Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2005

Spalte:

252–254

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Otto, Eckart

Titel/Untertitel:

Max Webers Studien des Antiken Judentums. Historische Grundlegung einer Theorie der Moderne.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XII, 377 S. gr.8. Lw. Euro 79,00. ISBN 3-16-147897-5.

Rezensent:

Rainer Kessler

Die überragende Bedeutung Max Webers (1864-1920) auch für die alttestamentliche Wissenschaft ist seit dem 1981 von Wolfgang Schluchter herausgegebenen Sammelband "Max Webers Studie über das antike Judentum" immer stärker ins Bewusstsein gerückt. 1983 erschien die Monographie von Christa Schäfer-Lichtenberger, "Stadt und Eidgenossenschaft im Alten Testament. Eine Auseinandersetzung mit Max Webers Studie Das antike Judentum". Seit den späten 1970er Jahren haben sich verschiedene Autoren - darunter auch der Autor der anzuzeigenden Studie - immer wieder in kürzeren oder längeren Beiträgen mit Aspekten von Webers Werk, die sich auf das Alte Testament beziehen, auseinander gesetzt.

All diese Arbeiten legen in der Regel Webers Studie über "Das antike Judentum" zu Grunde, die 1921 postum als dritter Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie erschienen ist, herausgegeben von der Witwe Marianne Weber. Dass nun über 80 Jahre nach dieser Erstausgabe eine wissenschaftliche Edition des "Antiken Judentums" im Band I/21 der Max Weber Gesamtausgabe (MWG) erscheint, kann nur begrüßt werden. Die vorliegende Monographie aus der Feder des Bearbeiters von MWG I/21 versteht sich als "Vorarbeit zur Edition" (VII).

O. gliedert seine Untersuchung in sechs sehr unterschiedlich akzentuierte Abschnitte. Zunächst behandelt er "Biographische Hintergründe und werkgeschichtliche Zusammenhänge in Max Webers Studien des Antiken Judentums unter Einschluß des unveröffentlichten Deponatsmanuskriptes". Dieser Abschnitt leistet vor allem zweierlei. Zum einen werden verschiedene Frontstellungen Webers, aber auch seine Gewährsleute kenntlich gemacht und Webers eigene Position somit in die zeitgenössischen Diskurse eingebunden. Besonders aufschlussreich ist Webers Auseinandersetzung mit Werner Sombart, der im Judentum die Entstehung des "Geistes des Kapitalismus" sieht. Webers bekannte These, eine bestimmte Spielart des Protestantismus habe den "Geist des Kapitalismus" hervorgebracht, ist nicht nur eine klare Gegenposition gegen Sombart, sondern wirkt auch auf Webers Darstellung des Judentums zurück. Zwar gehört auch für ihn das Judentum in die Vorgeschichte des modernen europäischen Rationalismus, aber doch nur in begrenzter und vermittelter Weise.

Solche pauschalen Aussagen werden freilich durch die zweite Leistung dieses Abschnittes relativiert. Sie besteht zunächst einfach darin, dass O. die Tatsache herausstellt, dass Weber sich im 1921 veröffentlichten "Antiken Judentum" keineswegs zum ersten Mal zum Thema äußert, sondern dies seit der Jahrhundertwende in verschiedenen Veröffentlichungen tut. Daneben kann O. das handgeschriebene Manuskript auswerten, das sich im Max-Weber-Deponat der Münchener Staatsbibliothek befindet (O. benennt es als "Deponatsmanuskript") und das als Fragment die Religionsgeschichte des antiken Judentums behandelt. In minutiösen Studien zeigt O., wie Weber in späteren Veröffentlichungen Versatzstücke aus früheren Texten verwendet und wie so in neuen Kontexten Bedeutungsverschiebungen entstehen, allerdings auch manche Spannungen, die Weber nicht mehr ausgleicht.

