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Ausgabe:

Januar/2005

Spalte:

86–90

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Moxter, Michael

Titel/Untertitel:

Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XI, 434 S. gr.8 = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 38. Lw. Euro 89,00. ISBN 3-16-147194-6.

Rezensent:

Georg Pfleiderer

1. Ende der 90er Jahre ist in Deutschland eine Reihe von theologischen Habilitationsschriften entstanden, die auf jeweils unterschiedliche Weise exemplarische Revisionen der neueren protestantischen Theologiegeschichte im Lichte der gemeinsamen Fragestellung nach dem Verhältnis von gelebter Religion und theologischer Lehre unternahmen. Im Licht eines solchen Differenzbewusstseins soll Religion als reflexive Synthese individuell-freier Lebensführung, Theologie als deren Theorie und jene Theorietradition als ein privilegierter Ort der Entdeckung und Bearbeitung dieses Problemzusammenhangs durchsichtig werden. Von grundsätzlich mit ihr blickverwandten Arbeiten Jörg Dierkens, Folkart Wittekinds, Christian Danz' u. a. unterscheidet sich die hier zu besprechende Frankfurter Habilitationsschrift des seit 1999 in Hamburg lehrenden Systematischen Theologen Michael Moxter darin, dass sie ihren referenztheoretischen Rahmen dezidiert diesseits des theoriegeschichtlichen Bruches aufzubauen versucht, der das 20. vom 19.Jh. (jedenfalls seinem Mainstream) trennt bzw. den ungefähr der Erste Weltkrieg markiert. Im kritischen Anschluss an die Phänomenologie E. Husserls, die Semiotik C. S. Peirces, die Symboltheorie E. Cassirers und die Lebenswelttheorien von A. Schütz und (gegen) J. Habermas entwirft der Vf. eine phänomenologisch-semiotische Theorie der "Lebenswelt als [kultureller] Zeichenwelt" (274), deren fundamentaltheologische Bedeutung er im Medium einer kritischen Auseinandersetzung mit der Anthropologie W. Pannenbergs nachzuweisen sucht. Vorbereitet wird dieser beinahe 150 Seiten umfassende systematische Hauptteil der Arbeit durch drei jeweils zwischen 70 und 90 Seiten starke Fallstudien zu den Kulturtheologien bzw. -philosophien von P. Tillich, E. Cassirer und K. Barth.

Einen vorbereitenden, ja eigentlich vorgreifenden Charakter haben die drei Fallstudien für den systematischen Teil insofern, als sie bereits vor dem Hintergrund der Auffassung erfolgen, dass jener Theoriebruch als eine Abwendung von Bewusstseins-, (expliziten) Subjektivitäts-, Individualitäts- oder (so fokussierten) Geschichtstheorien und als eine Hinwendung zu phänomenologisch-semiotischen Kulturtheorien zu deuten - und mitzuvollziehen - sei. Theoriegeschichtlich plausibel zu machen versucht wird diese Überzeugung dadurch, dass jene drei Theorien auf intensive Auseinandersetzungen mit dem Neukantianismus und zwar in der Marburger Form H. Cohens zurückgeführt respektive bezogen werden, also auf eine Fundamen- talphilosophie, die als rein wissenschafts- bzw. vernunfttheoretische und überdies rein normative Kulturtheorie prozediert oder prozedieren will. Dadurch werden freilich andere Bezugslinien ins 19. Jh. abgeblendet, für die innerhalb des Neukantianismus, des theologischen zumal, wohl vor allem der Name Ernst Troeltsch steht.

Nun rechtfertigt sich diese Konzentration auf den Cohenschen Szientismus, Logozentrismus und Normativismus als Kontrastfolie zu Tillich, Cassirer und Barth, denen sich der Vf. in dieser Hinsicht anschließt, freilich nicht zuletzt daraus, dass diese Autoren Cohens "neukantianische Generalthesis Nichts ist gegeben, das nicht gemacht wäre" (108, vgl. 114) nicht nur nicht bestreiten, sondern sich als Fundament ihrer kulturtheoretischen Theoriebildung gerade zu Eigen machen. Alle drei lassen sich von daher sozusagen als antifoundationalistische Konstitutionstheoretiker von Kultur verstehen: Die Vernunft, der Geist, erzeugt nicht die kulturellen Objektivationen als ein von ihrer bzw. seiner reinen, einheitlichen, apriorischen Struktur unterschiedenes Anschauliches, mannigfaltig Zweites, sondern sie bzw. er prozediert nur als das - eben prozedurale - Erzeugen von Kultur, nämlich als der - sachlogisch betrachtet - Prozess der Erzeugung kultureller Zeichen, in welchem sich - subjektlogisch betrachtete - die Erzeugung von Sinn, von Lebenssinn, ereignet. Kennzeichnend für die Prozeduralität dieses Erzeugungsprozesses ist seine spezifische Reflexivität: Zeichen verweisen auf Zeichen; Sinn verweist auf Sinn.

