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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

102–105

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Heinz, u. Renate Zitt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Diakonie in der Stadt. Reflexionen - Modelle - Konkretionen. Hrsg. unter Mitarbeit v. H. Kratzert.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2003. 218 S. gr.8 = Diakoniewissenschaft, 8. Kart. Euro 20,00. ISBN 3-17-017913-6.

Rezensent:

Annegret Reitz-Dinse

Der vor knapp einem Jahr erschienene Sammelband präsentiert die Beiträge einer Tagung, die das Diakoniewissenschaftliche Institut Heidelberg anlässlich des 140-jährigen Jubiläums der Evangelischen Stadtmission Heidelberg durchgeführt hat. Namhafte Theologen aus Universität und Diakonie kommen darin mit Beiträgen aus dem Blickwinkel der Religionspädagogik sowie des Sozial- und Staatsrechts zu Wort. Die so erzeugte Vielstimmigkeit in Bezug auf das Thema: "Diakonie in der Stadt" ergibt beim Lesen einen historischen Überblick und gleichzeitig eine interessante Zukunftsperspektive: "Diakonie befindet sich auf einem Markt, nicht nur mit ihren Einrichtungen, Angeboten und Dienstleistungen, sondern auch mit ihren theologischen Grundlagen und Leitvorstellungen." (12) Das Buch steht damit in der diakoniewissenschaftlichen Diskussionslandschaft auf der Schwelle zwischen Theorie und Praxis. Neu ist daran, dass die akademische Perspektive den zentralen Raum einnimmt. Die Texte zeigen also: Diakonie ist als Thema in den theologischen Fakultäten angekommen! Sie weisen kenntnisreich und konstruktiv auf die Leistungen wie auch auf die Gestaltungspotentiale des diakonischen Christentums speziell in der urbanen Gesellschaft mit ihren großen Herausforderungen hin: Segregation, Krise der Sozialsysteme, soziale Verelendung zunehmender Bevölkerungsgruppen. Hier sind Theologie und Diakonie gleichermaßen gefordert. Die Frage nach den Aufgaben, die sich heute und in Zukunft stellen, erhält somit konsequenterweise nicht nur im Schlusskapitel des Buches Raum. Sie klingt bereits in jedem der insgesamt sieben Kapitel an, lässt das Buch auch zu einem diakoniepolitischen Dokument werden. Wird es der Diakonie in Zukunft gelingen, so ist zu fragen, "die sozialen Aufgaben unter den veränderten Bedingungen des europäischen Wettbewerbs besser zu erfüllen als vordem" (121)?

Das erste Kapitel präsentiert "Biblische Perspektiven zu Recht, Gerechtigkeit und sozialem Engagement". Werner H. Schmidt, Frank Crüsemann und Michael Wolter führen nicht nur exegetisch grundlegend in das Motto der Tagung, das Jeremia-Zitat "Suchet der Stadt Bestes", ein. Ihre Beiträge enthalten auch interessante Detailbeobachtungen, beispielsweise, dass das eigene Wohl nur auf einem Umweg über das Wohl des anderen zu erreichen ist (Schmidt), dass nicht die ethischen Weisungen des Neuen Testamentes ausschlaggebend für diakonisches Handeln sein können, sondern vielmehr das christliche Wirklichkeitsverständnis, das in seinem Handeln nicht nur die eigene, "sondern auch die Identität des Gegenübers als eine durch Jesus Christus bestimmte zur Anschauung bringt" (Wolter) in Kombination mit der Frage, "ob die Diakonie nicht noch stärker als bisher" einen Bezug auf die "den sozial Schwachen zustehenden Rechte", insbesondere die "wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte" anstreben müsste (Crüsemann).

Das folgende Kapitel enthält "Historische und aktuelle Perspektiven". Jochen-Christoph Kaiser gibt einen differenzierten Einblick in die Entwicklung der Stadtmission im 19. und 20.Jh. und resümiert nach einem Hinweis auf die noch offenen Forschungsfragen insbesondere im Umfeld der Industrialisierung und des intereuropäischen Austauschs, der Entwicklung der Volkskirche und dem Trend zur Ausdifferenzierung religiöser und kultureller Wertehorizonte, dass Stadtmissionare zu jener kleinen Gruppe von Menschen im kirchlichen Umfeld gehörten, "die ganz bewußt ihre Arbeit an diesem unwirtlichen Ort aufnahmen und ihre ganze Kraft und Energie aufwandten, um dem kirchenfernen Individuum die befreiende Macht des Wortes Gottes zu verkündigen." Renate Zitt führt diese Einsichten am Beispiel der Bahnhofsmission weiter und berichtet von einem Theorie-Praxis-Projekt zwischen der Theologischen Fakultät und der Bahnhofsmission in München: die Kirche müsse vor allem "die Wunden der Stadt kennen" und wissen, "wie diese Zerstörungen schon geheilt werden, damit sie den Heilungsprozeß unterstützen kann".

