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Ausgabe:

Mai/2005

Spalte:

557–560

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

1) Kohler-Weiß, Christiane 2) Rhonheimer, Martin

Titel/Untertitel:

1) Schutz der Menschwerdung. Schwangerschaft und Schwangerschaftskonflikt als Themen evangelischer Ethik.

2) Abtreibung und Lebensschutz. Tötungsverbot und Recht auf Leben in der politischen und medizinischen Ethik.

Verlag:

1) Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2003. 428 S. 8 = Öffentliche Theologie, 17. Kart. Euro 34,95. ISBN 3-579-05413-9.

2) Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2004. 236 S. gr.8. Kart. Euro 28,00. ISBN 3-506-70114-2.

Rezensent:

Michael Lippold

Die mit dem Hanna-Jursch-Preis der EKD 2003 ausgezeichnete Heidelberger Dissertation von Kohler-Weiß benennt als grundsätzliches Vorhaben die Entwicklung einer erfahrungsbezogenen Ethik des Schwangerschaftskonflikts aus der Perspektive einer evangelischen Theologin, die nicht von der Priorität normativer Erwägungen ausgeht, sondern die Erfahrungen schwangerer Frauen im Konflikt einer wissenschaftlichen Verarbeitung zuführen will.

Um der Tendenz einer Entproblematisierung und Privatisierung des Schwangerschaftsabbruchs entgegenzuwirken, werden dafür in der Einleitung (I, 13-36) drei Aufgaben als konstitutiv erachtet: "Die Aufgabe der kontextuellen Differenzierung des ethischen Problems, die Aufgabe der ganzheitlichen Konkretion des Problemgegenstands, und die Aufgabe der Einbeziehung und Systematisierung von außer-rationalen Erkenntnis- und Urteilsformen." (30) Demzufolge sei nicht die Abwertung der - oft beklagten - Emotionalität der Debatte angezeigt, sondern mittels des Einbezugs von Gefühlen und Empfindungen die Rehabilitierung des Gefühlsbereichs und dessen Überführung in die ethische Urteilsbildung. Auf diese Art und Weise sei die Diskrepanz zwischen "Expertenethik" und "real stattfindenden ethischen Entscheidungsprozessen von Frauen" (29 f.) zu überwinden, wobei eine Ethik des Schwangerschaftskonflikts zudem vor der Herausforderung stehe, deren Verhältnis zu Fragen des Embryonenschutzes zu klären. Die absolute Vorordnung der Erfahrung nochmals betonend bezeichnet die Vfn. andere Zugänge zur Thematik als die mit unserer Lebenserfahrung zusammenhängenden als "nicht sinnvoll" (32). "Den Mittelteil der Arbeit (Teil II, 37-307) bilden die Darstellung und Analyse ausgewählter evangelisch-ethischer Beiträge zum Schwangerschaftsabbruch. Jeder ausgewählte Beitrag ist dabei in zweifacher Hinsicht exemplarisch. Er steht einerseits für die Diskussionslage eines Jahrzehnts und andererseits für einen bestimmten theologischen Zugang zur Ethik." (32)

Insgesamt fünf theologische Ansätze (Barth, Thielicke, Jüngel/ Käsemann/Moltmann/Rössler, T. Rendtorff und J. Fischer) werden mittels eines gemeinsamen, 14 Punkte umfassenden Rasters einer vergleichenden Analyse unterzogen, womit die Vfn. ihre systematisierende Kraft beweist. Die evangelische Debatte zum Schwangerschaftsabbruch soll so schwerpunktmäßig über einen Zeitraum von 50 Jahren nachgezeichnet und für den verfolgten Ansatz fruchtbar gemacht werden. Der in die Gestalt von Thesen ("Eine gegenwärtige evangelische Ethik des Schwangerschaftskonflikts ...") gekleidete theologische Ertrag am Ende des jeweiligen Abschnitts bereitet die Verarbeitung der gewonnenen Ergebnisse im dritten Hauptteil (309-411) vor, wobei dem pneumatologischen Ansatz von J. Fischer (auf der Leitorientierung des Geistes der Liebe basierend) besondere Hochschätzung zuteil wird. Dieser mit "Grundlinien einer erfahrungsbezogenen evangelischen Ethik der Schwangerschaft und des Schwangerschaftskonflikts" überschriebene Abschnitt plädiert für einen grundsätzlichen Perspektivwechsel; gegen die im rechtlichen und ethischen Diskurs übliche Isolierung und Verselbstständigung des Fötus wird der Charakter der Schwangerschaft als eines unauflösbaren Lebensverhältnisses und Prozesses betont, der nur aus der Perspektive der Schwangeren zutreffend wahrzunehmen und zudem rechtlich zu schützen sei. Da Schwangerschaftsabbruch kein Tötungs-, sondern ein Beziehungsdelikt sei, könne die Konfliktlinie nicht einfach zwischen schwangerer Frau und ungeborenem Kind gezogen werden; diese verlaufe vielmehr zwischen verschiedenen Lebensmöglichkeiten der Frau, unter denen die Antizipation des Lebens mit dem Kind eine mögliche sei.