Die symbolischen Formen sind als die Schemata solcher Sinnerfahrung zu betrachten, und sie sind darum immer schon dreistellig strukturiert, weil in ihnen "etwas für ein anderes aufgrund eines dritten" (121, vgl. 392 u. ö.) ist. Damit werden alle Identitätsbestimmungen auf die "Kette der Signifikationen" (121) im kulturellen Zeichenprozess verwiesen. Bestimmtheit gewinnen Zeichen in diesem Fluss dadurch, dass sie bezogen werden auf einen Sinnzusammenhang, der unausdrücklich und unthematisiert hinter bzw. intentional vor ihnen liegt: "Lebenswelt". Das bedeutet aber auch, dass Lebenswelt nicht als eine feststehende, ontologisch-objektive Größe verstanden werden darf; sie ist vielmehr an die Perspektivität und damit auch Konstruktivität jeweiliger kultureller Signifikationsakte bzw. -reihen gebunden; Lebenswelt ist immer schon ein Pluraletantum. Der aus diesen Überlegungen abgeleitete Einwand gegen Cohen, den der Vf. seinen drei Referenztheoretikern metatheoretisch unterlegt, liest sich wie ein südwestdeutsches Argument, allerdings in jener prozedenztheoretischen Zuspitzung: "Das Subjekt gehört ... immer schon einer Welt an, die voll von Bedeutungen ist, in der ein Gesamthorizont der Erfahrung mitgegeben ist" (115).

2. Die sehr komplexe Lebenswelt- und Kulturtheorie, die im systematischen Teil des Buches aus semiotischen, phänomenologischen, erkenntnis-, handlungs- und symboltheoretischen Fäden zusammengewoben wird und die solchermaßen als Grammatologie bzw. Fundamentalphänomenologie des Glaubens fungieren soll, kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden.

Dass ein so angelegtes Theoriegeflecht auf Ernst Cassirer zwangloser als etwa auf Tillich und insbesondere auf Barth applizierbar ist, dürfte gleichwohl einleuchten. Schon bei Cassirer lässt sich auch gut erkennen, was in diesem Theorierahmen die Funktion der Religion sein kann: "Als Differenz von Bestimmtheit und Unausschöpfbarkeit vollzieht sich im religiösen Bewusstsein das Sich-Inne-Werden des semiotischen Prozesses" (150). Systematisch defizitär ist aus Sicht des Vf.s die Cassirersche Kulturtheorie wegen ihrer nur implizit phänomenologischen Verfasstheit, vor allem aber wegen ihrer Tendenz zu einer monistisch-normativen Konzeption von Kultur, die auf einer verhältnismäßig affirmativen Gleichsetzung von Kultur und Moderne beruhe (vgl. 139) und dazu neige, die Religion doch wieder als bloße "Differenzstufe" (148) in der Evolution kultureller Sinnwahrnehmung zu betrachten. "Kulturelle Sinngebung ..." setzt bei Cassirer "... die [spezifisch moderne Wahrnehmung der] Unruhe des Lebens fort. ... Der Gedanke, dass es ... ausruhen könnte, - dieser Gedanke ist ... unvollziehbar." (159 f.)

Genau hier liegen aus Sicht des Vf.s umgekehrt die Stärken der beiden theologischen Kulturkonzepte. Zwar ruht das Leben auch bei ihnen nicht aus; aber Sinngebung, religiöse zumal, vollziehe sich doch deutlicher noch als bei Cassirer - bei dem freilich entsprechende Ansätze auch nicht übersehen werden dürften (vgl. 154), im kritischen Gegenzug gegen vollzugstranszendente Sinnzuschreibungen, welche die Moderne durch Verweise auf "die Vernunft", "das Subjekt" oder "die Religion" oder eben sich selbst als selbstreflexiven Sinnspeichers aller Sinnbezüge zu markieren pflege. Freilich gehe bei den Theologen, gerade auch bei Paul Tillich, diese prinzipielle Einsicht in die religiöse Dialektik "von Formzerstörung und Formaufbau" (154) bzw. des "Verhältnis[ses] zwischen prophetischer Kritik und Gestalt der Gnade" (ebd.) - trotz aller diesbezüglichen Kautelen - mit einer Tendenz zur substanzhaften Ontologisierung und normativen Vereindeutigung des Bezugsgrundes kultureller Symbolisierung einher, welche die "immanente Transzendenz" (38) des dreistellig verstandenen religiösen Zeichens in die zweistellige einer Real-Transzendenz der "ultimate reality" (ebd.) zurücknehme. Bessere Noten bekommen Tillichs zentrale Metapher des Durchbruchs (vgl. 66 ff.) und vor allem sein Stilbegriff (vgl. 61).

