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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

633–635

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Franz, Matthias

Titel/Untertitel:

Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34,6-7) und ihre Parallelen im Alten Testament und in seiner Umwelt.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. X, 294 S. gr.8 = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 160. Kart. Euro 35,00. ISBN 3-17-017896-2.

Rezensent:

Thomas Wagner

Die Publikation der durch Rainer Kessler betreuten und im Jahr 2002 vorgelegten Dissertation ist eine umfassende Analyse der so genannten Gnadenformel (vgl. Spieckermann, ZAW 102, 1-18). Der Vf. versteht sie als einen Beitrag zur "systematischen Aufarbeitung der Gnadenaussagen" (4) des Alten Testaments. Zielsetzung der Untersuchung ist es, zu überprüfen, "ob bereits im Alten Testament eine Verhältnisbestimmung zwischen Liebe und Zorn Gottes, zwischen Gnade und Strafe erkennbar wird" (4). Die Forschungsgeschichte zum Thema zeigt deutlich, dass Ex 34,6 f. in der bisherigen Forschung oft untersucht wurde, eine derart umfassende Abhandlung bis zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch nicht vorlag.

Die Dissertation besteht aus fünf Teilen. In Teil I (Kapitel II [14-42]) analysiert der Vf. die syntaktische Gestaltung des Textes. Teil II (Kapitel III und IV [43-110]) setzt sich mit der außerbiblischen Bezeugung der Rede von Zorn und Gnade der Götter auseinander. Dabei nimmt der Vf. Zeugnisse von der frühesten Phase ägyptischer und mesopotamischer Kultur bis hin zur Darstellung der Gnade Gottes im Koran im 7. Jh. n. Chr. auf. Zudem werden Eigennamen und Inschriften auf Höhlenwänden untersucht. In Teil III (Kapitel V [111-153]) werden der Ursprung und die Bedeutungsbreite der in Ex 34,6 f. verwendeten Begriffe und Wendungen analysiert. Diese Einzeluntersuchungen fließen in einer Interpretation des Textes zusammen. Mit Teil IV (Kapitel VI [154-193]) stellt sich der Vf. der Aufgabe, die Entstehungsgeschichte der Erzählung Ex 32- 34 nachzuzeichnen und die Veränderung im Verständnis der Gnadenrede darzustellen. Teil V (Kapitel VII und VIII [194- 265]) setzt sich mit der inneralttestamentlichen Wirkungsgeschichte von Ex 34,6 f. auseinander. Eine Zusammenfassung und ein Ausblick sowie eine detaillierte Literaturliste und ein Register der biblischen und außerbiblischen Belegstellen sind der Untersuchung angefügt.

Die syntaktische Untersuchung in Teil I zeigt, dass die Aussagen über gnadenvolles und strafendes Handeln Jahwes sprachlich unterschiedlich gestaltet sind. Während die Aussagen über die Gnade durch stativische Verben, Adjektive und Partizipien ausgedrückt werden, beschränkt sich die Rede über den strafenden Gott auf finite Verben. Auf Grund der Sprachstruktur folgert der Vf., Jahwe könne "im Zorn und im Wohlgefallen" (37) handeln, ohne dass sich seine Handlungen gegenseitig ausschließen. Bestätigt findet der Vf. seine Schlussfolgerung durch eine statistische Auswertung prophetischer Texte: Von Gottes verwerfendem Handeln reden die Propheten nur selten in stativischen Formen, während für die heilsprophetische Botschaft die Verwendung vor allem von Adjektiven und substantivischen Identifikationen bezeichnend ist (39 f.). So formuliert der Vf. im Blick auf die systematische Auswertung seiner Untersuchung: "Das gütige und das strafende Handeln sind nicht in einer Balance. Ex 34,6b-7 hebt in wesenserfassender Rede an Gott die Güte und die Vergebungsbereitschaft hervor. Gleichwohl wird nicht verschwiegen, dass Gott auch straft" (42).

