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Ausgabe:

März/2005

Spalte:

271–274

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lieu, Judith

Titel/Untertitel:

Neither Jew Nor Greek? Constructing Early Christianity.

Verlag:

London-New York: T & T Clark (Continuum) 2002. XIV, 261 S. 8 = Studies of the New Testament and Its World. Lw. £ 40,00. ISBN 0-567-08909-6.

Rezensent:

Stefan Alkier

Judith M. Lieu, Professorin für New Testament Studies, King's College, London, versammelt in diesem Band zwölf Aufsätze, die in den 90er Jahren des vergangenen Jh.s entstanden sind. Diesen stellt sie eine orientierende Einführung voran, ordnet sie aber nicht chronologisch in der Reihe des Entstehens, sondern thematisch in vier Rubriken. Die einzelnen Aufsätze und auch die Rubriken thematisieren aus verschiedenen, aber stets interessanten Perspektiven die Grundfrage des Buches, die sein Titel präzise zum Ausdruck bringt: Waren die frühen Christen wirklich "weder Juden noch Griechen"? L. verneint diese Frage und bemüht sich daher, die Komplexität der kulturellen, soziologischen und theologischen Verflechtungen nachzuzeichnen, in denen christliche Identität erst entsteht. Der Untertitel benennt zum einen genau diese Identitätsarbeit, die die christlichen Gruppierungen in der vorkonstantinischen Zeit zu leisten hatten. Zum anderen reflektiert der Untertitel die notwendige konstruktive historische Arbeit, aus der Rezeption überlieferter Zeichen ein Geschichtsbild zu entwerfen, das der Komplexität des Datenmaterials und der Komplexität historischer Hypothesenbildung zugleich angemessen sein soll. L.s Aufsätze sind der Lektüre sehr zu empfehlen, weil sie nicht nur die historischen Fragen auf der Höhe der Zeit interdisziplinär und an vielen Stellen innovativ ausarbeitet, sondern die gewohnten Fragen selbst ideologiekritisch, methodisch und geschichtstheoretisch einer gewinnbringenden Prüfung unterzieht. Dass die Aufsätze auch noch in einem vorzüglichen Englisch geschrieben sind, macht das Lesen dieses Buches zu einem intellektuellen und ästhetischen Vergnügen.

Part I. Disappearing Boundaries: In diesem Teil problematisiert L. die Grenzziehungsstrategien zwischen Christentum, Judentum und griechisch-römischen Kultvereinen von Seiten christlicher theologischer Wissenschaft der Gegenwart und christlicher Schriften der ersten drei Jahrhunderte.

L. eröffnet diesen Teil mit dem Aufsatz "The Parting of the Ways: Theological Construct or Historical Reality?" Sie problematisiert darin das Separationsmodell der zwei Wege - das rabbinische Judentum und das Christentum -, die aus der gemeinsamen Quelle des Judentums des 2.Tempels bzw. der Heiligen Schriften Israels hervorgegangen seien. Sie stellt demgegenüber klar, dass weder das Judentum noch das Christentum der vorkonstantinischen Zeit fest umrissene, einheitliche Größen gewesen sind, zwischen denen so etwas wie klare Separationsgrenzen formulierbar seien. Sie tritt für eine stärkere lokalgeschichtliche Differenzierung ein, zu der nicht nur die literarischen Zeugnisse, sondern auch archäologische Befunde nötigten. Das Separationsmodell sei zwar dialogfähiger als das ältere Ablösemodell, aber ebenfalls auf der Basis christlicher Apologetik und weniger auf einer differenzierenden historisch-soziologischen Forschung gegründet. Die weiteren Aufsätze des ersten Teils bemühen sich darum, die klaren Grenzen zwischen Judentum und Christentum der vorkonstantinischen Zeit weiter zu problematisieren. Dabei widmen sich der dritte und der vierte Aufsatz dem Begriff der "Gottesfürchtigen" und seiner schwierigen und widersprüchlichen historischen Referenz. Der letzte Aufsatz dieses Teils trägt den Titel "Ignoring the Competition". Darin kritisiert sie die unsachgemäße Unterschätzung der religiösen und sozialen Kraft hellenistischer bzw. griechisch-römischer Kulte zur Zeit der Entstehung und Verbreitung des Christentums und führt sie auf eine unkritische und identifikatorische Rezeption der Schriften der Kirchenväter zurück, die zwar eine Auseinandersetzung mit griechischen und hellenistischen Schriften der Vergangenheit führten, sich aber kaum mit den konkurrierenden Kulten der Gegenwart schriftlich auseinander setzten.