Ohne Zweifel sind solche entstehungsgeschichtlichen Aspekte bei der Interpretation von Webers Hauptveröffentlichung zum "Antiken Judentum" zu beachten. Ob allerdings, wie O. meint, "eine werkbiographisch detailliert ausgearbeitete Interpretation ... der allein angemessene Zugang zu M. Webers Werk sein kann" (82), darf dennoch gefragt werden. Das Beispiel von Webers Diktum der Juden als "Pariavolk" mag die unterschiedlichen Ansätze illustrieren. Für O. ist die Betonung "der Absonderung des Judentums als Pariavolk" im Deponatsmanuskript "noch in der Auseinandersetzung mit W. Sombart befangen" (74); als abgesondertes Pariavolk können die Juden gerade nicht den "Geist des Kapitalismus" hervorbringen. In den Studien dagegen wird, so O., das "Antike Judentum ... zusammen mit Urchristentum und okzidentaler Christenheit als religionshistorischer Ursprung des modernen okzidentalen Rationalismus und nicht mehr primär als deren Gegenbild interpretiert, das in die gesellschaftliche und ökonomische Existenz eines Pariavolkes führe" (78); die Studien "zeigen ... eine über die religionstypologische Distanzierung der jüdischen Religion als der eines Pariavolkes ... hinausgehende Sicht" (74). Selbst wenn man diese Auffassung teilt, bleibt die Tatsache, dass die Studien mit den Worten beginnen: "Das eigentümliche religionsgeschichtlich-soziologische Problem des Judentums läßt sich weitaus am besten aus der Vergleichung mit der indischen Kastenordnung verstehen. Denn was waren, soziologisch gesehen, die Juden? Ein Pariavolk" (Hervorhebung im Original). Welche Aktzentverschiebung immer aus entstehungsgeschichtlicher Perspektive gegenüber dem unveröffentlichten Deponatsmanuskript geschehen sein mag, dies ist der veröffentlichte und wirksam gewordene Text.

Nach der werkgeschichtlichen Einordnung von Webers Äußerungen zum antiken Judentum analysiert O. in den Abschnitten II und IV die beiden großen Themen der Fassung von 1921, die Tora und die Prophetie, wiederum in entstehungsgeschichtlicher Perspektive. In der Verhältnisbestimmung der beiden Themen kommt O. zu dem Schluss: "Der rechtshistorische Prozeß der Rationalisierung und Theologisierung des Rechts steht in M. Webers Konzeption des Antiken Judentums als Voraussetzung nicht nur der jüdischen Schriftgelehrsamkeit, sondern auch der christlichen Ethik an kulturhistorischer Bedeutung nicht hinter der Prophetie zurück" (174). Zwischen den beiden Abschnitten stellt O. in einem eigenen Abschnitt die Frage nach der inneren Kohärenz des "Antiken Judentums": "III. Das methodische Zusammenspiel der Abschnitte Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe und Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes in den Aufsätzen zur Wirtschaftsethik des antiken Judentums". - Nach einem Ausblick auf "Max Weber und Ernst Troeltsch zur hebräischen Prophetie" kommt O. im Schlusskapitel auf seine eigene Position zu sprechen. Als werkgeschichtlicher Interpret hatte er sich bisher auf Webers Schriften beschränkt und diese in ihren zeitgenössischen Kontext eingezeichnet, die Frage, ob man das denn heute auch noch so sehen könne, aber nur gelegentlich zurückhaltend in Fußnoten gestreift. Da heutige Leserinnen und Leser hierüber aber Auskunft verlangen, stellt sich O. der Aufgabe unter dem Titel "Der Neubau des rechtshistorischen Fachwerks einer Religionssoziologie des antiken Israels und Juda". In seiner Beschreibung des Abstands zu Weber aus gegenwärtiger Sicht wird O. weitestgehende Zustimmung finden: "Drei religionsgeschichtliche Voraussetzungen, die Säulen in M. Webers Konzeption des Antiken Judentums sind, ein früh datierter Bund zwischen JHWH und seinem Volk, eine vorstaatliche Eidgenossenschaft als Träger der Bundesidee und Vertragspartner JHWHs sowie ein ferner Wahlgott JHWH in der Frühzeit Israels, der monolatrische Züge hat, sind heute nicht mehr tragfähig" (276). Dagegen sieht O. in "M. Webers Beschreibung des Prozesses von Rationalisierung und Theologisierung des Rechts" (282) Anschlussfähigkeit für seine eigene Sicht. Diese entfaltet er dann auf den letzten Seiten des Buches in Aufnahme zahlreicher früherer Veröffentlichungen. Es entsteht ein geschlossenes und eindrucksvolles Gedankengebäude mit der Leitidee der Rationalisierung, der nach O. "die priesterlichen und prophetischen Intellektuellenzirkel" (300) verpflichtet sind. Es ist in O.s Terminologie ein Fachwerkbau. Diese haben allerdings die Eigenschaft, dass, wenn man nur einen oder zwei Balken entfernt, das gesamte Fachwerk ins Wanken gerät.

Wie immer man O.s eigene Rekonstruktion beurteilt und selbst wenn man in einigen Deutungen Webers von ihm abweicht, bleibt dieser Werkbericht mit der Fülle seines Materials von jetzt an ein unverzichtbares Instrument jeder Beschäftigung mit Max Weber aus alttestamentlicher Sicht.