Die der Schwangeren zuzugestehende Entscheidungsfreiheit gründe im vorauslaufenden Handeln Gottes und stehe "im Dienste der Menschenwürde des Kindes" (363). Allerdings sei diese Freiheit nun doch begrenzt, wenn es um die Ablehnung der Annahme des Ungeborenen - der "Person in statu nascendi" (364) - gehe, denn diesem eigne der Anspruch, geboren zu werden. Ein Schwangerschaftsabbruch bedürfe daher in jedem Falle der Rechtfertigung, wobei die Vfn. in diesem Zusammenhang drei Kriterien einführt: das - aus dem juristischen Text der Indikationenregelung geläufige - Kriterien der Unzumutbarkeit, die Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs nach pränataler Diagnostik sowie die besondere Begründungspflichtigkeit eines späten Abbruchs, bei dem Empfindungsfähigkeit des Fötus vorausgesetzt werden muss. Nach Überlegungen zur ethischen Entscheidungsfindung und einer überraschend ausführlichen, kommunikative Aspekte beinhaltenden Schuldbetrachtung formuliert die Vfn. ihre Grundthese von Schwangerschaft als einem Schutzgut des Rechts (397); dem grundrechtlichen Status der schwangeren Frau mit dem Recht, Mutter zu werden korrespondiere der des Ungeborenen mit dem Recht, geboren zu werden.

Daraus sei allerdings kein Recht auf ein eigenes Kind abzuleiten, was in der Skepsis gegenüber In-vitro-Fertilisation und der strikten Ablehnung der Forschung an Embryonen inhaltlich begründet ist; die damit einhergehende Verdinglichung und genetische Manipulation (404) menschlichen Lebens gefährde die Grundlagen unseres Zusammenlebens weit mehr als ein Schwangerschaftsabbruch. Präimplantationsdiagnostik sei deshalb und wegen ihres selektiven Charakters abzulehnen, die Praxis der pränatalen Diagnostik sei ebenfalls zu überdenken und gegebenenfalls rechtlich einzuschränken.

Die Vfn. hat eine von theologisch-anthropologischen Prämissen geleitete gehaltvolle und zudem gut lesbare Dissertation vorgelegt, die originäre Ansätze hinsichtlich der Thematik entfaltet; bedauerlich ist jedoch die Praxis der Vfn., von geleisteten Vorarbeiten zu profitieren, diesen geistigen Gewinn aber zuweilen unbelegt zu lassen. Der angekündigte Verzicht auf normative Festlegungen konfligiert zudem ebenso mit abschließend formulierten - einklagbaren? - Rechten wie diese untereinander. Wie stellt sich beispielsweise die Realisierung des Rechtes, Mutter zu werden bei einer ungewollt kinderlosen Frau dar? Wie verhält sich der Anspruch des Ungeborenen, geboren zu werden zum zwar begrenzten, aber doch postulierten Moment der Wahlfreiheit der Schwangeren und ist dieser Widerspruch theologisch überhaupt auflösbar? Auffällig ist in diesem Zusammenhang zudem die Renaissance der Hochschätzung des Natürlichen: Kinderlosigkeit oder festgestellte Behinderung eines Ungeborenen seien zu akzeptieren - an diesem Punkt tritt der Erfahrungsbezug beträchtlich in den Hintergrund bzw. wird nun doch - speziell hinsichtlich menschlicher Intuitionen und der Kategorie der persönlichen Betroffenheit - wieder von normativen Erwägungen überlagert.

Fast gänzlich in den Hintergrund tritt der Erfahrungsbezug hingegen im Buch Martin Rhonheimers, Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Der Band umfasst drei Beiträge, von denen die beiden ersten (zum Teil in anderen Sprachen) bereits publiziert wurden. Der erste der in der Einleitung gut charakterisierten Beiträge mit dem Titel Grundrechte, Moralgesetz und Lebensschutz im demokratischen Verfassungsstaat (27-89) erörtert die Frage des Lebensrechts des Ungeborenen aus der Perspektive einer politischen Philosophie und Ethik und versteht sich speziell als rechtliche Auslegung der 1995 erschienenen Enzyklika Evangelium vitae. "Im Mittelpunkt steht dabei der Nachweis, dass es in der Logik moderner Verfassungsstaatlichkeit liegt, das Lebensrecht auch der Ungeborenen anzuerkennen, vorausgesetzt allerdings auch Ungeborene werden als Personen mit den ihrem Status als Ungeborene entsprechenden Rechten anerkannt." (14)

