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Ausgabe:

April/2005

Spalte:

452 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.

Titel/Untertitel:

Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2004. 203 S. 8 = Forum Theologische Literaturzeitung, 11/12. Kart. Euro 18,80. ISBN 3-374-02120-4.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Die Blütezeit hermeneutischer Theologie liegt Jahrzehnte zurück. Semiotik und (post)strukturalistische Texttheorien haben ihr Erbe angetreten, nicht selten mit einem dezidiert antihermeneutischen Gestus. Aus ihrer fundamentaltheologischen Schlüsselposition ist die Hermeneutik jedenfalls verdrängt worden. Doch an welcher Leitwissenschaft soll sich die Theologie statt- dessen orientieren? - Der Debatte über die momentane Lage der (deutschsprachigen) Theologie, über wissenschaftstheoretische und universitätspolitische Entwicklungen setzt Dalferth einige Lichter auf. Sein lesenswertes, gelegentlich von gedanklichen Wiederholungen nicht freies Buch ist nichts Geringeres als ein Neuentwurf theologischer Enzyklopädie, der Schleiermachers Erbe mit Grundeinsichten der Wort-Gottes-Theologie zu verbinden sucht. Das ist ein spannendes, aber auch spannungsreiches Unternehmen.

Das Kerngeschäft der Theologie ist nach wie vor die Interpretation, freilich nicht nur von Texten, sondern der unterschiedlichsten Phänomene menschlicher Selbst-, Welt- und Gotteserfahrung. Theologie als Interpretationspraxis zu verstehen, heißt nach D., "sie als semiotisches und hermeneutisches Phänomen in den Blick zu fassen" (60). Er zielt also auf eine Synthese von Hermeneutik und Semiotik. Der Bezug der Theologie auf den christlichen Glauben und das ihn ebenso bezeugende wie hervorrufende Evangelium wird als mehrschichtige Interpretationsbeziehung gefasst, die ebenso rekonstruierend wie produktiv oder kreativ ist. Theologie ist produktive "Interpretation von Interpretation von Interpretationen" (63), wobei jedes Verstehen ein Anders- und Neuverstehen ist.

D.s Theologiebegriff knüpft an die Konzeption Schleiermachers an. Doch tritt an die Stelle des kirchenleitenden Handelns bei D. die "christliche Glaubenspraxis als Ausgangs- und Zielpunkt evangelischer Theologie" (176 ff.). Die altprotestantische These, wonach die Theologie insgesamt eine eminent praktische Wissenschaft sei, wurde von Schleiermacher zum Verständnis von Theologie als positiver Wissenschaft vom christlichen Glauben abgewandelt. Zugleich schuf er die Praktische Theologie als moderne Wissenschaftsdisziplin. Für D. nun ist die Theologie in der Gesamtheit ihrer Interpretationsbemühungen "gegenwartsbezogene praktische Theologie, und nur als solche, aber auch als solche notwendig, mit biblisch-exegetischen, historischen und systematische Fragen befasst" (52).

Theologie reflektiert also nicht nur Praxis, sondern sie ist selbst Praxis, eben eine Praxis des Interpretierens. Diese ist stets kontextbezogen oder ortsabhängig, weshalb D. für einen topischen Denkstil plädiert (12). Um den Ort der Theologie zu bestimmen, nimmt D. eine Reihe von Abgrenzungen vor. So grenzt er sich von einem subjektivitätstheoretischen Deutungsbegriff ab, der beim sich selbst und seine Welt auslegenden neuzeitlichen Subjekt und bei dessen Lust oder Bedürfnis nach Deutung einsetzt (57). D.s Subjektivitätskritik (z. B. 180) ist theologisch in der Grundpassivität des Glaubens und seinem extra nos begründet. Alles Deuten des Glaubens gründet im Gedeutetwerden durch Gott (57). Deutliche Kritik übt D. auch an Tendenzen, Theologie als Kulturwissenschaft der christlichen Religion oder als einen Sonderfall von Religionswissenschaft zu definieren. Dieser Versuch scheitert u. a., wie D. mit Recht einwendet, am "Zerfließen des Religionsbegriffs" (16). Demgegenüber orientiert sich D. am Begriff der "Kommunikation des Evangeliums" (90 ff.), die immer auch als dessen bzw. als Gottes "Selbstkommunikation" zu verstehen sei (110 ff.).

Der Überstieg auf Gott als Subjekt semiotischer und interpretatorischer Prozesse ist aus Sicht eines evangelischen Glaubensverständnisses unaufgebbar. Die Synthese von Semiotik und theologischer Hermeneutik wird dadurch allerdings zunächst erschwert. Auch wenn der sprachliche Ausdruck "Gottes Selbstinterpretation" auf kein vorinterpretatives Offenbarungsereignis verweisen soll, sondern Offenbarung nach D. stets in und mit der christlichen Kommunikation des Evangeliums stattfindet (116), reimen sich doch die Selbstmächtigkeit des Wortes Gottes und die Rede von der "Sache" des Evangeliums (184; vgl. 55) nicht ohne weiteres mit einer semiotischen Theorie der Interpretation zusammen. Zeichentheoretisch betrachtet werden die gedanklichen Spannungen durch den Wechsel von der semiotischen Begrifflichkeit in die religiös-metaphorische Sprache markiert, die vom schöpferischen Wirken Gottes, seiner lebensverändernden Kraft, seinem Urteil und seiner Gegenwart spricht.

Dieser Wechsel der Sprachspiele verweist auf die Differenz zwischen Außen- bzw. Fremdperspektive und Binnenperspektive der Theologie als Glaubenswissenschaft (124), die nach D. in jeder theologischen Disziplin zu kombinieren sind (128). Der Hinweis auf das "unvermischt und ungetrennt" der chalcedonensischen Zweinaturenlehre (135) ist noch keine Lösung der offenen Theorieprobleme. D.s Denkanstöße tragen aber hoffentlich dazu bei, die fundamentaltheologische Diskussion im evangelischen Raum neu zu beleben.