Die Hauptkritik, die der Vf. an Karl Barths Kulturbegriff übt, gilt seiner einseitig handlungstheoretischen und normativen, weil klar zweistelligen Verfasstheit. Als einziger phänomenologischer Gehalt dieses Kulturverständnisses scheine nicht umsonst die Metapher Arbeit auf; Kultur werde damit zum Arbeitsprodukt, zum Werk; Lebensweltlichkeit als umgrenzende Voraussetzung des Schaffens und ihr Horizont seien aus ihr genau wie alle Phänomenalität beinahe völlig getilgt. Darin nehme Barths Kulturbegriff aufs Genaueste die Cohenschen Vorgaben auf, was auch durch präzise theoriegeschichtliche Rekonstruktion plausibel gemacht werden kann. Verfolge man die Linien dieser Entscheidungen zurück in die Barthschen Theoriegrundlagen, dann ergebe sich zumindest ein sehr ambivalentes Bild. Einerseits führe die Prävalenz des mit absoluter Normativität ausgestatteten zweistelligen Handlungsbegriffs zu Gleichschaltungstendenzen gegenüber aller Andersheit. Andererseits lasse sich aber auch ein anderer Strang im Barthschen Denken identifizieren, der ausgehend von der Einsicht in die Bedeutung des christologischen Faktizitätsmoments Andersheit und Phänomenalität prinzipiell nicht verdränge, sondern gerade ermögliche.

Vor allem die Fundamentalbedeutung, welche die Trinitätslehre innerhalb der Kirchlichen Dogmatik einnehme, sei ein klares Indiz dafür, dass kategoriale Dreistelligkeit dem Barthschen Denken grundsätzlich nicht nur nicht fremd ist, sondern so etwas wie dessen intentionale Grundform darstellt. Auf diese baut der Vf. in seiner systematischen Schlussskizze einer phänomenologischen Theologie der Kultur als Lebenswelt auf. In ihr wird als eigentliches Thema der Theologie die Wahrung selbständigen Andersseins unter der Bedingung des "Phänomens einer unhintergehbaren Unabgeschlossenheit" (406) verstanden. Trinitarische Theologie wird so zur Metatheorie einer dreistelligen Semiotik kultureller Zeichen: "Nichts zwingt, die Beschreibung der wahrnehmbaren Phänomene in der Grammatik des christlichen Glaubens zu vollziehen. Nichts kann aber auch die theologische Reflexion hindern, am Ort einer trinitarisch verstandenen Pneumatologie das Thema als ihr eigenes wiederzuerkennen, das sich in der Wahrnehmung der Kultur nicht suspendieren lässt: den Überschuss an Unbestimmtheit, dessen das Leben bedarf", gerade wenn es sich als ein (so oder so) bestimmtes gegeben ist (409).

3. Mit seiner Habilitationsschrift hat der Vf. einen ebenso anspruchs- wie eindrucksvollen Entwurf einer theologischen Kulturtheorie vorgelegt. In ihr werden starke theologische und philosophische Theoriestränge des 20. Jh.s analytisch aufgearbeitet und mit großer intellektueller Virtuosität neu verknüpft. Leitend ist dabei eine antirationalistische, antitotalitaristische, antidualistische Vernunft, die ihr theologisches Charakteristikum darin sieht und hat, dass sie sich als kritische Anwältin der "Phänomene", der Verlaufs- und Bildungsformen religiöser Zeichenprozesse versteht. Intendiert und vorgeführt wird so ein zeitgemäßes Denken, das zugleich postmodern, nämlich anti-foundationalistisch, phänomen- und differenzorientiert ist, aber umgekehrt auch am klassisch-modernen Interesse an der Aufdeckung der reflexiven Regelhaftigkeit geistig-kultureller Prozesse als Voraussetzung ihres Emanzipationspotenzials dezidiert festhält.

Einige als Diskussionsgrundlage gemeinte kritische Anfragen seien gleichwohl angefügt:

a) Das Verhältnis von Kultur und Lebenswelt wird als ein dialektisches beschrieben. Dabei wird jedoch der einen, den Buchtitel - "Kultur als Lebenswelt" - bestimmenden Richtung der Dialektik der weitaus größere Raum zugestanden.

