aber auch schon auf Tod und Auferstehung Jesu, hat Lukas dieses Befreiungswunder so gestaltet, dass die großen Etappen der Heilsgeschichte aktualisiert und lebendig gemacht werden" (305). Im Blick auf Apg 16,11-40 räumt H. zwar ein, dass der Traditionshintergrund für das Befreiungswunder in der hellenistischen Vorstellungswelt (Bacchen des Euripides) zu suchen ist, interpretiert dies aber als nur formales gestalterisches Zugeständnis des Lukas an den heidnischen Missionsort Philippi und sieht auch hier in Übereinstimmung mit biblischem Denken das befreiende Eingreifen Gottes als Zentralmotiv.
Insgesamt gelingt es H. mit seiner synchronen Betrachtung von Lukasevangelium und Apostelgeschichte, die Befreiungswunder durch den Nachweis wichtiger Verbindungslinien und Zusammenhänge als integralen Bestandteil des lukanischen Doppelwerks plausibel zu machen. Hermeneutisch ist H. bei seiner Analyse der Befreiungstraditionen unverkennbar dem Konzept der Biblischen Theologie verpflichtet, die neutestamentlichen Wundergeschichten im Rahmen eines die gesamte Bibel umspannenden heilsgeschichtlichen Zusammenhangs zu betrachten und einem alttestamentlich-jüdischen Traditionshintergrund gegenüber der hellenistischen Vorstellungswelt eindeutig den Vorzug zu geben. Trotz vieler richtiger Beobachtungen wirken dabei die von H. behaupteten innerbiblischen Bezüge und Querverbindungen oftmals konstruiert oder werden überbewertet, während umgekehrt die Tendenz greifbar ist, die Bedeutung hellenistischer Parallelen systematisch herunterzuspielen. Die These, dass das typologisch auf die Auferweckung Jesu verweisende Heilshandeln Gottes im Exodusgeschehen den maßgeblichen Referenzrahmen für ein sachgemäßes Verständnis der Befreiungswunder in der Apostelgeschichte abgebe, scheint mir damit auf schwachen Beinen zu stehen.