Part II. Women and Conversion in Judaism and Christianity: Im ersten Aufsatz dieses Teils problematisiert L. die Plausibilität der Überzeugung, das frühe Christentum hätte eine größere Anziehungskraft für Frauen gehabt als das Judentum und die griechisch-römischen Kultgemeinschaften.

L. gibt zu bedenken, dass diese allgegenwärtige Aussage auf keinerlei empirischen Daten fuße, und untersucht daher die Rhetorik der Diskurse, in denen diese Überzeugung entfaltet wird. Sie zeigt die politischen Aspekte dieser Diskurse auf, die zum einen in apologetischer und polemischer Weise das Christentum als die menschlich wertvollere Glaubensweise darstellen und damit offen oder verdeckt antijudaistische Ideologien transportieren. Sie stellt heraus, dass diese Apologetik gerade auch in feministischen Ansätzen mit einer Festschreibung eines Frauenbildes erkauft wird, die Frauen eine besondere Empfänglichkeit marginalisierter Religion unterstellt. Frauen werden damit in chauvinistischer Weise auf eine starke Emotionalität festgelegt. Demgegenüber gibt sie zu bedenken: "While modern scholars seem to have little difficulty in recognizing the intellectual dimension in the conversion, for example, of Justin, ... few explore whether women would have found Christianity intellectually attractive" (87). Der folgende Aufsatz widmet sich dann dem Beziehungsgeflecht von "Circumcision, Women and Salvation". L. stellt hier ausgehend von Justin die u. a. von Elisabeth Schüssler Fiorenza vertretene Hypothese in Frage, Frauen hätten angesichts der zentralen Bedeutung der Beschneidung im Judentum einen geringeren Wert als Männer.

Part III. Theology and Scripture in Early Christian Views of Judaism: Ausgehend von der aktuellen Debatte, welchen Anteil das Christentum am neuzeitlichen Antisemitismus und insbesondere am Holocaust habe, warnt L. in diesem Zusammenhang vor ideologischen Simplifizierungen, wie sie sie im weiteren Verlauf des ersten Aufsatzes dieses Teils, "History and Theology in Christian Views of Judaism", auch gerade bei christlichen Schriftstellern der vorkonstantinischen Zeit feststellt. Diese frühchristliche Polemik gegen das Judentum wertet sie als Anzeichen dafür, dass die tatsächlichen soziologischen Grenzen zwischen Juden und Christen fließender waren, als es etwa Ignatius und auch noch Chrysostomus lieb war.