Ausgehend von der übernommenen Zustandsanalyse der jetzigen Gesellschaft als einer von der Kultur des Todes geprägten entfaltet der Vf. die der Enzyklika zu Grunde liegenden, Konstitutionalismus genannten Grundzüge einer Konzeption eines demokratischen Verfassungsstaates: "die Idee vom Vorrang des Rechts gegenüber der politischen Macht, Gewaltenteilung und auf den Grundrechten basierender Schutz der Freiheit des Einzelnen" (28). Diese Freiheit sei selbst durch demokratische Mehrheitsentscheidungen nicht einzuschränken und gelte selbstverständlich auch dem Embryo/Fötus, der deshalb strafrechtlich streng zu schützen sei; Abtreibung sei lediglich bei Lebensgefahr für die Mutter nicht zu ahnden. Der Vf. hängt der - nicht unumstrittenen - These an, dass einzig der moralische Status des Embryos für die ethische Bewertung der Abtreibung maßgebend sei. Seiner Argumentation liegt das Postulat zu Grunde, dass der menschliche Embryo eine Person sei; auffällig ist jedoch die gänzlich fehlende Definition des Personbegriffes. Diese wird auch im zweiten Beitrag nicht geleistet, der sich mit der Argumentation des deutschen Philosophen Norbert Hoerster (Abtreibung im säkularen Staat) auseinander setzt, der eben diesen Person-Status des Embryos zu bestreiten sucht. Unter dem Titel Absolute Herrschaft der Geborenen? (91-130) geht es dem Vf. vorrangig darum zu erweisen, "dass auch Ungeborene - Embryonen und Föten - im eigentlichen Sinne Menschen und Personen sind" (14), selbst wenn sie ihr Überlebensinteresse noch nicht artikulieren können. Gegen das Speziesismus-Verdikt dieser philosophischen Richtung und unter Bestreitung des Potentialitätsarguments macht er geltend: "Nur ein Wesen, das schon Person ist, kann sein Personsein aktualisieren. Deshalb sind Individuen der Spezies Homo sapiens Personen". (106) Über dieses Postulat geht die Auseinandersetzung jedoch kaum hinaus; warum einem Embryo Personalität zu attestieren sei - als deren Eigenschaften er "Geistigkeit, Freiheit, rationale Selbstbestimmung des Menschen" (119) benennt - bleibt der Vf. in seiner zuweilen zirkulären Argumentation schuldig. "Einem menschlichen Fötus Menschenwürde zuzuschreiben, ist ganz einfach Ausdruck der Tatsache, dass man menschliche Föten als Personen betrachtet." (118) Ist das wirklich so einfach, wenn der Fötus über genannte Eigenschaften eben noch nicht verfügt?

Güterabwägung, Tötungsverbot und Abtreibung in vitalen Konfliktfällen (131-236) ist der Titel des dritten, im Einvernehmen mit der Kongregation für die Glaubenslehre erstellten Beitrages. Ausgehend vom geradezu klassisch diskutierten Fall der Kraniotomie begibt sich der Vf. in einen innerkatholischen, moraltheologische Vorbildung voraussetzenden Diskurs um die Rechtfertigung oder Entschuldigung ärztlichen Handelns in Fällen der doppelt vitalen Indikation. Die Unzulänglichkeit des Prinzips der Handlungen mit Doppelwirkung konstatierend, die die Tötung des Fötus als unbeabsichtigte, indirekte und deshalb in Kauf zu nehmende Nebenfolge apostrophiert, führt der Vf. die von Thomas von Aquin entlehnte Argumentationsfigur des ethischen Kontextes des Prinzips Gerechtigkeit in den Diskurs ein, die auch auf Tötungshandlungen angewendet werden müsse. Bei Eileiterschwangerschaften, in deren Verlauf es zu lebensbedrohlichen Zuständen für die Frau kommen könne, dürfe deshalb medizinisch eingegriffen werden, selbst wenn dies den Tod des Embryos zur Folge habe; dessen Tötung sei jedoch nur eine nichtintendierte (praeter intentionem) Folge der Handlung, da der Eingriff auf den pathologischen Zustand des Eileiters gerichtet sei. Dies erfolge jedoch nicht auf der Basis des Prinzips der Güterabwägung, da zwei unschuldige menschliche Leben nie gegeneinander abgewogen werden dürften. Wohlgemerkt: Es geht immer nur um Fälle der doppelt vitalen Indikation, Fälle also, in denen ohne ärztliches Eingreifen Mutter und Kind sterben würden, weshalb das Kriterium der Gerechtigkeit hier versagt, die Tötung des Embryos also nicht ungerecht sei, da er ohnehin sterben würde. Besitzt er aber eine Überlebenschance, sei es die "Pflicht der Mutter, bereit zu sein, ihr Leben für dasjenige ihres Kindes zu opfern" (164). Die Lektüre dieses Beitrags lässt einen evangelischen Theologen ratlos zurück. Dass eine Doktrin, die das Leben der Mutter nicht für wertvoller erachtet als das des Ungeborenen und für den Fall doppelter Lebensgefährdung lediglich moralische Entschuldigungsgründe gelten lässt (die im ohnehin eintretenden Tod des Fötus gründen), noch so vehement vertreten wird, ist bedrückend. Wenn es noch eines Beweises bedarf, wie weit sich katholische Moraltheologie und evangelische Ethik derzeit voneinander entfernt haben, dann liefern ihn diese beiden Bände.