Das dritte Kapitel bietet "Systematisch-theologische Perspektiven zu Pluralität und Interkulturalität". Darin skizziert Ernstpeter Maurer "Bedingungen für eine interkulturelle Hermeneutik". Christlicher Glaube vermittele Kultur, verstanden als "objektive Gestalt des menschlichen Geistes", und zwischen Kulturen, sei also "in der Wurzel interkulturell". Christoph Schwöbel fragt in Weiterführung dieser Gedanken nach der Identität Gottes als der Identität des christlichen Glaubens und beschreibt Glaubenskommunikation als die Fähigkeit, das eigene Glaubenszeugnis in die Sprache des Anderen, der anderen Kultur und umgekehrt übersetzen zu können mit dem Ziel: Toleranz aus Glauben zu praktizieren.

Im vierten Kapitel geht es um "Sozialrechtliche und unternehmerische Perspektiven auf die europäische und weltweite Gesellschaft". Görg Haverkate stellt die bislang noch offene Frage nach "fairen Rahmenbedingungen für den Wettbewerb" und plädiert dafür, dass die Kirchen "privilegiertes Zusammenwirken mit der hoheitlichen Gewalt" eher meiden, dagegen jedoch mehr Vertrauen in die Attraktivität ihrer diakonischen Angebote für die "Kunden" ausstrahlen sollten. Herbert Heitmann erläutert die Idee der Corporate Social Responsibility: des globalen Wirtschaftens mit sozialer Verantwortung.

Das fünfte Kapitel stellt "Sozialethische und religionspädagogische Perspektiven zur Diakonie in der Zivilgesellschaft" dar. Christopher Frey und Gottfried Adam unterstreichen beide die Bedeutung der Erfahrung von "Anerkennung" in den diakonischen Berufen und in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, die nicht abstrakt, sondern von denen, die einen Dienst empfangen, oder stellvertretend von ihrem sozialen Umfeld vermittelt werden sollte, damit sich die "Übernahme moralischer und politischer Verantwortung" in der Wissensgesellschaft entwickeln kann.

Axel Führ, Schwester Erika Tietze und Hans Kratzert äußern sich sodann zum sechsten Themenkomplex: "Diakonie auf dem Markt" mit "Überlegungen und Erfahrungen" in europäischer Perspektive, in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung und angesichts der Herausforderungen auf dem "Gesundheitsmarkt" mit der Aufforderung, jenes "mehr" an Liebe selbstbewusst, aber ohne falsche Status-quo-Politik zu bewahren, das der Diakonie ihr unverwechselbares Gesicht gibt.

Das Schlusskapitel "Diakonie und Kirche in der Stadt: Konkretionen und Perspektiven" eröffnet Stephan Reimers mit dem Hinweis auf urbane Segregationstendenzen. Er sieht die Aufgabe der Kirche darin, Sinn und Zusammenhalt in gesellschaftlichen Prozessen ebenso zu fördern wie religiöse Bildung zu ermöglichen, damit die "Sprache der Bibel, die Klageworte der Psalmen und das Halt gebende Wort theologischer Deutung" wirksam bleiben. Wolfgang Grünberg spannt sodann einen weiten Horizont mit der Frage "Was ist Stadtkirchenarbeit heute?" und definiert kirchliches Handeln als das immer vorläufig und überholbar bleibende Bemühen um zukunftseröffnende Gegenwartserfahrung. Dabei könne es nicht um Kompensation dessen, "was das Gemeinwesen als Ganzes verbockt", gehen. Vielmehr sei eine exemplarische "Antizipation von Projekten und Perspektiven, die wir in mutiger Interpretation der kritischen und verheißungsvollen Gegenwart des Geistes entdecken und gestalten", eine angemessene Antwort des Glaubens aus der erlebten oder erlittenen Stadterfahrung heraus. Christian Möller unterstreicht sodann die Bedeutung "von Menschen, die präsent sind", und plädiert dafür, das Besondere und Überraschende in manchen Alltagssituationen zu erkennen. Ulrich Fischer fasst die Beiträge abschließend zusammen, indem er die Rolle des öffentlichen Gebetes betont: "Wo wir als Kirche das Wohlergehen unserer Städte betend zu unserer eigenen Sache machen, da wird das Gebet zu einer politischen Angelegenheit, zu einer Einmischung in die Politik, da entwickeln wir aus der Fürbitte selbst Kraft zum politischen Tun, zum Widerstand dort, wo Menschen diskriminiert werden, und zum Eintreten für die Würde anderer."

Die Predigt von Gerd Theißen mit der Aufforderung "Nichts hilft Menschen so sehr zum Helfen wie gelungene Hilfe" und dem Hinweis, dass Liebe ihren Gegenstand nicht vorfindet, sondern schafft, rundet den sehr lesenswerten Band ab, der sich auch gut zum Nachschlagen einzelner Themenaspekte eignet. Wie die Diakonie in der Stadt diese vielen unterschiedlichen Anregungen in ihrem konkreten Handeln zu notwendiger Hilfe und zur Hoffnung eines besseren Lebens werden lässt, wird in Zukunft nicht mehr allein ihre Sache bleiben, sondern es interessiert auch die wissenschaftliche Theologie. Denn Liebe und Liebesdienst brauchen ihrerseits die orientierende Kraft des argumentativ erschlossenen Glaubens.