Grundlegend seien alle Äußerungen zu dieser Thematik mit folgender Frage zu analysieren: "... we must ask not so much how clear are the boundaries between Christianity and Judaism, but more particularly who is drawing them and for whom." (131) Im folgenden Aufsatz, "Accusations of Jewish Persecution in Early Christian Sources with particular reference to Justin Martyr and the Martyrdom of Polycarp", wehrt sie Harnacks These ab, Juden seien maßgeblich an Christenverfolgungen beteiligt gewesen. Die entsprechenden Aussagen frühchristlicher Schriftsteller entsprächen weniger historischer Erfahrung als vielmehr einer christlichen apologetischen Schriftbenutzung, der es um die Konstruktion einer christlichen Identität geht, die jüdische Traditionen übernimmt und sich im selben Atemzug von ihren gegenwärtigen Trägern abgrenzt. Mit Hilfe der Rhetorik der Verfolgung werden Juden dann sogar als Gehilfen des Teufels diffamiert. Der III. Teil schließt mit dem Aufsatz "Reading in Canon and Community: Deut. 21.22-23, A Test Case for Dialogue". Am Beispiel der frühchristlichen Rezeption von Dtn 21,22 f. führt L. die hermeneutische Plausibilität der semiotischen Erkenntnis aus, "... that the text's post-history, both in the wider textual context and beyond, becomes part of its meaning" (154). Auf dieser Basis lehnt L. auch den Terminus "the Hebrew Scriptures" als gut gemeint, aber unsachgemäß ab, denn wenn die Rezeptionsgeschichte das Bedeutungspotential der Texte verändert, so teilen Juden und Christen nicht so etwas wie einen sinnneutralen Schriftenkanon. Vielmehr generieren die neuen Zusammenhänge der christlichen Bibeln und Gemeinschaften andere Sinnpotentiale derselben Schriften als die Zusammenhänge der jüdischen Textwelten und Glaubensgemeinschaften: "... Jews and Christians do not share these Scriptures, for as Jewish or as Christian Scriptures they are essentially different" (155). Nur auf der differenzontologischen Basis dieser semiotischen Erkenntnis ist ein Dialog möglich, sinnvoll und geboten.

Part IV. The Shaping of early Christian Identity: Die drei Aufsätze des letzten Teiles des Buches befassen sich mit der Frage nach der Ausbildung einer spezifisch christlichen Identität in der vorkonstantinischen Zeit.

Der Aufsatz "The Forging of Christian Identity and the Letter of Diognet" leitet diesen Teil mit der These ein, schon die ältesten erreichbaren christlichen Quellen, also auch schon die später kanonisierten Texte, konstruieren eine christliche Identität mit rhetorischen Mitteln, die in der Tradition jüdischer Apologetik steht. Affirmativ zitiert L. A. Cameron: "As Christ was the Word, so Christianity was its discourse or discourses" (171, Anm. 1). Für die ersten zwei Jahrhunderte merkt sie an, dass es keine materiellen Überreste gibt, die als spezifisch christlich identifiziert werden können. Dieser Befund steht in Übereinstimmung mit Aussagen des Diognetbriefes, der von der äußerlichen Ununterscheidbarkeit der Christen von ihrer nicht-christlichen Lebenswelt spricht. Den Diognetbrief liest L. dabei ohne Diskussion als einen Text des späten 2. Jh.s. Der folgende Aufsatz "The New Testament and Early Christian Identity" zeigt anhand kanongeschichtlicher Befunde, dass mit der Kanonbildung keine eineindeutige exklusive christliche Identität geschaffen worden ist, weil der Kanon "... preserves for us a story of convictions and life-styles which at the same time appeared and perhaps still appear incompatible with each other" (206). Die Einsicht in die unhintergehbare Konstruktivität auch der historischen Kritik, zu deren Ansatz sich L. ausdrücklich bekennt, verweist auf die politische Verantwortung der Fachexegetinnen und -exegeten, der nur interdisziplinäres Forschen gerecht werden kann. Im abschließenden Aufsatz, "I am a Christian: Martyrdom and the Beginning of Christian Identity", arbeitet L. die These aus, die Märtyrerliteratur sei maßgeblich an christlicher Identitätskonstruktion beteiligt. In diesem Zusammenhang diskutiert sie hermeneutische und geschichtstheoretische Grundlagenfragen, die für jede historische Arbeit unhintergehbar sind.

Die Lektüre dieses Buches bereichert nicht nur die Forschung zu den einzelnen Themen der gesammelten Aufsätze. Vielmehr führt L. mit ihren Anfragen an scheinbare Selbstverständlichkeiten neue Perspektiven vor, die sich nicht zuletzt der Beteiligung an der aktuellen Theoriedebatte in den Geisteswissenschaften verdanken. Mit ihrer interdisziplinär ausgebildeten historisch-kritischen Forschung setzt sie einen notwendigen wissenschaftlichen Maßstab für historische Forschung auf der Höhe der Zeit.