Die Rückbeziehung von Lebenswelt auf Kultur beschränkt sich demgegenüber nahezu auf die Feststellung des konstruktiven Charakters von Lebenswelt, auf die Betonung der Zeichendrift (das ist die Cassirersche Fortführung des Cohenschen Grundgedankens). Damit aber geraten kulturelle Differenzen aus dem Blick. Insbesondere droht auf diese Weise eine m. E. entscheidende Differenz im Ungefähren des Lebensweltlichen zu verschwimmen, nämlich die Frage nach der Bestimmtheit der Kultur, in welcher diese Dialektik ihrerseits reflexive Gestalt anzunehmen vermag, wofür sinnvollerweise der Begriff Moderne steht. Damit hängt Folgendes zusammen:

b) Der Vf. arbeitet klar heraus, dass und inwiefern seine drei Referenztheorien (Tillich, Cassirer, Barth) ohne die Nachzeichnung ihrer kritischen modernitätstheoretischen Bezüge gar nicht verstanden werden können. Dass es diesen Denkern nicht um einen Ausstieg aus der Moderne, sondern um Versionen ihrer kritisch-dialektischen Fortsetzung geht, erhellt sich schon aus der Fundamentfunktion, die der genuin moderne Kardinalsatz Cohens von der Gemachtheit des Gegebenen für die Rekonstruktion der drei Theorien, aber auch für den eigenen Ansatz des Vf.s hat. Wenn der Vf. von diesen modernitätstheoretischen Bezügen systematisch abstrahiert, dann ist damit die Gefahr verbunden, dass die kulturellen Bedingungen der Moderne selbst unter der Hand zu denen von Lebenswelt bzw. Kultur überhaupt werden. Es ist, wenn ich recht sehe, in der Tat die moderne Kultur, die hier zur kulturellen Lebenswelt erklärt wird, und es ist eine durchaus moderne Religion, an deren Immanenz, Individualität und bestimmungsoffener Unbestimmtheit ein Georg Simmel seine Freude gehabt hätte, die hier als die Religion schlechthin erscheint. Damit aber sind faktisch mehr kulturelle Differenzen im Spiel als tatsächlich aufgedeckt und reflektiert werden.

c) Wo um der Wahrung eines phänomenologischen Beschreibungsgestus willen auf die Konstruktion eines normativ-reflexiven Kulturbegriffs alias Moderne verzichtet wird, droht auch unklar zu werden, wie sich zwischen (bloßen) Verstrickungen in die Netze der Lebenswelt und freien, kreativen und emanzipativen Umgangsweisen mit ihnen unterscheiden lassen könnte.

d) Der antimodernistisch-antinormative Impetus der phänomenologischen Methode, die hier reflektiert wird, dürfte ferner dafür verantwortlich sein, dass in Auseinandersetzung insbesondere mit der theologischen Anthropologie W. Pannenbergs (364ff.) dem theologischen Gottesgedanken offenbar jeglicher Totalitätsanspruch auszutreiben versucht wird. Droht damit aber nicht das Spezifikum religiöser Symbolisierung selbst undeutlich zu werden?

Denn was könnte dieses anderes sein, als die Abschließung unabschließbarer Zeichendriften zu Totalität (dies freilich in der Tat gerade so, dass, indem solche Totalität in den Gottesgedanken verlegt und damit der Kultur entzogen wird, offene kulturelle Symbolisierungssequenzen ermöglicht und gerade nicht verstellt werden)?

e) Strukturiertheit soll der theologische Gottesgedanke als Interpretament lebensweltlicher Kultur, wie angedeutet, durch die Trinitätslehre gewinnen. Denn in ihr erblickt der Vf. die genuin theologische Deutung der strukturellen Dreistelligkeit kultureller Zeichenprozesse. Mit dem Bezug auf die Trinitätslehre bewegt sich die Religionstheorie jedoch auf der Ebene relativ hochstufiger reflexiver Deutungen von gelebter Religion, die in diese selbst keineswegs immer schon eingelagert sind.

Der Bedeutungsaufschwung, den die Trinitätslehre im 20. Jh. erlebt hat, mag tatsächlich auf fundamentaltheoretische Umkodierungen zurückzuführen sein, die sonst z. B. als "linguistic turn" oder als Ersetzung von Bewusstseinskategorialität durch Handlungs- bzw. Geschichtskategorialität beschrieben werden. Wie sich jedoch solche wissenschaftlichen Evolutionsprozesse zu gesamtkulturellen und namentlich zu religionskulturellen Gegebenheiten und Verschiebungen in der reflexiv gewordenen Moderne verhalten, ist ein noch reichlich unerforschtes Feld, das vorläufig als solches nur markiert werden kann.