Teil II der Abhandlung führt zu einem differenzierten Bild der Rede über Zorn und Gnade im Vorderen Orient. Sowohl in der ägyptischen wie auch in der mesopotamischen Literatur ist gnädiges und strafendes Handeln der Götter bekannt. Auch wenn sich die Vorstellung regional unterschiedlich ausprägte, scheint sie eine allgemeinorientalische Tradition zu sein. Hoffnung auf Gnade und Angst vor Zorn prägten vor allem im semitischen Bereich Hymnen und Gebete, Mythen und Epen. Dabei können die Vorstellungen auf jede Gottheit übertragen werden. Das Erbarmen der Gottheit wird vor allem im semitischen Bereich mit dem "Namen und damit mit dem Wesen einer Gottheit" (93) verbunden. Bestätigt wird dieses durch die Analyse semitischer Eigennamen, durch die das gnädige Wirken Gottes als dessen Wesenseigenschaft betont wird. - Der anschließende Teil III stellt den Hauptteil der Untersuchung dar. In ihm weist der Vf. vor allem zwei Dinge auf: Traditionsgeschichtlich sind die einzelnen Aussagen, die in Ex 34,6f. über das gnädige und strafende Wirken Jahwes getroffen werden, in der prophetischen (Elia, Hosea) und der kultischen Tradition (Psalmen) beheimatet. Der Text ist so als "Theologie gewordene Prophetie" (153, in seinem Sinne auch 172) zu verstehen.

Bestätigt wird diese Aussage durch die Analyse des Wachstums der Erzählung Ex 32-34. Der Vf. weist zwei zunächst unabhängige Traditionen nach, die zu einem Text verbunden wurden: die Gebotstradition (Ex 34,1.4aa.b.10aa.11.27) und die Tradition von der Gottesschau am Sinai (Ex 33,18-23; 34,2f.4ab.5-7.28a.29aa.b). Sprecher der Gnadenrede ist dabei Jahwe (164). Als entscheidendes Argument stellt der Vf. heraus: Handelte es sich um eine menschliche Bitte, dann wäre zu erwarten, dass der Beter sich nur auf die Gnade Jahwes beziehen würde (164). Dieses wiederum stimmt mit der prophetischen Tradition überein, dass es Jahwe ist, der sich durch die Propheten mitteilt. In einem weiteren Schritt wurde der aus den beiden Traditionen gebildete Text mit der Erzählung vom Goldenen Kalb verbunden. In dieser Komposition erhielt der Text die Funktion, das Fortsetzen der Wüstenwanderung trotz des Vorfalls am Sinai mit Gottes Gnade zu begründen (184). So sieht der Vf. eine deutliche Entwicklung für die Bedeutung des Textes Ex 34,6 f.: "Ursprünglich war die Gnadenrede im Kontext eine Rede in der Spannung von Gnade und Verschonung. In der Endfassung ist das barmherzige Wesen Jhwhs der Grund für den neuen Bund" (187). Zeitlich ordnet der Vf. den Text auf Grund der Nähe zu den Traditionen der Nordreichsprophetie, die reflektierend aufgenommen wurden, und auf Grund der - wenn auch letztlich nicht zwingend nachweisbaren - Verbindung zu 1Kön 12 in das 7. Jh. v. Chr. ein.

Erst in der Wirkungsgeschichte wurde aus der Gnadenrede die von Spieckermann konstatierte Gnadenformel. Diese Wirkungsgeschichte nachzuzeichnen ist die Aufgabe, der sich der Vf. im letzten Teil seiner Untersuchung stellt. Während an der Analyse von Dtn 9 f. sichtbar wird, dass der Verfasser dieses Textes die Gnadenrede gekannt haben muss, sie aber aus theologischen Gründen in seiner Darstellung der Ereignisse am Sinai ausließ, zeigt sich, dass in anderen späteren Texten die Formel im Kontext von Ex 33-34 (Num 14,18; Neh 9,17.31; Ps 78,38 u. ö.), im Kontext der Wüstenwanderung (Ps 111,4 u. ö.) oder mit identischen Formulierungen (Num 14,18; Ps 86,15; 103,8) aufgenommen wurde. Der freie Gebrauch identischer Aussagen in Nah 1,3 und Mi 7,18-20 zeigt deutlich, dass aus der einstigen kontextgebundenen Gnadenrede eine freie Gnadenformel wurde, die Auskunft über das Wesen Jahwes gibt.

Mit großer Umsicht, transparentem Methodeneinsatz und im Blick auf das Thema umfassender Textauswahl behandelt der Vf. die von ihm gestellte Frage. Zugleich gewährt er einen interessanten Einblick in den Umgang mit zunächst kontextgebundenen Aussagen über das Wesen Jahwes, die im Laufe der Tradierung entkontextualisiert wurden. Im Anschluss an diese Arbeit wäre zu fragen, in welchem Zusammenhang der sich ausprägende Monotheismus und die formelhafte Verwendung ursprünglich kontextgebundener Aussagen über das Wesen Jahwes stehen.